Oktober 2018, Februar 2019, März 2019, April 2019, Mai 2019
Hermannstadt – Lissabon – Berlin – München – Wien – Jerusalem – Tel Aviv – Haifa – Prag
Bereits im Oktober 2018 auf dem Heimweg von Hermannstadt nach Berlin begann ich im „Wasserzeichen“ zu lesen. Auf dem Flug im Dezember nach Lissabon war das dicke Buch auch dabei, doch die vielen neuen Eindrücke in Portugal ließen es unberührt. Auf dem Weg von München nach Berlin lese ich erneut darin. Es ist Nacht, die Landschaften, die ich durchfahre sind nicht zu erkennen. Ich fahre gedanklich durchs dunkle Rumänien, durchs dunkle Siebenbürgen, wie ich es oft in den Jahren getan habe und begleite die Beschreibungen zu jedem Ort, doch die Zeit, die beschrieben wird liegt lange zurück. Eginald Schlattner, der Erzähler des „Wasserzeichens“, breitet sein jugendliches Leben für uns aus, erzählt Situationen in einer kläglichen Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Jugendlicher ist er, hat die Pimpferei und die Hitlerei hinter sich gebracht und bereitet sich als Schüler auf seine Zukunft, sein weiteres Leben vor, das dann immer wieder Brüche bereit hält, wie ich in seinen großartigen zeitgeschichtlichen Romanen las. Auch das Wasserzeichen ist Zeitgeschichte, das von Ihm beschriebene alltäglich Erlebte wird in den historischen Bibliotheken abgelegt. Gut, dass er über die Jahre damals geschrieben hat, dass wir die Geschichten lesen dürfen. Die politischen Veränderungen in Rumänien und in Siebenbürgen, die Schikanen und Erniedrigungen gegen die deutsche Minderheit, die Denunziationen der Nachbarn, die die Fahne nach dem Wind gehängt haben, lese von den Deportationen 1945 nach Russland, höre, dass Viele von ihnen nicht heimgekehrt sind, hielten das schwere Leben, den Hunger und die Krankheiten nicht aus und starben. Nach dem 2. Weltkrieg ein enormer Verlust in fast allen deutschen Familien. Während ich erzähle fährt der Zug in den Leipziger Bahnhof ein und in fünfundsiebzig Minuten werde ich in Berlin sein.
Doch die Odyssee des Buches, des „Wasserzeichens“ ist noch längst nicht beendet. Im Zug nach Prag fährt es mit, von Prag nach Wien ist es noch immer nicht gelesen. Das „Wasserzeichen“ begleitet mich und Eginald Schlattners Gedanken an Gott und die Kirche und die Zitate aus der Bibel. Diese werden ihn, den Pfarrer und Schriftsteller, bis ans Ende seines Daseins bestimmen. Seine Seelsorge im Gefängnis und auch die Einkehr ins Orthodoxe Kloster gehören dazu. Mit dem Herrgott auf Du und Du wird ihm schon damals, dem Jugendlichen, prophezeit. Liebeleien junger Menschen sind üblich, er, Eginald Schlattner erlebt sie und erzählt über die eine oder andere Jugendliebe, die später zusammenfallen wird, wie ein vergängliches Kartenhaus.
Irgendwo in einem Absatz ist geschrieben, dass sich die Sachsen und die „Zigeuner“ gut verstehen. Zusammen leben sie auf den Dörfern, den Siebenbürgischen, von alters her.
Im Flugzeug von Wien nach Tel Aviv denke ich an Susanne Sara Blau, die Schülerin aus Kronstadt, damals Stalinstadt. Hin- und hergerissen wird sie vom Christenstern zum Davidstern. Was macht sie mit ihrer religiösen Gespaltenheit, dem puren Wahnsinn zwischen Evangelischer Kirche und Synagoge, halb Siebenbürger Sächsin, halb Jüdin? Schwärmt sie für etwas, das sie so nicht kennt? Leicht ist das Leben nach dem 2. Weltkrieg im Wüstenland König Davids sicherlich nicht, Schoschanas Leben mit dem seelischen Gespalten sein im damaligen Rumänien, im damaligen Siebenbürgen, ist auch kein leichtes.
Über Istanbul fliegt das Flugzeug und meine Gedanken verlassen Sara und sind bei den sephardischen Juden, die vor über fünfhundert Jahren aus ihrer Heimat, der Iberischen Halbinsel, vertrieben werden, in Konstantinopel bei den Osmanen eine neue Heimat finden und das Ladino, ihre alte Sprache, mitnehmen. Das Marmarameer breitet sich aus, der Bosporus trennt den Orient vom Okzident, trennt das Morgenland vom Abendland.
Susanne Sara Schoschana Blau hätte weiterziehen können von Siebenbürgen nach Israel, hätte ihre gespaltene Herkunft im Rucksack mitnehmen können und wäre im Wüstenland, im Land der Zionisten und Holocaustüberlebenden, eine richtige Jüdin geworden.
Die Reise des „Wasserzeichens“ wird kein Ende nehmen. Gerade fährt es an der Moldau entlang und weiter an der Elbe. Das jugendliche Leben von Eginald Schlattner spiegelt sich in den vorbeiziehenden Strömen und endet in irgendeinem Meer und hat mir die Fantasie gegeben.
Von Christel Wollmann-Fiedler
Frau Wollmann-Fiedler ist Journalistin, Fotografin und Autorin der Israel-Nachrichten. Sie lebt und arbeitet in Berlin und in Bukarest, Rumänien.
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