Sich zu Wort zu melden, wenn es geboten ist – dazu will der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, die Gesellschaft ermutigen. Seit heute ist seine neue Website online. Ein Gespräch über die Erinnerung an den Holocaust, den Kampf gegen alle Formen des Antisemitismus – und die Freude darüber, wie jüdisches Leben unser Land bereichert.
Herr Klein, der gerade vorgestellte Verfassungsschutzbericht weist einen Anstieg bei den antisemitischen Straftaten von 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr aus. Wie erklären Sie sich das?
Felix Klein: Antisemitismus ist in Deutschland immer noch und immer wieder ein massives Problem auch der Gegenwart. Da haben sich rote Linien verschoben: Dinge, die früher nur gedacht wurden, werden jetzt auch gesagt. Die Hemmschwellen sind gesunken. Der furchtbare Anschlag von Halle im Oktober 2019 offenbarte eine neue Dimension der Gewalt und damit einen Einschnitt, wonach die antisemitische Bedrohung niemand mehr ignorieren kann. Die Mehrheit der antisemitischen Straftaten – vor allem die Relativierung des Holocausts und Volksverhetzung – wird im Internet begangen und kommt von rechts.
Bei den Zahlen spricht aber auch einiges dafür, dass Betroffene, Opfer wie Zeugen, antisemitischer Straftaten häufiger als in der Vergangenheit zur Polizei gehen und Anzeige erstatten. Das begrüße ich sehr. Denn nur wenn Anzeige erstattet wird, kann ja auch tatsächlich etwas geschehen.
Wir haben in Deutschland sehr viele Anstrengungen unternommen, um uns mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust auseinanderzusetzen und die Erinnerung daran wachzuhalten. Wenn wir heute aber noch immer Antisemitismus beobachten müssen und die Zahlen dazu sogar ansteigen, bedeutet das, dass es Korrekturbedarf gibt?
Klein: Es ist eine politische Daueraufgabe der Bundesregierung, aber auch der Gesellschaft, die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten. Und diese Aufgabe stellt sich immer wieder neu. Wir dürfen keine Erinnerungspolitik haben, die in und an den Ritualen erstarrt und die die Menschen emotional nicht erreicht. Insbesondere jetzt, da die letzten Zeitzeugen und Holocaustüberlebenden bald nicht mehr unter uns sein werden, müssen wir neue Formen der Erinnerung finden, die diese emotionale Ansprache auch wirklich schaffen. Hierzu ist aus meiner Sicht erforderlich, dass wir die Gedenkstätten als authentische Orte von Geschichte noch besser vernetzen mit ihrem Umfeld, zum Beispiel mit Theatern, Betrieben, Jugendclubs, freiwilligen Feuerwehren und anderen.
Brauchen wir auch andere Techniken und Mittel oder andere Inhalte?
Klein: Wir sollten neue digitale Formate finden, die insbesondere auch jüngere Leute ansprechen. Die Gedenkstätten sind da auch schon auf gutem Wege und es gibt schon sehr gute Ideen – interaktive Module etwa, auch Avatare, die jetzt gerade entwickelt werden.
Und wir müssen Angebote machen, die Menschen mit Migrationshintergrund stärker einbinden. Als Beispiel möchte ich die Geschichte des ägyptischen Arztes Mohamed Helmy nennen, der während des Zweiten Weltkriegs Juden in Berlin versteckte und den die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem 2013 als ersten Araber als „Gerechten unter den Völkern“ auszeichnete. Mit solchen Menschen können sich auch Muslime identifizieren. Wir sollten grundsätzlich vermehrt diejenigen in den Blick nehmen, die damals das Richtige getan haben. Sie haben aus meiner Sicht nicht den ihnen gebührenden Platz in unserer Erinnerungskultur.
