Die „Erinnerungen“ von Krankenschwestern enthielten wertvolle Informationen über weibliche Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, aber sie konnten auch irreführend sein. Wie war es möglich, dass Anni Schreiber detailliert über Zahnschmerzen klagen konnte oder eine Mahlzeit, die sie im Jahre 1944 in Polen zu sich genommen hatte? Das beschrieb sie einem alliierten Vernehmungsoffizier, konnte sich jedoch nur vage erinnern, was es mit einem einzelnen Partisanen auf sich hatte, der in der Klosterkirche des Feldlazaretts von Wehrmachtssoldaten erschossen wurde. „Es konnte nie geklärt werden, wer er war und was er geplant hatte“, schrieb sie im Fragebogen nieder und weiter: „In diesem Krieg gab es so viele Unklarheiten auf beiden Seiten.“
Dieser moralische Relativismus und diese Verdrängung und „Gedankenlosigkeit“ spiegelten das Denken in der Nazi-Diktatur und in den Jahren nach Kriegsende wieder. Wie erklärten Krankenschwestern, die auf der Anklagebank saßen, ihre Motive und ihre Gewalttaten? Vor alliierten sowie später auch deutschen Gerichten beriefen sie sich oftmals wieder auf ihre Ausbildung als „Pflegekräfte“ (!), um damit offensichtlich ihre „guten Absichten“ zu beweisen. Wiederholt gaben sie an, dass sie nur ihre Pflicht getan hätten. In den Untersuchungen nach dem Kriege in der polnischen Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde – Polen – erklärte eine Schwester dem deutschen Gericht, ihr Vorgesetzter, ein Arzt und Leiter der Anstalt, habe von ihr und den anderen jungen Schwestern verlangt, bei den tödlichen Injektionen zu assistieren. Sie behauptete, sie habe sich zunächst geweigert, aber der Leiter der Anstalt habe ihr gesagt, das gehe nicht; – als „langjährige Beamtin habe sie ihre Pflicht zu erfüllen, ganz besonders in Kriegszeiten.“
„Dann“, gab sie zu Protokoll, „versuchte er, mich an meiner weichen Seite zu packen und versicherte, die Spritzen würden dem Leiden der Patienten ein Ende bereiten, Sei denn nicht das, was sie auch wünsche, nämlich ihren Patienten Linderung zu verschaffen?“ In der Vernehmung vor Gericht beharrte die Krankenschwester darauf, sie habe nur getan, was man von ihr erwartet hatte. Eine Schwester, der man zum Vorwurf machte, in Polen Patienten vergiftet zu haben erklärte, „dass ich einen Diebstahl nie begangen hätte. Ich weiß, dass man so etwas nicht tun darf. In der schlechten Zeit war ich Verkäuferin und ich hätte damals leicht die Gelegenheit dazu gehabt. Aber so etwas habe ich nie getan, weil ich einfach wusste, dass man das nicht tun darf. Schon als Kind habe ich gelernt: Du darfst nicht stehlen..!“ Eine andere Rot-Kreuz-Schwester gab zu Protokoll: „Die Verabreichung von Medikamenten und sei es auch zur Tötung von Geisteskranken gewesen, sah ich allerdings als eine mir obliegende Dienstpflicht an, die ich nicht verweigern durfte.“
Diese beiden Krankenschwestern hielten sich nicht für Verbrecherinnen. Die eine war gut erzogen und hatte gelernt, dass Diebstahl ein Vergehen war. Die andere wiederum war der festen Überzeugung, dass es kein Verbrechen war, seine „Pflicht“ zu tun, selbst wenn diese „Pflicht“ darin bestand, andere Menschen vom Leben in den Tod zu befördern.
Neben bevorzugten Werkzeugen der Gewalt, – Injektionsspritzen, Reitpeitsche, Schusswaffe -, einer leidenschaftlicher Hingabe an die ideologische Sache der Nazis, einer amoralischen Auffassung von Pflicht sowie Loyalitäts- und Verschwiegenheitsverpflichtungen hatten deutsche Täter und Täterinnen auch noch etwas anderes gemeinsam: eine ähnliche Psychologie der Leugnung und Verdrängung. Wurden sie mit den begangenen Verbrechen konfrontiert, kamen immer die gleichen Standardantworten: „Ich weiß nicht mehr, ich weiß nichts darüber, ich kann mich an nichts erinnern. Ich musste Befehle ausführen, oder: Ich war auf Heimaturlaub.
Ich habe von anderen von bestimmten Aktionen gegen Juden gehört, aber selbst keine Juden gesehen. Als ich an meinem Einsatzort ankam, waren alle Juden weg.“
Weibliche Angeklagte wussten um die Aussagen der Männer, sie waren in der Kunst der verbalen Selbstverteidigung sehr versiert und entwickelten darüber hinaus ganz eigene Strategien zu ihrer Verteidigung. Natürlich wird jemand, der von einem Staatsanwalt oder einem Ermittler zu einem schweren Verbrechen befragt wird, vorsichtig sein und eine eventuelle Bestrafung, so gut es geht, vermeiden wollen. Aus Angst und Verzweiflung, um sich selbst zu retten und der Familie Scham und Last zu ersparen, wird so jemand mit allen Mitteln lügen, insbesondere, wenn die Tat räumlich und zeitlich fern des Prozesses begangen wurde und aus diesem Grund nur schwer zu beweisen war.
