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Wider das Vergessen: Das Regime der Nationalsozialisten und die Konzentrationslager 1. Folge

Am 17. Juli 1942, am Nachmittag kurz nach fünfzehn Uhr landete auf dem Flughafen in Kattowitz eine Junkers-Maschine mit dem „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler samt einer kleineren Gefolgschaft an Bord. Hochrangige Partei- und SS-Funktionäre, darunter der Kommandant vom Konzentrationslager Auschwitz, Rudolf Höß, warteten ungeduldig auf den Reichsführer Himmler. Höß hatte zuvor bereits sein Lager gründlich auf den kommenden Besuch vorbereitet. Rudolf Höß begleitete Himmler und sein Gefolge auf der Fahrt in Richtung Süden, wo Auschwitz lag, und dort im „Führerheim“ bei Kaffee und Tee offiziell begrüßt wurde. Der ganze Komplex des Lagers war seit dem Eröffnungsbesuch im Frühling des Jahres 1941 enorm angewachsen; – die SS hatte ihr dortiges Interessensgebiet ihren Wünschen entsprechend stark erweitert.

Heinrich Himmler und Rudolf Höß. Foto: Archiv

Auch das sogenannte Stammlager hatte sich enorm verändert und schloss nun eine provisorische Abteilung für Tausende von weiblichen Häftlingen ein, die kurz vor der Verlegung in die riesige neue Anlage in Birkenau standen, und ein weiteres Großprojekt war auf dem in der Nähe liegenden Gelände der Firma IG-Farben im Gange, wo ein Außenlager mit dem Namen Monowitz errichtet wurde. Von Bedeutung für alles andere jedoch aber war, dass Birkenau seit Kurzem zu einem KZ für die systematische Massenvernichtung des europäischen Judentums geworden war. Himmlers Besuch dauerte zwei Tage, und er bekam eine umfassende Führung durch den riesigen Auschwitz-Komplex.

Er zeigte sich sehr interessiert an den verschiedenen landwirtschaftlichen und industriellen Unternehmungen dort. Um „seine Ideen“ für die Bewirtschaftung zu diskutieren, reservierte der studierte Agronom Himmler Zeit für den dynamischen Leiter der SS-Landwirtschaft des Konzentrationslagers Auschwitz, Sturmbannführer Joachim Caesar, er besuchte auch Agrarbetriebe, offenbar mit einem Zwischenstopp an einem Stall für Kühe, wo er sich von einem Häftling ein Glas Magermilch einschenken ließ. Danach besichtigte er auch die IG-Farben-Baustelle, wo er sich tief beeindruckt zeigte von den modernen Bauverfahren. Dennoch konnte er den Beginn der Produktion von synthetischem Treibstoff und Kautschuk kaum erwarten.

Immer wieder drängte er das Unternehmen, die Sache zu beschleunigen, was IG-Farben auch bewerkstelligen konnte. Im Stammlager inspizierte Himmler den total überbelegten Frauenbereich und sah ungerührt zu, wie eine Gefangene beim Vollzug der Prügelstrafe ausgepeitscht wurde. Dabei stand er unweit des Lager-Krematoriums, wo damals im Herbst des Jahres 1941 die Vergasungen sowjetischer Kriegsgefangenen stattgefunden hatten. Zum Zeitpunkt seines Besuches aber hatte sich bereits das Zentrum des Massenmordes in Auschwitz verlagert, vom Stammlager weg zur neuen Erweiterung in Birkenau. Nicht weit entfernt jenseits des ersten Birkenauer Häftlings-Sektors standen – ein paar Meter auseinander und unter hohen Bäumen verborgen – zwei harmlos aussehende Bauernhäuser, die erst vor kurzer Zeit in Gaskammern umgebaut worden waren.

Dort, so erinnerte sich Rudolf Höß später, beobachtete Himmler den Massenmord an einem gerade angekommenen Judentransport, und Höß ließ folgende Bemerkung fallen: „Zu dem Vernichtungsvorgang äußerte er sich in keiner Weise, er sah nur ganz stumm zu.“ Der Chef der SS-Mördertruppe war ein leidenschaftsloser Beobachter, so wie er es ein Jahr zuvor bei einem Massaker an jüdischen Frauen und Männern in der Nähe von Minsk gewesen war. Doch Himmler blieb nicht lange schweigsam, und am Abend des 17. Juli 1942 nahm er an einem festlichen Abendessen mit den Auschwitzern SS-Führern teil, – allesamt im Dienstanzug -, und unterhielt sich mit ihnen über Beruf und Familie. Später entspannte er sich bei einer informellen „kleinen Gesellschaft“ mit Höß, dessen Frau und einigen ausgewählten Gästen in der modernen Villa des NS-Gauleiters in einem Wald in der Nähe von Kattowitz, komplett mit Golfplatz und Schwimmbad.