Wichtig ist mir auch, nicht nur die Erinnerung an das nationalsozialistische Unrecht wachzuhalten, sondern den Menschen vor Augen zu führen, in welch bedeutender Weise Juden und Jüdinnen dieses Land mitgeprägt haben. Statt die jüdische Gemeinschaft ausschließlich als Opfer in Folge der Shoah darzustellen, soll auch die Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland in das öffentliche Bewusstsein gebracht werden.
Inwiefern ist es im Kampf gegen den Antisemitismus wichtig, dessen unterschiedliche Ausprägungen zu betrachten?
Klein: Wir müssen uns davor hüten, Priorisierungen vorzunehmen. Auch wenn, wie das Attentat von Halle zeigt, der rechte Antisemitismus derzeit eine große tödliche Gefahr darstellt und mehr als 90 Prozent der antisemitischen Straftaten dem rechtsextremen Umfeld zuzuordnen sind, müssen wir alle Formen von Antisemitismus bekämpfen. Das gilt auch für Antisemitismus, der von Links kommt, von islamistischer Seite oder auch aus der Mitte der Gesellschaft. Es gibt keinen harmlosen Antisemitismus.
Es ist wichtig, wie zum Beispiel in der Kriminalstatistik, die unterschiedlichen Formen zu benennen, um passgenaue Strategien dagegen zu entwickeln. Einen Antisemitismus, der holocaustrelativierend rechtsextrem daherkommt, muss man in der Präventionsarbeit anders angehen als einen Antisemitismus, der sich auf Israel bezieht und vielleicht von muslimischer Seite geäußert wird. Es ist erschreckend, dass sich Gruppierungen, die sonst überhaupt nichts miteinander zu tun haben – Rechtsextreme, Linksextreme, auch Islamisten – einig sind im Hass auf Israel, im Hass auf Juden. Das hat man zum Beispiel bei den sogenannten Hygienedemonstrationen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gesehen.
Sie haben die sozialen Medien als wichtige Plattform für Antisemitismus beschrieben. Was lässt sich dagegen konkret tun?
Klein: Wir haben jetzt mit dem neuen Gesetz gegen Hass und Hetze im Internet, das bald in Kraft treten wird, ein wirklich effektives Instrument im Kampf gegen Antisemitismus. Ich glaube, damit sind wir sehr gut aufgestellt, auch im internationalen Vergleich. Denn dadurch werden Polizei und Staatsanwaltschaften die Internetplattformen verpflichten können, die IP-Adressen und damit die Identität derer herauszugeben, die Hass, Hetze und Antisemitismus verbreiten. Ich erhoffe und verspreche mir davon große Erfolge. Denn es hat sich gezeigt, dass das Milieu, das diesen Hass so unverblümt verbreitet, zurückweicht, wenn es Gegendruck bekommt.
Aber das reicht natürlich nicht aus. Wir müssen dafür sorgen, dass es auch Gegenrede, „Counter Speech“, gibt. Es ist wichtig, dass Verschwörungs-Mythen auch dekonstruiert werden im Netz. Nicht nur staatlicherseits, sondern auch durch Nichtregierungsorganisationen und Privatleute. Hier gibt es sehr gute Ansätze und sehr engagierte Organisationen.
Was ist aus Ihrer Sicht die entscheidendste politische Maßnahme gegen den Antisemitismus? Lässt sich das so auf einen Nenner bringen?
Klein: Wir haben in den vergangenen zwei Jahren trotz aller Sorge, die es berechtigterweise gibt, doch viel erreicht. Einerseits was die staatlichen Strukturen angeht, die neu entwickelt wurden: Da ist zunächst die Schaffung meines Amtes im Jahr 2018 zu nennen. Im vergangenen Herbst ist eine Bund-Länder-Kommission eingerichtet worden unter meinem Vorsitz. Es gibt einen Beratungskreis für die Bundesregierung,
Antisemitismusforschung ist jetzt auf dauerhafte Füße gestellt worden. Das heißt, vier der fünf Forderungen des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus sind umgesetzt worden. Was andererseits auch sehr wichtig ist: Das allgemeine Bewusstsein für Antisemitismus in der Gesellschaft ist heute größer als noch vor einigen Jahren.
