Im Frühjahr 1933 tauchten in Deutschland vielerorts tausende gelb und orange eingefärbte Klebezettel auf, mit der Aufschrift: „Wer Nivea-Artikel kauft, unterstützt damit eine Judenfirma!“ Zeitungsinserate forderten die Konsumenten auf: „Keine jüdische Hautcreme mehr zu benutzen. Lovana-Creme ist mindestens gleich gut, ist billiger und rein deutsch!“
Diese antijüdische Kampagne richtete sich gegen die Beiersdorf AG, das in Deutschland führende Unternehmen in der Herstellung kosmetisch-pharmazeutischer Produkte. Was auf den ersten Blick wie eine typische Boykottkampagne der NSDAP, der SA oder der neuen Reichsregierung Hitler aussah, entpuppte sich jedoch als eine konzertierte Aktion von Unternehmen, die mit der Beiersdorf AG auf dem Hautcreme-Markt konkurrierten. Sie war typisch für einen im gewerblichen Mittelstand verbreiteten Antisemitismus, der seit langem auf die wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden abzielte. Nach der Machtübergabe am 30. Januar 1933 sahen viele die günstige Gelegenheit gekommen, die eigenen Interessen mit der „nationalen Erhebung“ zu verbinden und gegen unerwünschte jüdische Konkurrenten vorzugehen.
Der „Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand“ und vor allem die SA beteiligten sich an diesem Antisemitismus von unten, indem sie bereits Anfang März 1933 in vielen deutschen Städten wilde Boykottaktionen organisierten: Am 11. März zogen in Köln SA-Posten mit Sprechchören und Plakaten vor jüdischen Warenhäusern auf, behinderten die Kunden und zwangen einzelne Inhaber, ihre Geschäfte zu schließen. Zudem nahmen gewalttätige Übergriffe auf Juden stetig zu. In dieser Situation suchte nun die neue NS-Reichsführung der aufgestauten Judenhass der nationalsozialistischen Anhänger ein Ventil zu geben und ihn politisch zu kanalisieren. Deshalb proklamierte die NSDAP-Reichsleitung am 28. März 1933 einen reichsweit organisierten Boykott jüdischer Geschäfte, Anwalts- und Arztpraxen, der am 1. April beginnen sollte.
Die Entscheidung für den Boykott ging auf einen persönlichen Entscholuss Hitlers zurück. „Er hat sich oben in der Einsamkeit der Berge die ganze Situation reiflich überlegt und ist nun zum Enstschluß gekommen“, notierte Goebbels am 26. März in seinem Tagebuch. Als dürftige Begründung für den Boykott diente die angebliche „Greuelhetze“ des Auslandes gegen das nationalsozialistische Deutschland. Dies war insofern abwegig, als lediglich die englische Presse vereinzelts sensationsheischende Artikel über die Judenverfolgung veröffentlicht hatte, die nicht den Tatsachen entsprachen. Der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV), die größte Interessenvertretung der deutschen Juden, rief die ausländischen Pressevertreter ausdrücklich zur Mäßigung auf, um keinen Vorwand für die Judenverfolgung in Deutschland zu liefern. Insgesamt hatten diese jedoch durchaus sachlich berichtet, die zahllosen gewalttätigen Übergriffe auf Juden aber auch nicht beschönigt.
Zum ersten, aber nicht zum letzten Mal versuchte der neue NS-Staat, die deutschen Juden in eine politische Geiselhaft zu nehmen, um im Ausland unerwünschte Reaktionen zu unterdrücken. Am Morgen des 1. April zogen SA-Männer vor tausenden jüdischen Geschäften auf, befestigten Plakate an den Schaufenstern oder bepinselten diese mit antijüdischen Parolen. Von einer angeblich „diszisplinierten“ Aktion, wie in der Presse zu lesen war, konnte keine Rede sein. In vielen Städten wurden jüdische Passanten zusammengeschlagen oder mit umgehängten Plakaten durch die Straßen geführt. Darin manifestierte sich auch der eigentliche Zweck des Boykotts: Juden öffentlich als Verfolgungsobjekt zu markieren und der antisemitischen Parteibasis der Nazis eine politische Spielwiese zu verschaffen.
Und wie verhielt sich die Masse der deutschen Bevölkerung gegenüber dem Boykott?
Nur eine Mindeheit zeigte offene Begeisterung, während die Bevölkerungsmehrheit das Schauspiel zwar neugierig, aber indifferent verfolgte. Eine Hamburgerin beschrieb die Stimmung als „gedrückt“ und „unfroh“. Auch deshalb brachen die Initiatoren den Boykott schon nach einem Tag ab, zumal die Aktion eine Boykottbewegung gegen deutsche Produkte im Ausland anstachelte und die ausländische Presse keineswegs einschüchterte. Nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung stand jedoch den bedrängten Juden öffentlich bei, indem sie an diesem Tag demonstrativ in jüdischen Geschäften kaufte oder ihrem jüdischen Arzt einen Solidaritätsbesuch abstatteten. Viele jüdische Geschäftsleute hatten ihren Laden am 1. April kurzerhand geschlossen, andere waren darum bemüht, öffentlich „Haltung“ zu zeigen, wie es der Centralverein gefordert hatte, und sich nicht einschüchtern zu lassen.
In Köln hatte sich ein Inhaber demonstrativ vor seinem Lokal postiert und dabei seine Orden aus dem Ersten Weltkrieg angelegt. Noch hatten sich die neuen Normen nicht restlos etabliert, denen zufolge Juden nicht zu deutschen „Volksgmeinschaft“ gehören sollten. Bereits im Frühjahr 1933 hatten jedoch viele Deutsche diesen Grundsatz insofern akzeptiert, als sie jüdische Bekannte und jüdische Geschäfte künftig mieden. Die Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes stellten ihr Verhalten als erste um. Sich mit Juden in der Öffentlichkeit zu zeigen, galt nicht länger als opportun und versprach Nachteile: In dieser schleichenden gesellschaftlichen Isolation der deutschen Juden entfalteten die Boykottaktionen ihre langfristige Wirkung.
Wenige Tage später demonstrierte die neue Reichsregierung, dass sie es nicht nur bei antijüdischen Aktionen „von unten“ bewenden lassen wollte. Eine Woche nach dem Boykott verabschiedete sie am 7. April 1933 das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“: eine irreführende Bezeichnung für eine politische „Säuberungswelle“, die den gesamten öffentlichen Dienst, aber auch zahlreiche weitere Berufsgruppen wie Ärzte und Juristen erfasste. Zahlreiche Gegner des Nationalsozialismus wurden entlassen, vor allem jedoch tausende jüdische Beamte, Lehrer, Hochschullehrer, Rechtsanwälte und Ärzte, die das Gesetz zu „Nichtariern“ erklärte und ihrer wirtschaftlichen Existenz beraubte. Im Wechselspiel antijüdischer Aktionen von unten und der staatlichen Ausgrenzung von oben hatte sich damit der Antisemitismus bereits im Frühjahr 1933 als Staatsdoktrin etabliert.
Von Rolf von Ameln
Redaktion Israel-Nachrichten.org
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