Der interimistische PM Netanyahu sieht sich derzeit, nach den beiden Wahlniederlagen vom April und September mit der wohl grössten Herausforderung seines Lebens konfrontiert. Der Anklage in den drei in Israel unter den Namen «Causa 1000, 2000 und 4000» bekannt gewordenen Rechtsfällen.
Am vergangenen Donnerstag, nur einen Tag, nachdem das Mandat der Regierungsbildung von Benny Gantz ablief, trat Generalstaatsanwalt (GStA) Mandelblit vor die Kameras. Der sichtlich zeitweise um Fassung ringende GStA verkündete, dass die Entscheidung, die Anklage in «Namen des Staates Israel gegen Benjamin Netanyahu» nicht politisch motiviert sei. «Das ist ein schwieriger und trauriger Tag. Heute habe ich das Büro des PM über meine Entscheidung, ihn in drei Fällen anzuklagen, informiert. Ein Tag, an dem der GStA sich entscheidet, eine Anklage in schwerwiegenden Rechtsfällen gegen einen PM zu erheben, ist ein trauriger Tag für die Öffentlichkeit in Israel – und für mich persönlich.» Er habe die Entscheidung schweren Herzens getroffen.
Avichai Mandelblit verbindet ein langer gemeinsamer politischer Weg mit PM Netanyahu. Nachdem er seit Eintritt in die IDF 1985 im Büro des militärischen GStA diente, hatte er selbst von 2004 bis 2011 diese Position inne. Bevor er von PM Netanyahu im Jahr 2013 als Staatssekretär in die Regierung berufen wurde, leitete er zwei Jahre das Institut für nationale Sicherheitsstudien an der Universität Tel Aviv. Im Feburar 2016 wurde er von PM Netanyahu und der damaligen Justizministerin Ayelet Shaked zum GStA ernannt. Schnell machte er sich einen Namen als akribischer Ausleger der Gesetze, ohne Rücksichtnahme auf politische Seilschaften. Entsprechend fiel auch sein Kommentar aus: «Deshalb ist es meine gesetzliche Pflicht, Anklage zu erhaben. Es ist keine Wahl, es ist eine Verpflichtung. So ist es bei jedem Bürger und entsprechend habe ich hier gehandelt.»
Bereits im Dezember 2016 begann die Polizei mit den ersten Untersuchungen der fraglichen Fälle. Im Januar 2017 fanden die ersten Befragungen durch die Polizei statt.
Bis zur Ankündigung, dass er nun Anklage in drei von vier Fällen erheben müsse, vergingen also drei Jahre.
Um die beiden wesentlichen Punkte vorwegzunehmen: Selbstverständlich gilt für PM Netanyahu die Unschuldsvermutung, bis die Urteilsfindung und –verkündung stattgefunden hat. Das kann noch Monate bis Jahre dauern. Darüber hinaus gibt es, auch das stellte GStA Mandelblit fest, für den PM keinerlei gesetzliche Verpflichtung, von seinem Amt zurückzutreten. Ob die Anklage einen Hindernisgrund darstellt, eine neue Regierung zu bilden, liess er noch offen.
Das Originalschriftstück, in dem die Absicht der Anklage auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, wurde dem Büro des PM am 28. Februar 2019 zugestellt. Der volle Text (englisch) kann hier nachgelesen werden. [das Datum in der Zeitung ist falsch, es handelt sich nicht um den 28 Februar 2018, sondern wie aus dem hebräischen Jahr 5779 ersichtlich wird um das Jahr 2019.]
Eine Petiton des Likud, die allgemeine Veröffentlichung zu verhindern, wurde vom Obersten Gerichtshof zurückgewiesen. Mit der zeitlichen Verzögerung sollte erreicht werden, dass es zu keiner negativen Beeinflussung der Wähler vor den bevorstehenden Wahlen am 9. April käme.
Bereits am 15. Mai gab PM Netanyahu bei einer Versammlung seiner Likud eine Erklärung ab. «Die Bürger von Israel verdienen einen fulltime PM. Ich werde mich um meine rechtlichen Dinge kümmern, wenn ich meine Zeit [als PM] vollendet habe. Die Bürger von Israel kennen meine rechtliche Situation und haben mich gewählt. Wenn ich auf meine bestmöglichen persönlichen Interessen fokussiert wäre, würde ich meinen Kampf mit dem Gesetz als PM und nicht als einfacher Bürger austragen, aber ich erkenne, dass dies nicht im Interesse des Staates ist.»
