Ab dem Jahre 1937 war die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend, dem „Garanten“ einer nationalsozialistischen Zukunft, verpflichtend. Daher stellt sich die Frage, ob damit eine ganze Generation nationalsozialistisch sozialisiert wurde. Durch die Benennung nach dem „Führer“ Adolf Hitler gleichermaßen besonders hervorgehoben wie vereinnahmt, entwickelte der Jugendverband sich nach 1933 zur zentralen außerschulischen Instanz der Erziehung und Formung von Kindern und Jugendlichen im Reich der Nazis und – mit knapp neun Millionen Mitgliedern im Jahre 1939 – zur größten Massenorganisation nach der DAF; – der Deutschen Arbeitsfront.
Das NS-Jugendpathos schrieb der Hitlerjugend zudem eine besondere ideologische Rolle als „Garant“ einer nationalsozialistischen Zukunft zu. Nach der Machtergreifung stieg die Parteijugend zum staatlich anerkannten Einheitsverband auf und ersetzte das pluralistische Feld von Vereinen und Verbänden der Weimarer Republik durch ein unmissverständliches Monopol. Konkurrierende politische, religiöse und berufsständische Jugendorganisationen wurden durch strikte Verbote oder Überführungen in die Einheiten der Hitlerjugend ausgeschaltet und kriminalisiert; nur die kirchlichen Jugendverbände konnten zunächst n o c h eine Sonderstellung behaupten. Dank staatlicher Werbekampagnen und Anreize – etwa den für Mitglieder schulfreien „Staatsjugendtag“ am Samstag – wuch die Hitlerjugend seit dem Frühjahr 1933 massiv. Die Gesamtzahl der Mitglieder stieg in der Gleichschaltungsphase der Diktatur von etwa Hunderttausend auf über zwei Millionen, bis zum Erlass des „Gesetzes über die Hitler-Jugend“ Ende 1936 auf knapp 5,5 Millionen Mitglieder beiderlei Geschlechter.
Alle „arischen“ und „erbgesunden“ deutschen Kindern und Jugendlichen, ob Jungen oder Mädchen zwischen zehn und achtzehn Jahren sollten der HJ angehören. Damit beanspruchte sie als einziger Parteiverband eine Pflichtmitgliedschaft für ihre Bezugsgruppe. Wie in der NS
DAP galten auch hier die deutsche Staatsbürgerschaft und ein „Ariernachweis“ als unabdingbare Voraussetzung, um beizutreten oder in eine der zahlreichen Führungspositionen aufzusteigen. Offiziell war die Mitgliedschaft bis zur Einführung der „Jugenddienstpflicht“ im März 1939 freiwillig, doch entstand bereits lange Zeit zuvor der Eindruck einer Zwangsorganisation. Dennoch gab es eine Reihe von Jugendlichen, die sich aus unterschiedlichen Maximen entzogen.
Auch der Rückzug in private Lebensformen oder demonstrativer Lebensgenuss gehörten zu den Formen jugendlicher Verweigerung. Die Hitlerjugend trat als gesetzlich verankerte, öffentlich-rechtliche Erziehungsgewalt gleichberechtigt neben die traditionellen Erziehungsträger Familie und Schule, was zu zahlreichen Konflikten führte. Ihre Aufgabe war die politische und weltanschauliche „Erziehung“ zum Nationalsozialismus und zum Dienst an Volk und „Volksgemeinschaft“. Der Gesamtverband war nach militärisch-bürokratischem Muster aufgebaut. Unter zentraler Leitung der Reichsjugendführung gliederte sie sich Geschlecht und Alter in separate Formationen. Die zehn- bis vierzehnjährigen Jungen, die „Pimpfe“, bildeten das „Deutsche Jungvolk“ in der Hitlerjugend (DJ), die gleichaltrigen Mädchen die „Jungmädel, Bund Deutscher Mädel in der Hitlerjugend“ (JM). Analog gliederte sich die Altersgruppe von 14 bis 18 Jahren in die „Hitlerjugend“ für Jungen (HJ) und den „Mädelbund“ (MB).
Jede der Untergliederungen unterlag einem streng hierarchischen Aufbau von lokalen HJ-Einheiten und Kameradschaften bis zu den regionalen HJ-Gebieten. Baldur von Schirach, in Personalunion „Reichsjugendführer der NSDAP“ und „Jugendführer des Deutschen Reiches“, leitete den ausdifferenzierten, als Parteigliederung wie als staatliche Stelle doppelt eingebundenen Verband, der Kompetenzen auf allen Feldern der Jugendpolitik beanspruchte. Mit dem vorgegebenen ahct Jahre dauernden „Dienst“ dauerte die HJ-Erziehung ebenso lange wie die Schulfplicht. Unwesentlich ältere Führer leiteten die wöchentlichen „Treffen und Heimatabende“ in den Einheiten von DJ und HJ nach zentral vorgegebenen Themen und Inhalten.