An diesem Abend war Heinrich Himmler ungewöhnlich heiter, sogar richtig ausgelassen, vermied jedoch jede direkte Bezugnahme auf die erst kurze Zeit zurückliegenden Geschehnisse. Dennoch muss ihn die Tötung der europäischen Juden beschäftigt haben, und er genehmigte sich sogar einige Gläser mit Rotwein und rauchte. „So hatte ich ihn noch nie erlebt“, sagte Höß zu einigen seiner „Weggefährten“. Am nächsten Morgen ging es zurück nach Auschwitz, denn Himmler legte Wert darauf, Höß vor seiner endgültigen Abfahrt noch einmal zu treffen. Bei seinem Besuch in der Villa des Lagerkommandanten war Himmler die Liebenswürdigkeit selbst und ließ sich mit den Kindern von Höß fotografieren, die ihn „Onkel Heini“ nennen durften. Voller Stolz hing Höß die Aufnahmen in seinem Haus auf, war er doch auch mit auf den Fotos. Vielleicht hielt Himmler solche demonstrativen Höflichkeiten für besonders wichtig an einem Ort wie Auschwitz, wo „seine Männer“ täglich mit Gewalttaten, Raub und Massentötungen beschäftigt waren.

Der Besuch des „Reichsführers SS“ in Auschwitz fiel mit wichtigen Entwicklungen im „Dritten Reich“ zusammen. Seit dem Frühjahr des Jahres 1942 hatte Heinrich Himmler auf Verdopplung der Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern gedrängt, was die neuen Nazi-Prioritäten widerspiegelte. Nach dem kläglichen Scheitern der schnellen Offensive gegen die UDSSR und dem Kriegseintritt der USA sah das Hitler-Regime einem langwierigen Kampf entgegen und musste dringend die Produktionszahlen in der Rüstungsindustrie erhöhen. Himmler seinerseits hatte bereits Anfang März 1942 entschieden, das gesamte Konzentrationslager-System, das bislang nur recht lose in die umfassende SS-Organisationsstruktur integriert war, zu einem Teil des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes (WVHA) zu machen, wobei die vormalige Inspektion der Konzentrationslager (IKL) jetzt dessen Amtsgruppe D bildete.

Das WVHA war die neu geschaffene organisatorische und wirtschaftliche Schaltstelle der SS, geleitet von dem zielstrebigen Oswald Pohl, der in die Spitzenränge der SS aufgestiegen war. Jedoch: Als Himmler im Juli 1942 nach Auschwitz flog, hatte er zuallererst die „Endlösung der Judenfrage“ im Sinn und nicht die SS-Wirtschaft. Himmler, der Herr über die Konzentrationslager, leitete auch die Vernichtung des europäischen Judentums, die im Sommer desselben Jahres eskalierte. Nur wenige Tage vor seinem Besuch in Auschwitz hatte er mehrfach Adolf Hitler getroffen und drängte danach auf eine Beschleunigung des Genozids an einem ganzen Volk. Und unmittelbar im Anschluss an seine „Inspektion“ in Auschwitz flog Himmler nach Lublin, um die Vernichtung der polnischen Juden in drei sogenannten Todeslagern im Generalgouvernement zu besprechen: Belzec, Sobibor und Treblinka.

Am 19. Juli 1942 besuchte er Sobibor und gab am Abend desselben Tages einen Befehl heraus, in dem die „schnelle Umsiedlung“ der gesamten jüdischen Bevölkerung des Generalgouvernements“ anordnete; – abgesehen von den ausgewählten Zwangsarbeitern in den wenigen verbliebenen Ghettos und Lagern sollten alle in dem Gebiet lebenden Juden bis Ende des Jahres vernichtet sein..! Himmlers Reise nach Auschwitz im Juli 1942 kam also in einem entscheidenden Augenblick: Produktive Arbeit wurde wichtiger denn je zu eben der Zeit, als das Programm zur Deportation und Massen-Ermordung der europäischen Juden anlief.

Der Besuch Himmlers efüllte beide Aspekte, da Auschwitz ein Brennpunkt der wirtschaftlichen Ambitionen der SS und ein Zentrum der „Nazi-Endlösung“ war. Bevor Himmler am 18. Juli 1942 Auschwitz verließ, forderte er Höß auf, die wirtschaftliche Ausbeutung der Häftlinge und die Massen-Vergasungen voranzutreiben, da die Deportationen „von Monat zu Monat gesteigert“ würden. Als das Treffen sich dem Ende zu neigte, beförderte Himmler den Lagerkommandanten Höß in Anerkennung der Bedeutung von Auschwitz für die Planungen des Nazi-Regimes spontan zum Obersturmbannführer. Es stellt sich da die Frage, wie war Auschwitz überhaupt ein Teil dieser Planungen geworden; – und welche Funktion kam ihm und den anderen Konzentrationslagern zu im Holocaust?

Dies erfährt die geneigte Leserschaft der IN in einer der nächsten Ausgaben.

Von Rolf von Ameln

Rolf v. Ameln ist Buchautor, sowie IN-Korrespondent in Deutschland und Spezialist für Themen der Zeitgeschichte. Er schreibt seit 25 Jahren für die Israel-Nachrichten.

 

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Von am 16/08/2020. Abgelegt unter Spiegel der Zeit. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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