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Schicksalsjahr der Juden in Deutschland: Letzter Ausweg die Flucht nach dem Novemberpogrom 1938

In heutigen Tagen werden die Novemberpogrome als Wendepunkt im Leben der jüdischen Bevölkerung dargestellt, als Schritt in Richtung Ausrottung. Wie aber beurteilten die Beteiligten damals die Ereignisse?

Zahlreiche Emigranten schrieben noch während der Naziherrschaft ihre Erlebnisse nieder. Ihre Erinnerungen sind heute Teil der Bestände der Londoner Wiener Libary, der Gedenkstätte Yad Va´ Shem, des New Yorker Leo-Baeck-Instituts und der Harvard University. Zwei überformatige Bände in der Wiener Library in London enthalten 353 Berichte zu den antijüdischen Ausschreitungen und zum Schicksal einzelner Personen im November des Jahres 1938.

Die Herkunft des Materials ist unbekannt; man vermutet aber, dass es noch in Amsterdam gesammelt worden war. Dort hatte der deutsche Emigrant Alfred Wiener 1933 gemeinsam mit dem Amsterdamer Hochschullehrer David Cohen ein „Jewish Central Information Office“ eingerichtet. Wiener beteiligte sich bereits in der Weimarer Republik am Abwehrkampf gegen den Antisemitismus; er war federführend bei der Einrichtung des „Büro Wilhelmstraße“, das dazu diente, die Propaganda der Nazis zu dokumentieren und Aufklärungsschriften zu verfassen. Die beiden Bände bestehen aus eingeklebten maschinenschriftlichen Blättern unterschiedlicher Größe. Häufig fehlen die Namen der Berichterstatter oder sie wurden offenbar 1945 handschriftlich nachgetragen.

Berliner Morgenpost November 1938 jüdische Flüchtlinge. Foto: Archiv/RvAmeln

Berliner Morgenpost November 1938 jüdische Flüchtlinge. Foto: Archiv/RvAmeln

Ausführliche Beschreibungen und stakkatoartige Meldungen wechseln sich ab. In Einzelheiten werden Misshandlungen und Übergriffe geschildert. 36 Berichte erwähnen oder beschreiben Mordtaten, die während der Welle des Terrors begangen wurden, zahlreiche weitere melden Todesfälle aus Konzentrationslagern. Als Beispiel sei aus einem Bericht aus einer Provinzstadt („Bericht B.74“) zitiert, als dessen Autor aufgrund einer handschriftlichen Notiz der Nürnberger Rechtsanwalt Dr. Franz Bergmann gelten muss. Bergmann beschrieb zunächst seine eigenen Erlebnisse in der Nacht vom 9. auf den 10. November. Durch eine Warnung entkam er mit Frau und Sohn einem Überfallkommando, das ihre Wohnung vollkommen verwüstete. Später wurde er verhaftet, kam jedoch nach einigen Stunden frei.

Ein Unbekannter schrieb: „Im Krankenhaus in Fürth lagen, wie mir zuverlässig bekannt ist, 43 Schwerverletzte. Im wesentlichen handelte es  sich um Beinverletzungen von Leuten, die aus dem Fenster gesprungen oder hinausgeworfen waren. Ein Juwelier aus Nürnberg, Lorchl, der gerade operiert war, bat um Rücksicht auf sein Leiden ihn zu verschonen. Er wurde in roher Weise aus dem Bett gerissen und ist an den Folgen dieser Behandlung, weil die Operationswunde sich öffnete, gestorben. Der Inhaber des „Kaffee Bamberger“ ist infolge der Anstrengung an Herzschlag verstorben, ein Doktor Süssheiml hat sich vergiftet. Ein Herr Alfred Silbermannl, der nervenleidend war und für den seine Frau um Schonung bat, wurde aus dem Bett gerissen, durch die zersplitterte Scheibe der Vorplatztür roh hindurchgestoßen, sodass er am ganzen Körper von den Splittern Schnittwunden davontrug. Er ist dann barfuß und blutüberströmt auf die Polizeiwache gegangen und von den Beamten dort ins Krankenhaus transportiert worden. Auch Frauen und Kinder sind verletzt. Eine 70-jährige Tante von mir ist mit ihrem Mann und Sohn mit Stahlruten traktiert worden.“