Im Mittelpunkt jedoch stand die so genannte Körperertüchtigung durch entsprechende Spiele und Übungen, verbunden mit einer rassisch ausgerichteten Gesundheitsführung und ergänzt durch „weltanschauliche Schulung“ zu den Themen der Geschichte der national-
sozialistischen „Bewegung des Führers“, und des rassischen Weltbildes. Wanderungen und mehrtägige „Lager“ kamen hinzu. Für die heranwachsenden Jungen wurden spezialisierte Sondereinheiten wie die Motor-, Flieger-, Marine-, Reiter- und Nachrichten-HJ gegründet, die technisch Interessiere ansprachen und einer vorgezogenen militärtechnischen und wehrsportlichen Grundausbildung dienten. In deutlicher militärischer Tradition standen gleichfalls die muischen „Spielscharen“ sowie die Sanitäterausbildung als „HJ-Feldschere“. Die HJ wirkte so als Vorbereitung für den Militärdienst, um junge Männer frühzeitig an militärische Ordnungsgrundsätze zu gewöhnen und eine breite „Wehrertüchtigung“ zu gewährleisten.
Äußerste Disziplin, „Zucht und Ordnung“ galten als Ausdruck nationalsozialistischer Gesinnung und als Schlüsselqualifikation der Jugendlichen in der politisierten Gesellschaftsordnung. Zum Alltag in der Hitlerjugend gehörte auch die Kontrolle und Überwachung auf der Grundlage eines speziellen Dienststrafrechts mit eigenen Disziplinarorganen. Auch in ihrer Freizeit wurden die Mitglieder durch den Streifendienst, eine Sondereinheit älterer Hitlerjungen, überwacht, besondere Verfehlungen vor HJ-Gerichten verhandelt. Diese Kooperation mit Polizei, Justiz und anderen NS-Organisationen wie der SS verdeutlicht, wie eng der Jugendverband in den Nazi-Staat, seine Politik und Dynamik eingebunden war. Dies galt auch für die Politik der Ausgrenzung: So beteiligten sich ganze HJ-Gruppen, zum Beispiel in Berlin und München, am Novemberpogrom 1938.
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Hitlerjugend als Kriegshilfsorganisation überall dort eingesetzt, wo es an erwachsenem Personal fehlte. Das System aus Lockung, Disziplinierung und Zwang konnte ganz unterschiedlich erfahren werden, als Einengung und Repression, aber auch als gesellschaftliche Integration und politische Sinnzuweisung. So lockte die HJ mit zahlreichen symbolischen und praktischen Angeboten. Wer sich dort engagierte, konnte sich Auszeichnungen verdienen, in Führungsstellungen Aufgaben und Macht, aber auch Arbeitsplätze in einem ausgebauten Apparat erhalten. In der Logik des Nazi-Systems qualifizierte man sich so für Positionen in Staat und Partei, daher bildete die Hitlerjugend den Ansatzpunkt für eine NS-spezifische Kaderpolitik.
Als Nachwuchsorganisation für das gesamte Organisationsgefüge – die NSDAP, ihre Gliederungen und angeschlossenen Verbände, für Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht – war die HJ von hoher symbolischer und praktischer Bedeutung. Die Teilnahme am „Dienst“ im Jugendverband galt als Basis eines nationalsozialistischen Lebenslaufs. Durch Dienstinhalt
e und Werte vermittelt wurde hier die Sozialisation der Diktatur vollzogen und die Solidarität innerhalb der „arischen Gesellschaft“ erprobt. Als Erfahrungsraum einer spezifischen politischen Sozialisation, geprägt durch Logik und Symbole des Militärs, wirkte der nationalsozialistische Jugendverband programmgemäß als praktische „Volksgemeinschaft“, deren Mischung aus Angeboten und Gratifikationen, Selbststilisierung und Anpassungsdruck zur gewünschten Gemeinschaftsbildung und Bindung an die Diktatur beitragen sollte.
Als es darum ging, bei der nach Autonomie und Idealen dürstenden Jugend anzukommen, waren die oppositionellen Exilzeitungen weniger geschickt als die Nazi-Propaganda. Am meisten bemühte sich die „Gewerkschafts-Jugend“, das „Organ der Zentralgewerkschaftskommission des Deutschen Gewerkschaftsbundes in der CSR“, um einen jugendlichen Ton. In einem Artikel zum 140. Geburtstags Heinrich Heines, der den in Nazi-Deutschland verbotenen jüdischen Dichter-Journalisten als Vorbild an Freiheitsliebe und Patriotismus feierte, versprach Walther Victor dem jungen Leser, bei Heinne werde er „all die Kostbarkeiten finden, deren Glanz alle Verbote der Welt nicht verlöschen können. Da wird er, wenn er ein wirklich junger Mensch ist, zitternd vor heimlicher Freude die ungezählten, brennend aktuellen Stellen finden, die von der prophetischen Schau des Dichters zeugen, der alles vorausgewußt zu haben scheint. Für uns ist er nicht gestorben und nicht verboten. Lesen wir Heinrich Heine“
Diesem Appell kann man sich noch heute anschließen. Lesen wir besonders die „Lutetia“ und andere journalistische Schriften Heines, um das Jahrhundert des Nationalismus und seiner Exzesse zu überwinden lernen!
Von Rolf von Ameln
Redaktion Israel-Nachrichten.org
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