Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich beabsichtigten bereits im September des Jahres 1939 alle Juden der ehemaligen polnischen Westprovinzen in ein Gebiet jenseits der Weichsel abzuschieben; – die deutschen, österreichischen und tschechischen Juden sollten recht schnell folgen, ebenso Sinti und Roma. Einige Wochen später sahen sich die Nazi-Verbrecher gezwungen, ihr Vorhaben mit der Umsiedlung der Balten-Deutschen in Einklang zu bringen. Es kamen somit Aufgaben auf sie zu, die vorrangig zu erledigen waren. Aus diesem Grunde musste Adolf Eichmann die Deportation von Juden aus Wien, Mährisch-Ostrau und Kattowitz abbrechen, mit der er gerade erst begonnen hatte.
Trotzdem hielten Himmler und Heydrich daran fest, wenigstens die Juden aus den „eingegliederten Ostgebieten“ – immerhin schon eine halbe Million Menschen – innerhalb eines Zeitraumes von einigen Wochen nach „Restpolen“ umzusiedeln. Als auch dies nicht in ihrem Sinne „funktionierte“, fanden sie eine andere Lösung: Sie vergrößerten das geplante Ausmaß schneller ethnischer Säuberung linear, und sie planten die sofortige Verschiebung von rund einer Million Menschen innerhalb von nur vier Monaten; – „bis Februar 1940..!“ Am 8. November 1939 sprach der in Krakau zuständige Höhere SS- und Polizeiführer, Friedrich Wilhelm Krüger, sogar davon, „dass in täglich stattfindenden Transporten von 10.000 Personen 600.000 Juden aus den Ostgauen und demnächst auch alle Juden und Zigeuner aus dem Reichsgebiet in das Generalgouvernement geschafft werden sollten.“
Obgleich alle Juden aus den von der deutschen Wehrmacht annektierten Ostgebieten mit Beginn des „zweiten Nahplans“ quasi kaum noch vertrieben wurden, verschlechterte sich ihre Lebenssituation dramatisch. Die Deutschen – ob Zivilbehörden oder das Militär, eingeschlossen SS- und Polizeiverbände – behandelten die Juden bei der Abschiebung in das Generalgouvernement unterschiedlich, insbesondere hinsichtlich der materiellen Enteignung: Sie traf mit voller Wucht die jüdische Bevölkerung von den ersten Tagen der Besatzung an. Die generelle Enteignung der Juden, der Raub ihrer gesamten finanziellen Mittel, ihres Hausrates, ja, selbst ihrer Kleidung gehörte zu den materiellen Voraussetzungen des gesamten „Deportations-Programms.“
Diese Enteignungen wurden von der Haupttreuhandstelle Ost ausgeführt, also von jener Institution, die Hermann Göring zum Zweck der Bereicherung und der wirtschaftlichen Sanierung der neuen Ostgebiete sowie des Vermögensausgleichs für die „volksdeutschen Umsiedler“ geschaffen hatte. Tatsächlich jedoch verbrauchte Göring die Einnahmen aus dem „Umsiedlergeschäft der Volksdeutschen“ für die deutsche Kriegskasse und zur „Überwindung von Versorgungsengpässen für die deutsche Bevölkerung.“
Die Umsiedlerfamilien wurden fast ausschließlich mit dem Vermögen der Juden und Polen, später auch das der Franzosen und Slowenen „entschädigt“. Am Ende waren die Enteigneten die „überflüssigen Esser“, also „eine Belastung für den Haushalt des Deutschen Reiches.“
Damit war ein zusätzlicher Punkt für die Vertreibung, später für die Vernichtung von Menschen; – in der Hauptsache Juden, geschaffen. Den Juden raubten die Nazi-Funktionäre der Haupttreuhandstelle Ost und der „Deutschen Umsiedlungs- und Treuhandgesellschaft m.b.H“ den Besitz in seiner Gesamtheit, und zwar sofort. Daraus bildeten sie Finanzreserven, zahlten sogenannte Handgelder und Aufbaukredite, finanzierten den gesamten Umsiedlungsapparat und teilten die jüdischen Handwerksbetriebe und Fabriken, soweit sie nicht wegen mangelnder Produktivität liquidiert wurden, entsprechenden „volksdeutschen Umsiedlern“ zu.
Anders als für die meisten Polen war jedoch die Enteignung der Juden nicht von der konkreten „Aussiedlung“ abhängig; – sie wurde im Vorgriff praktiziert. Das bedeutete, die Juden – und nur sie – wurden fast all ihrer Subsistanzmittel beraubt, wurden somit zur „überzähligen, unproduktiven Bevölkerung“, blieben aber in Ermangelung von Möglichkeiten zur Deportation zunächst im Lande. Und so entstand die materielle Basis für das Bild vom „verdreckten, herumlungernden, jüdischen Schleichhändler.“
Im März des Jahres 1940 stand fest, dass es kein „Judenreservat Lublin“ geben werde und damit keine konkrete Möglichkeit zur Abschiebung für die Juden im Warthegau. Stattdessen schlossen die Deutschen am 30. April 1940 das jüdische Ghetto in Lodz. Damals verfügten die lokalen Behördenleiter über „die feste Zusage“, dass bis zum 1. Oktober 1940, also binnen fünf Monaten, „die Juden aus dem <Ghetto Litzmannstadt> vollständig beseitigt“ wären. Aber schon in den folgenden Wochen sollte sich ein solches Nazi-Ziel als Illusion erweisen. Die Organisatoren der Deportation betrachteten die Ghettos als Provisorien, als eine Art massenhafter Abschiebehaft, die sofort beendet werden sollte, wenn sich die ursprüngliche Aussiedlung umsetzen lassen würde.