Viele deutsche Frauen hatten gelogen, dass sich die Balken bogen! War es also wirklich überraschend, dass von den mehr als 300.000 Deutschen und Österreichern, gegen die überall in Europa nach dem Krieg ermittelt wurde, nur ganz, ganz wenige gestanden hatten? Eine gewisse Erna Petri hatte ihre Morde jedoch nie geleugnet und sich auch nicht zum „Opfer des Nationalsozialismus“ stilisiert, aber sie hat ihre Taten den Umständen der Zeit zugeschrieben; – nicht zuletzt dem Einfluss ihres Mannes, der ohne Zweifel ein brutaler Mensch war. Als sie erklären sollte, warum sie selbst – höchstpersönlich – jüdische Männer und Kinder erschossen hatte, gab sie zu Protokoll: „Zur damaligen Zeit, als ich die Erschießungen vornahm, war ich erst 23 Jahre alt, noch jung und unerfahren. Ich lebte nur unter Männern, die bei der SS waren und Erschießungen jüdischer Menschen durchführten. Mit anderen Frauen kam ich nur selten zusammen, so dass ich im Laufe der Zeit immer mehr abstumpfte. Um den SS-Männer nicht nachzustehen und ihnen zu zeigen, dass ich als Frau ebenso handeln kann wie sie, habe ich die vier Juden und die sechs jüdischen Kinder erschossen. Ich wollte mich eben gegenüber den Männern groß tun. Außerdem wurden zur damaligen Zeit in dieser Gegend überall wo man hinhörte, jüdische Menschen und Kinder erschossen, was ebenfalls bei mir zu meiner Handlung führte.“
Wenn auch Frau Petri ihre Rolle als SS-Frau betont, sollte dann nicht folgerichtig ihr Mann als „Anstifter“ einen Teil der Schuld übernehmen? Nachdem die Staatssicherheit der DDR Frau Petri zu einem Geständnis gezwungen hatte, sagte sie dann auch aus, sie habe ihre Taten bei früheren Vernehmungen vehement geleugnet, weil sie davon ausgegangen war, dass ihr Mann sie decken würde. Leider habe er dies nicht getan.
Fest steht: Im „Dritten Reich“ war der Antisemitismus offizielle Staatsideologie, was zu seiner starken Stellung noch zusätzlich beitrug. Er wurde zu einem bestimmenden Element des Reiches, drang tief in das Alltagsleben ein, beeinflusste berufliche und intime Beziehungen und sorgte für eine verbrecherische Politik der Nazi-Regierung. Später, als im Krieg die Front immer näher rückte, inmitten des Kampfes gegen „Partisanen“ und des Holocaust versuchten die Vertreter des NS-Regimes zusammen mit ihren Frauen und ihren Mitarbeiterinnen, die rassistische, imperialistische Mission des Nationalsozialismus weiter zu verfolgen, und setzten zum Zwecke der Kontrolle vor allem auf ein Instrument: Gewalt!
Es kann möglich sein, dass der Osten eine Männerwelt war, aber auch Frauen konnten sich leicht den Verhältnissen anpassen und ihre dortigen Handlungen und Taten vehement begründen. Es gibt leider nur wenige Aufzeichnungen von deutschen Frauen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, in denen sie ihre Ansichten über Juden und den Holocaust artikulierten. Häufiger fand sich ein kolonialistischer Diskurs darüber, wie dumm, dreckig und faul die „Einheimischen“ waren, also die Polen, Ukrainer und die Juden, oder versteckte Hinweise auf die finstere Gegend, die von „Bolschewisten“, „Kriminellen“ und „Partisanen“ verseucht sei, oder auf den infantilisierten Einheimischen, der schlau, aber minderwertig und damit entbehrlich sei. In ihren Berichten, – sowohl vor Gericht als auch in ihren Memoiren -, versuchten deutsche Frauen, den Holocaust und das Ausmaß, in dem er durch ihren eigenen Antisemitismus befeuert worden war, so wenig wie möglich zu erwähnen. Sie redeten von der „Judensache“ während des Zweiten Weltkrieges oder sagten, es seien „nur ein paar Juden erschossen worden“, oder erklärten, die Juden „wollen sich nun an uns rächen.“
Die spätere Begnadigung der Täter war möglicherweise ein Akt der politischen Klugheit, der dazu beitrug, die Bundesrepublik Deutschland in das westliche Verteidigungsbündnis zu integrieren. Doch für konservative Deutsche, Nazis und Neo-Nazis wirkten die alliierten Amnestien wie eine Bestätigung der angeblichen Opferrolle und Vorurteile. Deutsches und jüdisches Leid miteinander zu vergleichen und den Juden die Schuld für den Krieg zuzuschieben war mehr als nur eine Strategie der Verteidigung, mit der Nazi-Verbrechen geleugnet und entschuldigt werden sollten. Die mit diesen Strategien verbundene Leugnung des Holocaust entstand nicht erst in den Gerichtssälen der Nachkriegszeit, sondern wurzelt in der Ideologie des „Dritten Reiches“. Die meisten Täter des Nazi-Regimes und ihre Komplizen – und sogar viele Augenzeugen der begangenen Verbrechen, die verdrängten, was sie einst sahen -, konnten keine Empathie für die Juden aufbringen; – weder während des Zweiten Weltkrieges noch danach. Und auch jetzt, im Jahre 2019, verspüren wir in ganz Europa einen wachsenden Rechtsruck in der politischen Landschaft sowie einen wachsenden Antisemitismus; – der wohl nie aussterben wird.
Von Rolf von Ameln
Rolf v. Ameln ist Buchautor, sowie IN-Korrespondent in Deutschland und Spezialist für Themen der Zeitgeschichte. Er schreibt seit 25 Jahren für die Israel-Nachrichten.
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