Ich fasse zusammen: Blau-Weiss hat 33 Sitze gewonnen, Likud hat, nachdem sie durch die Nachzählungen den Orthodoxen einen Sitz dazu bekamen, 32.
Wer ist somit die stärkste Fraktion? Richtig, wenn auch sehr knapp, Blau-Weiss.
Das ist die eine Seite der Medaille.
Die Vereinte arabische Liste wollte bei Präs. Rivlin mit ihren 13 Sitzen für Gantz & Co stimmen. Was sie auch tat. Zunächst. Um am folgenden Tag zu erklären, dass drei Mitglieder sich dieser Empfehlung nicht anschliessen konnten oder wollten. Die ziemlich klein gewordenene Arbeiterpartei mit 6 und die neue Partei um Ehud Baack mit 5 Sitzen brachten insgesamt 54 pro Gantz Stimmen
Für Netanyahu votierten, wie nicht anders zu erwarten war, die rechten und ultra-religiönen Parteien. Mit 23 Stimmen. Der rechte Block darf sich somit über 55 Sitze freuen.
Die Stimmen von Ysrael Beytenu (8) und den zurückgezogenen arabischen Stimmen (3) sind derzeit für die Entscheidung von Präs. Rivlin verloren. Beide Gruppen gaben kein Votum ab.
Bis zum zweiten Oktober, also am Tag nach unserem Neujahrsfest, muss der nun bekanntgeben, wen er mit dem Versuch einer Regierungsbildung betreuen will.
Fiele Lieberman um, und würde sich wieder auf die Seite Netanyahus schlagen, wäre die Sache einfach. Der strahlende Sieger wäre wieder Netanyahu. Lieberman könnte erneut pokern und das Verteidigungsministerium für sich beanspruchen und wohl auch bekommen. Und alles würde beim Alten bleiben. Nentanyahu könnte eine Regierung bilden, die auf 63 von 120 Sitzen basiert.
Ohne Liebermann aber geht gar nichts. Weder rechts, noch links. Also kommt jetzt eine Grosse Koalition als Problemlöser? Das wird wohl auch nichts werden. Hier der Versuch einer einfachen Erklärung:
Vor diesem Dilemma steht nun Präs. Rivlin. Wer auch immer bei den Gesprächen nachgibt, er wird sein(e) Wahlversprechen damit brechen müssen. Und das bei sehr grundsätzlichen, existenziellen Themen. Die enttäuschten Wähler werden sich das gut merken und bei den kommenden Wahlen, die eigentlich schon am Horizont auftauchen, entsprechend quittieren.
In den letzten Tagen, in denen zwar die grundsätzlichen gegenseitigen Beschimpfungen zwischen den verfeindeten Lagern etwas abebbten, las man dafür vermehrt in online Zeitungen und Foren, dass es ohne „Bibi“ in Israel doch gar nicht mehr ginge. Man lobte und pries seine aussenpolitischen Erfolge, die relative Ruhe im Land, und natürlich auch seine hervorragende Innenpolitik.
Ein Blick auf die OECD Werte zeigt, dass Israel keinesfalls das Klassenprimusland ist, als das die Freunde Netanyahus es so gerne hinstellen.
Was also hat er getan, damit nicht Tausende von Kindern tagtäglich ohne Frühstück in den Kindergarten oder in die Schule gehen müssen? Was hat er getan, damit die Altersarmut, die in den kommenden Wochen zur Zeit der Hohen Feiertage wieder sichtbar wird, gelindert wird? Was ist mit einem menschenwürdigen Leben der Shoa Überlebenden? Was ist mit geschehen, um das Bildungsniveau, das einmal so hoch war, wieder auf ein Normalmass zu bringen? Wie schaut es mit es medizinischen Versorgung aus? Was ist mit der facto Gleichstellung von Minderheiten? (De jure gibt es keine Unterschiede!) Was ist mit dem öffentlichen Transport am Shabbat und an den Feiertagen? Was ist mit der Militärpflicht für orthodoxe Männer? Da hat sich nichts bewegt!
Und aussenpolitisch? Sein bester Freund Trump hat sich seit den Wahlen nicht mehr gemeldet. Die Verlegung der US Botschaft nach Jerusalem und die Anerkennung des Golan haben nur einer Sache gedient: Der Pflege des Egos von zwei Narzissten namens Trump und Netanyahu. Aussenpolitisch waren sie ohne Bedeutung. Dafür klebt Netanyahu nun an Brasiliens Präsident Yair Bolsonaro, der als rechtsextrem und faschistisch eingestuft wird, und dem mordsüchtigen philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte. Beide Politiker werden von Präs. Trump geachtet, was vielleicht auch der Grund für Bibis Annäherung an sie sein mag.
Und ansonsten? Die Friedensverhandlungen liegen seit Jahren brach, Jordanien hält sich zwar noch an die Vereinbarung, wie lange König Abdallah dies aber aufrechterhalten kann, ist fraglich. Unruhen drohen im Norden von der Hisbollah und im Osten von Syrien, dem Iran und dem Irak. Hamas zündelt immer wieder aus dem Gaza Streifen. Sicherheitspolitische Erfolge sehen anders aus.
Eines muss man ihm zu Gute halten. Er ist ein blendender Rhetoriker, spricht fliessend Englisch und versteht es, sich grandios in Szene zu setzen. Aber was haben seine Auftritte vor der UNO und ihren Gremien bewirkt? Nichts, gar nichts! Nach wie vor kassiert Israel jede Verurteilung, die es zu kassieren gibt. Aussenpolitische Erfolge? Die sucht man vergebens.
Die Aera Netanyahu war eine, in der wir geblendet waren von Mr. Showbusiness. Wir haben ihn geliebt, weil er, bevor er Politiker wurde, ein wirklich sehr guter Soldat war. Diesen Erfolg kann ihm niemand nehmen.
Lylian Wilder, ein aussergewöhnlicher Sprachcoach hat ihn so lange geschliffen, bis er nahezu perfekt war. Nichts blieb dem Zufall überlassen.
Ich mag jetzt nicht über die Gesetzte schreiben, die Netanyahu in seiner kommenden Amtszeit vom Start weg durchboxen wird. Nicht über das Nationalitätengesetz, das dringend wieder vom Tisch muss, nicht über die Annexion von Judaea und Samaria, nicht über das Gesetz zur Begrenzung der Zahl von orthodoxen Jugendlichen in der IDF, noch über das neue Baugesetz in Judaea und Samaria, ich will nicht sprechen über das Gesetz, dass ihn auch als einfachen Abgeordneter gegenüber der Gerichtsbarkeit immun macht. Als PM hingegen ist er geschützt. Ein Grund mehr, dass er so an seinem Sessel klebt.
Es wird nicht soweit kommen. Auch wenn Präsident Rivlin ihn bereits gestern am Mittwoch Abend mit der Regierungsbildung beauftragt hat, was ich absolut nicht nachvollziehen kann, so wird es ihm nicht gelingen, eine Regierungsmehrheit zu finden.
Stellt man Netanyahu und Gantz nebeneinander, was wohl in den kommenden Wochen und Monaten häufiger der Fall sein wird, so wird Netanyahu wie ein an Leuchtkraft verlierender Meteorid wirken und Gantz‘ Strahlen wird leuchtender werden. Er hat alle Chancen, auch als Nummer zwei sich zu positionieren und stärker zu werden.
Eines ist sicher: Nach den Wahlen ist vor den Wahlen.
Von Esther Scheiner
Esther Scheiner ist Journalistin und Redakteurin der Israel Nachrichten. Sie lebt und arbeitet in Israel und der Schweiz.
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