Sie hatten ihre Eltern nicht vorgewarnt. Am 12. Januar 2014 verschwanden der 15-jährige Muhammed mit seinem gleichaltrigen Schulfreund Hussein aus einem kleinen Ort in Südfrankreich. Sie kehrten ihrer Schule den Rücken und reisten in Richtung Syrien; – zum kämpfen.
Die Angehörigen waren völlig ahnungslos, da die Jugendlichen weder die Moschee besuchten und auch nicht besonders gläubig waren. An diesem Tag verabschiedeten sich die beiden Schüler ganz normal von ihren Eltern. Doch statt in den nahenden Schulbus einzusteigen, nahmen sie den folgenden Bus, der sie zum Flughafen brachte. Ohne Problem kamen die beiden durch die Passkontrolle, denn mit einem gültigen Reisepass dürfen minderjährige Franzosen ausreisen, ohne eine schriftliche und beglaubigte Erlaubnis der Eltern vorweisen zu müssen. Die erste Etappe führt sie nach Istanbul, und von dort aus nach Adana. Dann geht es mit einem Bus weiter nach Reyhanli, an die türkisch-syrische Grenze.
Die beiden hatten vor Antritt ihrer Reise Kontakt mit einem Mittelsmann namens Abu Habdullah in Syrien über die Facebook-Seite „Der Kämpfer im Dienste Allahs“ aufgenommen. Dieser wiederum schickt ihnen einen neuen Kontaktmann zur Grenze, der ihnen hilft, auf Schleichwegen zu Fuß nach Syrien zu gelangen. Dort wartet der nächste Mann und bringt sie in ein Dorf nahe Aleppo, wo sie auf Abu H. treffen. In einem heruntergekommenen Haus mit dreißig anderen Ausländern sollen sich Muhammed und Hussein an das spartanische Leben der „Gotteskrieger“ der Al-Qaida-nahen „Nusra-Front“ gewöhnen. Jedoch nicht nur das harte Leben, auch das Misstrauen ihnen gegenüber beraubt die jungen Franzosen schnell ihrer Illusionen. Enttäuscht treten sie nach zwei Wochen die Rückreise an. Daheim angekommen wurden sie vom fanzösischen Inlandsgeheimdienst DCRI vernommen, und es zeigte sich, dass sie nicht im klassischen Sinne angeworben worden sind. Sie rekrutierten sich via Internet selbst für den „Heiligen Krieg“ der Dschihadisten.
Bei Sarid K. aus Konstanz am Bodensee lief es offenbar ganz ähnlich. Die damals 15-jährige Gymnasiastin, Tochter eines Algeriers und einer Deutschen, verschwand im November 2013. Der Vater meldete sie völlig verzweifelt bei der Polizei als vermisst. Doch Sarid meldete sich recht bald bei ihren Freundinnen über den Nachrichtenaustauschdienst „Whats-App“ und auf Facebook. Sie schrieb aus Syrien:
„Bin jetzt übrigens bei Al-Qaida“ und posierte auf einem Foto mit einer Kalaschnikov. Und sie schrieb weiter: „Mein Tag besteht jetzt aus Schlafen, Essen, Schießen, Lernen und Vorträge anhören“. Lange bevor das Mädchen verschwand, hatte es sich über soziale Netzwerke und Chat-Foren im Web mit radikalen Islamisten vernetzt. Dort nannte sie sich „Amatul` Aziz“; – Dienerin Gottes..! Derzeit ist Syrien das angesagte Ziel des neuen „Dschihad-Tourismus“. Die meisten Kämpfer kommen aus dem Libanon, Libyien oder dem Irak, knapp 1000 kommen nach Schätzungen der Nachrichtendienste aber auch aus Europa. Nach Angaben des Paiser Innenministeriums kämpfen etwa 250 Franzosen an der Seite der „Gotteskrieger“, darunter fünfzehn Minderjährige. Und die Tendenz: Steigend.
Aus Deutschland sind seit Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges vor drei Jahren laut Verfassungsschutz über 300 Kampfeswillige ausgereist. Darunter befand sich auch der frühere Fußball-Jugendnationalspieler Burak Karan, der im Alter von 26 Jahren in den Syrien-Krieg zog und dort gefallen sein soll. Vierzig Prozent der aus Deutschland stammenden Syrien-Kämpfer sind jünger als 25 Jahre, davon ein Dutzend minderjährig. Und – eine ganz neue Entwicklung – auch zwanzig Frauen. Sie wollen Dschihadisten heiraten und unterstützen, sogar mit der Waffe in Händen. Sarid K. wartete ebenfalls nicht lange. Im Januar, kurz vor ihrem 16. Geburtstag, heiratet sie in Syrien einen 21-jährigen Salafisten aus dem Raum Köln. Eine ihrer Internet-Botschaften lautete: „Wir unterstützen unsere Ehemänner im Kampf und vermehren beziehungsweise gebären Kämpfer!“
Sogenannte „Experten“ nennen zwei Gründe, warum gerade Syrien offenbar eine solche Anziehungskraft auf junge Menschen ausübt. Zum einen wollen sie dem Leid in diesem lang anhaltenden Bürgerkrieg nicht mehr tatenlos zusehen, das fast an jedem Abend eine Fernsehmeldung wert ist. Zum anderen kommt man leichter nach Syrien als nach Afghanistan. Mit einem Billigflieger geht es ab in die Türkei und von dort aus mit dem Bus an die syrische Grenze. Sarid K. „floh“ ebenfalls ganz einfach mit einer Buchung im Reisebüro. Eine gefälschte Einwilligungserklärung des Vaters machte dies möglich. Es scheint ein neuer Trend zu sein, dass junge Menschen sich im stillen Kämmerchen über die sozialen Netzwerke radikalisieren. Der Aufruf eines islamischen Geistlichen im Internet wird von den jungen Leuten sehr oft als „persönliche Einladung“ verstanden.
