Shimon Nebrat ist in seiner, ich möchte es fast schon Schmähschrift gegen die deutsche Regierung nennen, weit über das Ziel hinaus geschossen.
Die von ihm zitierte Textstelle «…Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann…» ist Teil der im Jahr 2016 verabschiedeten Arbeitsdefinition der «International Holocaust Allianz» (IHA) und lautet im Volltext: «Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.»
Wie sensibel und ganz und gar nicht selbstverständlich der Umgang mit Juden und Israel ist, zeigt sich hier darin, dass das Papier als Arbeitsdefinition und nicht einfach als Definition bezeichnet wird.
Genau hierin liegt eine Problematik von NGOs, Linken und Rechten und nicht genauer zu fassenden Antisemiten (zu denen auch durchaus selbsthassende Juden gerechnet werden müssen!). Jedem halbwegs klar denkenden Menschen wird klar sein, dass die Aussage «Juden beherrschen die Medienwelt»antisemitisch ist. Aber was ist mit der Aussage «Die israelische Regierung müsste es doch besser wissen, und trotzdem verhält sie sich den Palästinensern gegenüber wie die Nationalsozialisten sich gegenüber den Juden verhalten haben.» Diese Aussage wird oft auf Zustimmung treffen, vor allem bei Menschen, die mit Juden und/oder Israel als Staat ein Problem haben. Also ist das nicht antisemitisch? Doch, für Juden und Israelis ist das sogar eine besonders schlimme Form des Antisemitismus. Um hier die Bewertung durch Dritte, aber auch durch Polizei und Gerichte einfacher zu machen, steht im Arbeitspapier «Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden…»Hingegen wird die Aussage, dass die Armutsrate der Bevölkerung in Israel die höchste innerhalb der OECD ist nicht antisemitisch (und noch dazu eine furchtbare Erkenntnis)
Grundlage dieser Arbeitsdefinition ist ein Papier, dass anlässlich des Stockholm Forums im Jahr 2000 als «Stockholm Erklärung» der Öffentlichkeit vorgestellt wurde und das demonstrative Beispiele aufführt.
Der «Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus» hat in der Folge einen umfangreichen Bericht zum Thema «Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklung» veröffentlicht. Logistisch und finanziell wird der Arbeitskreis vom BM für Inneres unterstützt, arbeitet aber unabhängig und selbstständig.
Hätte sich Shimon Nebrat die Mühe gemacht, etwas genauer nachzulesen, bevor er behauptet, die Politiker hätten «…den Antisemitismus mit einem Federstrich von sich gewiesen, ihn als ein menschliches Gefühl abgetan und auf regierungskritische politische Bevölkerungsgruppen abgewälzt.» Das Gegenteil ist passiert, man hat versucht, möglichst breit aufgestellt und über alle Parteien hinweg in nationalen und internationalen Gremien eine gemeinsame Sprache zu finden. Und das ist recht gut gelungen, wenngleich auch in der Anwendbarkeit und Umsetzung etwas blauäugig.
«Es ist wissenschaftlich erforscht und für jeden gebildeten Menschen klar nachvollziehbar, dass die vor 3300 Jahren entstandene und seitdem kontinuierlich fortbestehende feindselige Ablehnung des Judentums, bekannt als Antisemitismus, keine Wahrnehmung und kein Gefühl von Einzelpersonen ist, sondern eine Ideologie. Diese Ideologie ist uralt und hat das Ziel, das Judentum zu vernichten.»Spätestens jetzt wird es klar, dass Shimon Nebrat ein in seiner eigenen Gedankenwelt verhafteter ist, die er sich selbst zusammenfantasiert und versucht, als richtig und politisch korrekt zu vertreten. Und von der er glaubt, dass sie eine berechtigte Kritik an der deutschen Politik darstellt.
Zu dieser Zeit lag die Versklavung in Ägypten bereits hinter unserem Volk, wir hatten die Thora und die Gesetze erhalten und waren dabei, uns von einem lockeren Stammesverband zu einem vereinten Königreich zu wandeln. Und warum sollte es uns dabei anderes ergehen, als allen Stämmen, die versuchten, Land für sich zu sichern? Jeder schaut auf sich und seinen Vorteil, aber Antisemitismus?
586 BCE wurde der erste Tempel durch die Babylonier und nach dessen Wiederaufbau im Jahr 70 CE der zweite Tempel durch die Römer zerstört. Gewalttaten gegen das Volk Israel, ja, unbestreitbar, aber Antisemitismus?
Erst mit der Ausbreitung des Christentums begann die Ausformung des systematischen Antisemitismus. Juden = Christusmörder, Juden glauben nicht an Jesus als Messias, sind also blind und verstockt. 381 CE wurden die ersten antijüdischen Gesetze erlassen, die aus Juden eine zwar geduldete, aber diskriminierte Minderheit machten. In Rom, in Frankreich, in ganz Europa. Der klassische Antisemitismus war geboren. Und er bekam viele Gesichter.
Aber Antisemitismus deshalb gleich als Staatsideologie bezeichnen? Allein den Begriff auf ein demokratisches Land wie Deutschland anzuwenden zeigt die politische Ignoranz des Schreibers. Marx und Engels entknebelten dem Begriff aus den Zwängen von Napoleon. «Ideen und Weltbilder, die sich nicht an Evidenz und guten Argumenten orientieren, sondern die darauf abzielen, Machtverhältnisse zu stabilisieren oder zu ändern.» Was für Naturwissenschaften heute gilt, gilt aber noch lange nicht für Gesellschaftswissenschaften, da hatte Marx leider unrecht.
Wenn ein Staat heute von jedem Bürger verlangt, seiner Ideologie zu folgen, so kann er nicht demokratisch sein. Deutschland ist aber ein durch und durch demokratischer Staat.
Ja, es gibt antisemitische Strömungen. In Deutschland und weltweit. Aber der Antisemitismus hat uns weder zu «Ersatzjuden» noch zu «Hofjuden» gemacht. Wir sind nach wie vor jüdische Europäer oder europäische Juden, wir sind stolz darauf und verstecken uns nicht.
Wir sind sicher, dass die Mechanismen der Aufklärung und der Bildung, der Weitergabe unserer Geschichte ausreichen, um das Judentum in Deutschland und in Europa lebendig zu erhalten.
Von Esther Scheiner
Esther Scheiner ist Journalistin und Redakteurin der Israel Nachrichten. Sie lebt und arbeitet in Israel und der Schweiz.
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Ein Kommentar zu: Antisemitismus in Deutschland – eine Erwiderung
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