Wir müssen uns klarmachen: Antisemitismus zielt auf unsere Gesellschaft als Ganze. Er ist zutiefst demokratiefeindlich und richtet sich gegen unsere Werte, die im Grundgesetz festgeschrieben sind. Antisemitismus kann uns alle bedrohen, wie das Attentat von Halle ja gezeigt hat. Zwei Menschen haben bei diesem entsetzlichen Verbrechen den Tod gefunden.
Spielt der Kampf gegen den Antisemitismus auch im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine Rolle?
Klein: Mein Ziel ist es, Antisemitismusbekämpfung als Querschnittsthema auf europäischer Ebene zu verankern – vergleichbar zu Genderfragen oder Klimaschutz. Das würde ermöglichen, Antisemitismusbekämpfung in jedem EU-Gremium auf die Tagesordnung zu setzen und zu thematisieren. Bisher ist das schwierig, da diese Aufgabe auf europäischer Ebene in sehr unterschiedlichen Zuständigkeiten liegt. Als Querschnittsthema kann man Antisemitismus nicht nur etwa unter dem Aspekt innere Sicherheit und Justiz behandeln. Das möchte ich institutionell ändern.
Außerdem setzte ich mich dafür ein, dass das Mandat der EU-Koordinatorin der Kommission für Antisemitismusbekämpfung gestärkt wird. Auch dafür, dass die Verpflichtungen aus der Ratsdeklaration vom Dezember 2018 unter österreichischem Vorsitz auch umgesetzt werden. Da steht zum Beispiel drin, dass jedes EU-Mitgliedsland eine nationale Strategie im Kampf gegen Antisemitismus entwickeln soll. Hier stehen einige Länder noch in der Verpflichtung.
Nächstes Jahr können wir 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland feiern. Wie sehen die Pläne für dieses Festjahr aus?
Klein: Wir werden einen ganzen Strauß von Aktivitäten haben. Angefangen von einem Staatsakt, der im Februar in Köln stattfinden wird, wird es jüdische Kulturtage in vielen Städten geben. Jüdische Museen werden Sonderausstellungen präsentieren. Es wird Konzerte und Straßenfeste geben, eine Sonderbriefmarke ist geplant, auch ein Gastronomieführer. Es gibt Pläne, das weltgrößte Laubhüttenfest in Deutschland im nächsten Jahr zu feiern. Ich freue mich, dass nicht nur jüdische Gemeinden, sondern auch viele weitere Institutionen mitmachen.
Was erhoffen Sie sich von dem Festjahr?
Klein: Dass man wegkommt von der Konzentration auf negative Bilder und Assoziationen. Viele Menschen denken, wenn sie das Wort „Juden“ hören, oftmals nur an Holocaust, an antisemitische Vorfälle oder den Nahost-Konflikt. Wir müssen viel stärker in den Fokus nehmen, wie positiv jüdisches Leben unser Land bereichert hat – und es auch jetzt noch tut. In welch positivem Maße auch zum Beispiel jüdische Zuwanderung seit 1990/1991 unser Land mit weiterentwickelt hat. Es ist für uns ein Grund zu großer Freude, dass jüdisches Leben in Deutschland letztlich wieder im Aufschwung ist.
Seit dem 1. Mai 2018 ist Dr. Felix Klein Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung. Zuvor hatte er von März 2014 bis April 2018 bereits das Amt des Sonderbeauftragten für Beziehungen zu jüdischen Organisationen und Antisemitismusfragen im Auswärtigen Amt inne. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften absolvierte Klein von 1994 bis 1996 seine diplomatische Ausbildung beim Auswärtigen Amt.
Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
Dorotheenstr. 84, D-10117 Berlin
Telefon: 03018 272 – 0 / Telefax: 03018 272 – 2555
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