Irgendwann gibt es dann einen Auslöser und das Ganze wird zur Obzession. Dazu passt, dass sich nach Erkenntnissen deutscher Dienste mancher spätere Syrien-Kämpfer zunächst in einem der zahlreichen Hilfsprojekte für Syrien in Not engagiert – und mit Hilfslieferungen oft auch die wahren Gründe seiner Reise bemäntelt. Die jungen Menschen brechen in eine völlig ungewisse Zukunft auf. Viele kommen sogar völlig ohne Plan und ohne Kontakte an die Grenze zu Syrien. Oft werden sie dann wie heiße Kartoffeln von einem zum anderen gereicht. Diejenigen Rebellengruppen, die vom Westen Unterstützung erhalten, wollen mit diesen westlichen radikalisierten Jugendlichen nicht zu tun haben; – sie fürchten – zu Recht – diplomatische Verwicklungen.
So landen diese Menschen letztendlich bei radikalen Dschihadisten wie der „Nusra-Front“ oder der „Isis-Miliz“, und ab diesem Zeitpunkt muss man wohl von der eigentlichen Radikalisierung sprechen, vom Abgleiten in Richtung Terrorismus. Von den Al-Qaida-nahen Milizen werden die unerfahrenen, untrainierten europäischen „Kämpfer“ entweder als Kanonenfutter verheizt oder zu Zwecken der Propaganda missbraucht. Von mehreren Dschihadisten-Bossen sind Aussagen bekannt, „die ausländischen Kämpfer sind aus militärischer Sicht vollkommen nutzlos. Als Botschafter islamistischer Ideen im Westen, als Beispiele für die Bereitschaft zum Kampf sind sie aber unübertroffen!“
Und: Jemand wie der frühere Berliner „Gangsta-Rapper“ Deso Dogg alias Denis Cuspert ist für die radikalen Islamisten geradezu ein Geschenk. Er entwickelte sich zum radikalen Salafisten, sang Lieder, die zum Dchihad aufriefen, und ging schließlich selbst nach Syrien, wo er im vergangenen Jahr bei einem Angriff schwer verletzt wurde. Aber auch weniger bekannte junge Europäer haben zu Hause viele Freunde, und die Milizen ermuntern sie, den Kontakt über Facebook zu pflegen. In Videos sprechen sie dann mit der Waffe in der Hand zu ihren Altersgenossen daheim. So wie Nikolas B. alias Abu Abdelrahman: „Ich bin Euer Bruder Abu Abdelrahman, ich bin Franzose, habe französische Eltern, sie sind Atheisten.“ Der dreißig Jahre alte Mann trägt in einem über „You-Tube“ verbreiteten Video einen Kampfanzug und die Keffyah, das einem Turban ähnelnden Männerkopftuch. „Ziel dieses Videos ist es, Euch, meine Brüder in Frankreich und Europa, aufzurufen, in das gesegnete Syrien zu kommen, denn der Heilige Krieg in Syrien ist ein Muss“.
Mehr als ein Jahr, nachdem sie zum Islam übergetreten waren, hatten sich Nikolas und sein 22-jähriger Halbbruder Jean Daniel aus einer französischen Stadt im Frühjahr 2013 nach Syrien aufgemacht. Das Video wurde im Juli im Internet veröffentlicht. Heute sind beide tot, Jean Daniel wurde erschossen und Nikolas sprengte sich Anfang Januar 2014 als Selbstmordattentäter in die Luft. Es scheint eine ganz andere Generation heranzuwachsen, die sich da radikalisiert – nicht mehr Kinder aus sogenannten Problemvierteln, nicht mehr die Söhne strenggläubiger, der Tradtition verpflichteten Väter, sondern auch Kinder aus bürgerlichen, zum Teil nicht einmal religiösen Familien. Zudem werden die „Möchtegern-Kämpfer“ immer jünger.
Besonders gefährdet beziehungsweise anfällig scheinen die Jugendlichen in der Pubertät zu sein, die eine begeisternde Idee suchen und alles radikal verändern wollen; – sie haben die Absicht, etwas Großes und Gutes zu tun. Aber auf dem internationalen Markt gibt es heute keine ideologischen Angebote zur Veränderung des Systems mehr – außer dem „Heiligen Krieg“ und dem Beitritt zu den Dschihadisten. Und am meisten Sorgen machen den Sicherheitsbehörden diejenigen, die aus Syrien in die Heimat zurückkehren. Waren sie zum Anfang vielleicht irregleitete Träumer, sind sie nun möglicherweise ausgebildete „Gotteskrieger“. In Deutschland sollen bereits mehr als ein Dutzend Heimkehrer leben; – konkrete Anschlagspläne wurden laut Verfassungsschutz allerdings noch nicht entdeckt. Aber: Was nicht ist, kann noch kommen.
Von Rolf von Ameln
Redaktion Israel-Nachrichten.org
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