Netanyahu hatte also schon damals beschlossen, im Amt zu bleiben, um eine weitere Verfolgung für die Dauer seiner Regierungszeit zu vermeiden. Bei einem ehemaligen deutschen Bundeskanzler nannte man das Verhalten: Aussitzen eines Problems. Nun, auch der musste seinen Sessel räumen.
Hier strebt jetzt Gideon Sa’ar, der ewige Zweite des Likud das Erbe Netanyahus’ an. Er gilt als liberal-konservativ, lehnt die Zwei-Staaten Lösung ab, ebenso die Beteiligung der Vereinigten Arabischen Liste an einer Regierung. Auch eine Minderheitsregierung ist für ihn kein Thema. Sein kurzfristiges Ziel ist eine Vorwahl, in der über den neuen Parteivorsitz abgestimmt werden soll. Er wird sich der Wahl stellen. Sollte er gewinnen, wäre das der Moment, eine Grosse Koalition mit Blau-Weiss zu bilden. Ohne Netanyahu. Sollte er verlieren, so wäre es möglich, sich mit einigen Mitstreitern von Likud abzuspalten und eine neue Partei zu gründen. Nach dem Beispiel von Ariel Sharon, der im Jahr 2005 zusammen mit Tzipi Livni die neue Partei «Kadima» gründete und zu den Wahlen antrat und gewann. Die rasch aufeinanderfolgenden Schlaganfälle liessen Sharon amtsunfähig werden, Ehud Olmert übernahm interimistisch das Amt des PM.
Und was sagt der eigentliche Protagonist, PM Netanyahu? Er sieht sich nach wie vor als Opfer eine Intrige gegen ihn. Er sieht sich völlig zu Unrecht angeklagt. Weder Betrug, noch Bestechung, noch Vertrauensbruch, nichts von allem hätte er sich zu Schulden kommen lassen. Unmittelbar nach der Übertragung der Rede GStA Mandelblits’ trat auch er vor das Mikrofon. Wie in seinen vielen Stellungnahmen im Vorfeld lamentierte ein sichtlich angeschlagener und weit von seiner sonstigen Eloquenz entfernter PM.
„Wir (!) werden die Entscheidungen des Gerichts akzeptieren, keine Frage. Wir (!) werden, von Anfang bis Ende, in Übereinstimmung mit dem Gesetz handeln.“ Allerdings, so betonte er, die Untersuchungen gegen ihn seien nichts als eine Hexenjagd und Fehleinschätzungen, die nicht die Wahrheit in der Sache suchen, sondern nur gegen ihn gerichtet seien. „Das bedeutet aber auch, dass die, die sich nicht an die Grenzen des Gesetzes gehalten haben, sei es bei der Polizei oder bei den Staatsanwälten, ebenfalls untersucht werden müssen. Man muss sich darum kümmern und eine entsprechende Korrektur muss gemacht werden.“
So spricht nur einer, der den Bezug zur Realität verloren hat, zumindest partiell.
Wenn er auch das Amt des interimistischen PM behalten darf, so wird er doch seine Ministerämter zurücklegen müssen. Das sind derzeit: Ministerium für Fragen der Diaspora (seit 28.10.19), Gesundheit (seit 28.11.17), Arbeit und Soziales (seit 15.11.19) und Landwirtschaft (seit 15.11.19). Warum es zu einer solchen Anhäufung an Ämtern kam, liegt in der Rechtsvorschrift, die besagt, dass der amtierende PM jedes freiwerdende Ministeramt übernimmt…… Kein Wunder, dass ihm da kaum noch Zeit zum Regieren blieb!
Im Übrigen wünsche ich dem wirklich einst hochgeschätzten und hervorragenden PM, der nicht einsehen will, dass seine politische Amt Zeit sich dem Ende nähert, den Galgenhumor eines König Friedrich August III. von Sachsen der sich nach seiner Abdankung mit den Worten „Nu da machd doch eiern Drägg alleene!“ in den Ruhestand verabschiedete.
Von Esther Scheiner
Esther Scheiner ist Journalistin und Redakteurin der Israel Nachrichten. Sie lebt und arbeitet in Israel und der Schweiz.
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