Häufig sind auf einem Blatt auch Informationen aus verschiedenen Regionen Deutschlands zusammengetragen, so im Bericht B.19 vom 21. November 1938:

Wolfgang Neubuscher, 17 Jahre alt, im Konzentrationslager / Ein schwachsinniges Kind aus Berlin aus einem Heim fortgejagt. Der Bruder, Brotgeber der Familie, im Konzentrationslager / Aus absolut sicherer Quelle wird berichtet, dass das Waisenhaus Königsberg/Ostpreussen völlig zerstört ist. Keine Betten, keine Stühle sind heil geblieben. Die jüdischen Kinder können unmöglich hier bleiben. Alle Informationen, und seien sie noch so widersprüchlich, werden aufgenommen. Dies verdeutlichen die Notizen zum Schicksal des Düsseldorfer Rabbiners Dr. Max Eschenbacher. Das Blatt mit der Aufschrift B.37 enthält unter anderem die Meldung:

„Düsseldorf: Verschiedene, in den Einzelheiten widerspruchsvolle Meldungen berichten von der Ermordung des Rabbiners Dr. Eschenbacher, der angeblich Gegenstände aus der brennenden Synagoge retten wollte.“ Ein auf zwei Tage später datiertes Zeugnis erwähnte hingegen die Verhaftung Eschenbachers.

Berliner Morgenpost November 1938 Ausschaltung der Juden. Foto: Archiv/RvAmeln

Berliner Morgenpost November 1938 Ausschaltung der Juden. Foto: Archiv/RvAmeln

Ein undatierter Bericht B.16, als dessen Urheber ein „Herr Frank, Düsseldorf“ genannt wird, spricht ebenfalls davon, dass Eschenbacher verhaftet sei. „Rabbiner Eschenbacher soll im Gefängnis einen Nervenzusammenbruch gehabt haben, wovon aber seine Gattin nichts weiß. Es soll ihm jetzt gut gehen.“ Das undatierte Blatt B.29 enthält schließlich den Eintrag: „Gerüchte, Rabbiner Eschenbach aus Düsseldorf verschollen.“ Tatsächlich wurde Eschenbacher tagelang im Düsseldorfer Polizeigefängnis festgehalten. Diese Meldungen zeigen, wie Gerüchte blühten, welche die Menschen zusätzlich ängstigten. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass schon vor dem November 1938 große Beunruhigung geherrscht hatte, zuletzt ausgelöst durch die Abschiebung polnischer Juden Ende Oktober.

Befürchtungen kursierten, im Falle eines Krieges seien Masseninternierungen von Juden geplant. Diese Stimmung wird auch in einem Bericht aus Essen B.36 plastisch. Als dort am 9. November – undeutlich formulierte – Ankündigung ausgesprochen wurde, „dass gegen Abend um 1/2 11 Uhr etwas geschehen solle“, entschieden Rabbiner, Gemeindevorstand und Vertreter des Essener Centralvereins zunächst abzuwarten. „Es war unmöglich, die Nachricht weiter zu geben, formulierte der Berichterstatter Heinz Nassau, Bibliothekar im „Jüdischen Jugendheim“ in Essen, „denn derartige Warnungen waren schon häufiger gekommen, und bei dem übernervösen Zustand unserer Menschen wäre es höchstens zu einer vollkommenen Panik gekommen“. Mit den Massenverhaftungen, in welche die Gestapo auch Rabbiner und Gemeindevorstände einbezog, der Schließung der Reichsvertretung der Juden in Deutschland und des C.V in Berlin brach die Infrastruktur der jüdischen Gemeinden zusammen.