In der Umkehr sollte die Ghettoisierung selbstverständlich Druck auf andere beteiligte, aus technischen Gründen oder zuwiderlaufenden Eigeninteressen noch zögernde Behörden erzeugen, die Deportationen schnell und ohne jede Rücksichtnahme zu organisieren. Nachdem der Plan zur Bildung des „Judenreservates Lublin“ gescheitert war, mussten die Nazi-Organisatoren der „Umsiedlung“ eine andere Lösung für die Probleme finden, die sie jedoch selbst erzeugt hatten. Für das Stichwort „Judenreservat Lublin“ entstand bald die „insulane Lösung Madagaskar“, für „Madagaskar“ wenig später: „Abschiebung in ein noch zu bestimmendes Territorium.“
Heydrich brachte am 14. Juni 1940 im Sinne der inneren Logik dieses Prozesses von Umschichtung, Verdrängung, An- und Aussiedlung gegenüber Ribbentrop vehement die „territoriale Endlösung“ ins Gespräch. Er begründete sie mit dem Hinweis, dass „das Gesamtproblem der rund 3.250.000 Juden“ im deutschen Herrschaftsbereich „nicht mehr durch Auswanderung gelöst werden könne.“
Weiter hieß es seinerseits im August 1940: „Nach Hinzukommen der Massen des Ostens ist eine Bereinigung des Judenproblems durch Auswanderung unmöglich geworden. Auch könne die Lösung des jüdischen Problems im Reichsgebiet einschließlich des Protektorats Böhmen und Mähren im Wege der Auswanderung in absehbarer Zeit schwer zum Ende geführt werden.“
Nachdem dies der Wehrmacht zugetragen wurde, meldete sie ihre Interessen an: Die Führung von Heer und Luftwaffe verlangte die Aussiedlung von Hunderttausenden von Menschen zur „Freimachung“ riesiger Truppenübungsplätze, Sicherungslinien und Brückenköpfe. Es war „erwünscht“, so die Planungen bereits vom Januar 1940, „möglichst 50 Kilometer im Umkreis militärischer Anlagen nur Volksdeutsche, – jedenfalls keine Juden und Polen -, anzusiedeln!“ Diese Forderungen, besser gesagt Wünsche, implizierten die Aus- und Ansiedlung von mehr als einer Million Menschen.
So ähnlich sie auch sein mochten, kollidierten die Vorstellungen des Militärs mit den Umsiedlungsplanungen Himmlers: Die Forderungen der „Großdeutschen Wehrmacht“ verkleinerten die ohnehin schon reduzierten Möglichkeiten des Generalgouvernements, die Evakuierten aus den ins Reich „eingegliederten Ostgebieten“ unterzubringen; – und zugleich erhöhten die Militärs selbst den Druck zur schnellen Aussiedlung, da sie nicht nur im Generalgouvernement, sondern auch in den eingegliederten Ostgebieten vollkommen überdimensionierte Truppenübungsplätze anlegen wollten und zum Teil auch späterhin anlegten! Wie das Scheitern des Projektes „Judenreservat Lublin“ zur Ghettoisierung der Juden von Lodz geführt hatte, so führte das Scheitern des „Madagaskar-Planes“ im Spätherbst des Jahres 1940 zur Ghettoisierung der Warschauer Juden.
Diese wurde am 15. November 1940 abgeschlossen. Zuvor hatte Hans Frank die Angelegenheit zwei Mal aufgeschoben: am 8. März 1940 im Hinblick darauf, dass der Distrikt Lublin „zum Sammelbecken aller Juden“ werden sollte. Nachdem dieser nie ganz ernsthaft verfolgte Plan wenige Tage später offiziell „zu den Akten“ gelegt worden war, begannen die örtlichen Besatzungsbehörden am 9. Mai 1940 erneut damit, die Einschließung der in Warschau lebenden Juden vorzubereiten. Anfang Juli 1940 stoppte Frank die Arbeiten an der Ghettomauer, weil Hitler die Absicht hatte, „die Juden nach Ende des Krieges in Madagaskar anzusiedeln“.
Und wie es weitergeht erfährt die Leserschaft der Israel Nachrichten – trotz Sperrung im Facebook (Abteilung Deutschland) – in der nächsten Ausgabe.
Von Rolf von Ameln
Rolf v. Ameln ist Buchautor, sowie IN-Korrespondent in Deutschland und Spezialist für Themen der Zeitgeschichte. Er schreibt seit 25 Jahren für die Israel-Nachrichten.
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