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Hoffnung in den ultrareligiösen Zentren Israels

In den ultraorthodoxen jüdischen Zentren in New York und in Israel grassiert der Coronavirus, weil diese Bevölkerungsgruppen einen intensiven familiären Zusammenhalt pflegen. Dort könnte sich jedoch auch, wegen der sehr jungen Bevölkerung erstmals auch eine Herdenimmunität durchsetzen.

Im Mittelalter wurde den Juden Europas oft die Schuld an Epidemien gegeben. Dies führte nicht selten zu Pogromen. Die Judenverfolgung, die in der Zeit der Kreuzzüge begann, erreichte ihren Höhepunkt um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in der Zeit der großen Pest. Wie für jedes andre öffentliche Unglück wurden die Juden auch für die Pest verantwortlich gemacht, indem man behauptete, sie hätten den Zorn Gottes herabgeflucht und mit Hilfe der Aussätzigen die Brunnen vergiftet. In den Jahren um 1350 wurde ein Drittel der Bewohner Europas, 25 Millionen Menschen, von der großen Pestilenz dahingerafft und wahrscheinlich die Hälfte aller Juden.

Die Überlebenden der Pogrome flüchteten damals vor den Verfolgungen aus den Städten Mitteleuropas in die weiten menschenleeren Ebenen Osteuropas und gründeten dort die jüdischen Schtetls. Ihre Sprache, das rheinische Mittelhochdeutsche, wurde dort zum Jiddischen. In diesen Schtetls entstand im 18. Jahrhundert der Chassidismus, eine mystische Reformbewegung des konservativen osteuropäischen Judentums. Polen, Litauen, Russland und die Ukraine waren die Zentren des chassidischen Judentums, das zumeist in ländlichen Gebieten verwurzelt war. Begründer des osteuropäischen Chassidismus war Israel ben Elieser (um 1700–1760), genannt Baal Schem Tow (‚Meister des guten Namens‘). Chassidische Traditionen wurden in Osteuropa mit der Vernichtung der osteuropäischen Juden durch den Holocaust beinahe ausgelöscht. In Israel und Amerika konnte sich der Chassidismus erfolgreich reorganisieren und ist heute, auch aufgrund des starken Bevölkerungswachstums chassidischer Gruppen, wieder in einem starken Aufschwung.

Pandemie grassiert unter den Ultrareligiösen in Israel

Corona ist für diese orthodoxen Juden zu einer sehr großen Gefahr geworden. Die Nachkommen derjenigen, die im Mittelalter für alle Seuchen und Plagen verantwortlich gemacht wurden, gelten jetzt selbst zu den am höchsten mit den Coronavirus infizierten Bevölkerungsgruppen. Die Nachkommen der Chassidim werden in Israel Haredim genannt. Sie bilden infolge ihres großen Kinderreichtums etwa 15% der Bevölkerung Israels, aber in Jerusalem, der Hauptstadt, bilden sie bereits 30% der Bevölkerung. Unter den wegen Corona ins Krankenhaus eingelieferten Patienten in Israel stellen sie mittlerweile die Hälfte. Der israelische Gesundheitsminister Yaakov Litzman (72), Angehöriger der Ger Chassidischen Dynastie, und seine Gattin, die selbst zu den Ultraorthodoxen und deren Partei Agudat Isroel gehören, sind auch mit dem Coronavirus diagnostiziert worden. Yaakov Perlow, der Rebbe der Novominsker chassidischen Dynastie ist im Alter von 89 Jahren in Brooklyn an COVID 19 gestorben. Die Lage in den ultraorthodoxen Stadtteilen Israels hat sich mittlerweile so verschärft, dass der Generaldirektor des Gesundheitsministeriums deren totale Abriegelung in Erwägung zog. Dies betrifft vor allem die neben Tel Aviv gelegene ultraorthodoxe Stadt Bnei Brak sowie die Jerusalemer Viertel Mea Shearim und Geula, und die Siedlungen Betar Illit und Modi’in Illit in der Westbank, in denen die Infektionsraten im Vergleich zum Rest des Landes um ein Vielfaches höher liegen und weiter steigen. Das liegt zum Teil an den großen und oft armen Familien und den sehr beengten Wohnverhältnissen in diesen Stadtteilen, die die alte Lebensweise aus den osteuropäischen Schtetl ins Heilige Land rüber gerettet haben. Aber es liegt auch daran, dass einige der führenden Rabbiner der vielen verschiedenen Haredim-Gemeinden lange zögerten, den Direktiven der Behörden zu folgen. Die israelische Polizei hält sich in den religiösen Stätten aller Religionen so gut wie möglich zurück, aber in den orthodoxen Viertel hat sie wenig zu sagen. Selbst der Gesundheitsminister besuchte weiter Gottesdienste seiner Stadt. In Bnei Brak hatte ein einflussreicher Rabbiner einer ultraorthodoxen Gemeinde, sogar dazu aufgerufen, religiöse Thoraschulen geöffnet zu halten, als die Regierung die Schließung sämtlicher Bildungseinrichtungen verfügt hatte. Bnei Brak hat nach Jerusalem die höchsten Infektionsraten des Landes. Bei Massentests in Bnei Brak wurde etwa 40% der Bevölkerung COVID 19 positiv getestet. Zum Vergleich, im der am stärksten von Corona befallenen Gemeinde Gangelt in Deutschland sind es 15 %.