Gleichzeitig musste die jüdische Presse ihre Arbeit einstellen. Niemand konnte die Kontrolle über die sich verbreitenden Gerüchte ausüben. So blieb auch Alfred Wiener und seinen Mitarbeitern nichts anderes übrig, als sie lediglich minutiös zu verzeichnen. Im Sommer und Herbst 1939 erschien in Tageszeitungen und Emigrantenzeitschriften wie der „New York Times“, dem „Pariser Tageblatt“ oder der „Gelben Post“ in Shanghai der Aufruf an die Flüchtlinge aus Nazideutschland, sich an einem wissenschaftlichen Preisausschreiben mit dem Thema „Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933“ zu beteiligen. Als Preisgeld wurden 1.000 US-Dollar ausgelobt. Das Anliegen der verantwortlichen Wissenschaftler der Harvard University war es, die Lebensläufe einer besonderen Gruppe von Menschen nachzuvollziehen. Dabei ging es um die Frage, ob die revolutionäre Bewegung des Nationalsozialismus das Leben der Wettbewerbsteilnehmer bleibend verändert oder ob ihre Persönlichkeitsstruktur trotz der traumatischen Erfahrungen im Kern unbeeinflusst blieb.

Mehr als 250 Frauen und Männer beteiligtn sich an dem Wettbewerb, davon erfüllten nahezu alle die Vorgabe, etwa 80 Seiten lange Texte abzugeben. Von diesen sind heute noch 219 in der Houghton Library der Harvard University erhalten. Die Autorinnen und Autoren gingen sehr unterschiedliche Wege, ihre Erlebnisse zu Papier zu bringen. Und auch nicht jeder Augenzeuge der Novemberereignisse war 1939/40 willens, auf die Vorgänge einzugehen. Mit den Erinnerungen des bereits erwähnten Düsseldorfers Max Eschenbacher besitzen wir eine weitere Überlieferung der Vorgänge nach dem 9. November 1938 aus der Sicht eines Rabbiners. Eschenbacher erfuhr bereits um Mitternacht vom Sturm auf  das Düsseldorfer Gemeindehaus und von Misshandlungen. Fast gleichzeitig drangen SA-Leute mit den Worten „Rache für Paris! Nieder mit den Juden!“ in ihre Wohnung ein und zerschlugen die Einrichtung mit Holzhämmern. „Auf mich drangen die Kerle mit geballten Fäusten ein, einer packte mich und schrie mich an, ich solle herunterkommen. Ich war überzeugt, dass ich totgeschlagen werde, ging ins Schlafzimmer, legte Uhr, Portemonnaie und Schlüssel ab und nahm Abscied von Berta. Sie sagte nur „Chasak!“ (Sei stark! – hebräische Segensformel, zugleich zionistischer Gruß). Wie ich die Treppe heruntergekommen bin, weiß ich selber nicht: Man ist in solchen Augenblicken glücklicherweise so benommen, dass man kaum bemerkt, was um einen vorgeht.“ Unter schweren körperlichen Misshandlungen wurde er zum Polizeipräsidium gebracht und sollte dort bis zum 22. November festgehalten werden. Kurz danach erschien seine Frau, die nicht verhaftet worden war, und brachte ihm Wäsche, Kamm und Bürste. „Sie konnte mir noch sagen, dass unser Schlafzimmer unversehrt sei, und sagte mir nochmals Chasak!“, erinnerte sich Eschenbacher später.

Diese frühen autobiografischen Quellen bieten heute einen wichtigen Zugang zu den Ereignissen des 9. und 10. November 1938. Dabei dürfte gerade ihre Vorläufigkeit ihren größten Wert darstellen. Noch unbeinflusst von der alle Bewertungen neu bestimmenden Dimension des Massenmordes ab 1941 legen sie Zeugnis ab über die Gefühle und Gedanken der Betroffenen angesichts des Einbruchs des Nazi-Terrors. Die mit dem Jahr 1933 beginnenden, auszehrenden Mühen um Selbstbehauptung hatten sich über Nacht zum nackten Kampf um das eigene Überleben gewandelt!

Von Rolf von Ameln

Redaktion Israel-Nachrichten.org

 

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Von am 06/04/2014. Abgelegt unter Spiegel der Zeit. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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