Bnei Brak als Hoffnungsschimmer

Bnei Brak, das vor kurzem vom Militär ganz abgeriegelt wurde, könnte zum Ausgangspunkt für eine Lösung der Pandemie in Israel werden. Die Bewohner von Bnei Brak können nach Meinung führender Virologen in Israel, möglicherweise eine wichtige Rolle bei der Überwindung der Krankheit durch „Herdenimmunität“ spielen. „Herdenimmunität“ oder „Gemeinschaftsimmunität“ geschieht, wenn so viele Menschen in einer Gemeinschaft gegen eine Infektionskrankheit immun werden, dass die Krankheit sich nicht mehr ausbreiten kann. Wahrscheinlich sind bereits mehr als 50% oder 60% der dortigen Einwohner gegen das Virus immun. Dies ist jedoch eine der Voraussetzungen den Lockup der Gesellschaft sofort zu beenden. Wenn genügend Menschen an dem Virus erkranken bauen sie mit der Zeit eine natürliche Immunantwort gegen das Virus auf. Eine Herdenimmunität, wenn sie schrittweise durchgeführt wird, ist der richtige Ansatz zur Überwindung der Pandemie. Bnei Brak, wo 50% der Bevölkerung unter 16 Jahre alt sind, könnte ein idealer Testfall hierfür sein. Die Stadt könnte zum Testlabor einer Exit Strategie werden. Die Wissenschaft weiß zwar immer noch nicht sicher, ob man nach einer Erkrankung eine Immunität gegen COVID-19 entwickelt und sich nicht ein zweites Mal mit dem Virus reinfizieren kann. Aber bei der Mehrzahl ähnlicher Viren ist dies der Fall. Auf jeden Fall werden die Symptome beim zweiten Mal weniger akut sein.

Da keine Gesellschaft in der Lage ist, sich für immer zu isolieren, muss es irgendwann eine Rückkehr zum normalen Leben geben. Wenn dann keine Herdenimmunität besteht, werden sich die Menschen wieder anstecken, bis diese Immunität erreicht ist. Durch die derzeit angewandte soziale Isolierung versucht man das Unvermeidliche zu verzögern. Diese Maßnahmen der sozialen Distanzierung können bedeuten, dass wenn kein Impfstoff gefunden wird, wir sogar für bis zu drei weitere Jahre isoliert leben müssten. Durch die soziale Distanzierung verlangsamt sich die Entwicklung der Herdenimmunität, aber die Herdenimmunität ist der einzige wirksame Ersatz für eine Impfung. Jeder Tag der sozialen Isolierung verschärft die Wirtschaftskrise. Allein ältere Erwachsene und Menschen mit bereits bestehenden chronischen Krankheiten sollten isoliert und geschützt werden, glauben nicht nur die israelischen Forscher. Eine Pandemie lässt sich nur durch zwei Möglichkeiten beenden: entweder durch Auslöschung des Virus oder Herdenimmunität. Bei diesem Virus, der auf zu vielen verwandten Viren basiert, kann es keine Ausrottung geben. Der einzige Weg zurück zum normalen Leben besteht also darin, die Herdenimmunität sich entwickeln zu lassen – der Natur ihren Lauf zu lassen – zuerst in Bnei Brak und dann überall sonst, glauben immer mehr israelische Virologen.

Von Bodo Bost

Bodo Bost ist Journalist und freier Mitarbeiter der Israel-Nachrichten. Er berichtet über aktuelle Themen über Judentum und Israel in Europa, er lebt und arbeitet in Luxemburg.

 

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Von am 23/04/2020. Abgelegt unter Featured. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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