Im August 2014 verübte die Terrormiliz „Islamischer Staat“ einen Völkermord an den Eziden im Nordirak. Viele Überlebende konnten sich ins nahe Sindschar-Gebirge retten. Noch immer leben etwa 30.000 Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen in den Bergen Nordiraks, weitere 400.000 sind seit Jahren in Flüchtlingscamps untergebracht. Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, sprach mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Eziden in Deutschland Dr. Irfan Ortac über den Völkermord an den Jeziden, die Verwendung deutscher Entwicklungshilfen und über die Frage, warum Camps keine Fluchtalternative sind.
Herr Dr. Ortac, der Titel Ihrer Doktorarbeit lautet: „Der Demokratisierungsprozess Irakisch-Kurdistans“. Welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?
Demokratie ist für mich nicht nur ein politisches System, sondern eine Lebenseinstellung. Der Politologe Theodor Eschenburg hat einmal sinngemäß gesagt: „Mit den Gemütsdemokraten kann ich überhaupt nichts anfangen.“ Da hat er in der Tat Recht! Demokratie muss zu einer Lebenseinstellung werden.
Das Grundgesetz und vor allem seine ersten 19 Artikel bilden das demokratische Wertefundament unserer Gesellschaft. Im Artikel 1 steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sie zu schützen ist die Verpflichtung der staatlichen Gewalt, sie zu achten ist Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger.
Einen wahren Demokraten erkennt man daran, dass er nicht nur Anspruch auf seine eigenen Rechte erhebt, sondern sich auch für die Rechte derer stark macht, die keine Stimme haben. Das ist mein Lebensinhalt und der Grund, warum ich mich tagtäglich und ehrenamtlich für die Menschen einsetze, die ihr Leben nicht in Würde leben können.
Der Genozid an den Eziden im Nordirak hat tausende Opfer gefordert. Viele überlebten nur, weil sie sich ins Sindschar-Gebirge retten konnten. Unter welchen Bedingungen leben Eziden derzeit im Nordirak?
Über Genozide im Allgemeinen habe ich während meines Studiums und im Rahmen meiner Forschung immer wieder gelesen. Ein Völkermord im 21. Jahrhundert und in diesem Ausmaß lag jedoch weit außerhalb meiner Vorstellungskraft. Aber es ist passiert!
Die gesamte ezidische Gemeinschaft ist auf der Flucht. Die komplette Infrastruktur ist zusammengebrochen, die gesellschaftlichen Strukturen sind zusammengebrochen. Diejenigen, die den Genozid überlebt haben, konnten sich ins nahe Sindschar-Gebirge retten. Zum Glück haben Amerikaner und Europäer schnell reagiert, sonst wären die Menschen dort nach wenigen Wochen verhungert oder verdurstet.
Ich weiß noch genau wie ich damals zu mir gesagt habe: „Okay, es ist passiert – jetzt reagiert die Welt. Der IS wird innerhalb weniger Wochen militärisch besiegt. Die Menschen, die man in Zelte gesteckt hat, können rasch wieder in ihre Städte, Dörfer und in ihre Häuser zurückkehren. Man wird ihnen helfen.“ Das war meine naive Vorstellung.
Doch die Realpolitik sieht anders aus. Politiker sprechen gerne davon, dass der IS vermeintlich besiegt sei; ist er aber nicht. Die Menschen leben weiterhin in Camps. Auch in den Bergen leben weiterhin knapp 30.000 Flüchtlinge. All diese Menschen sind hoffnungs-, orientierungs- und perspektivlos. Sie sind dringend auf Hilfe von außen angewiesen.
Ich war vor drei Wochen noch im Irak und habe dort viele ehemalige Hochburgen des IS besucht. Ich wollte unbedingt dahin! Die Menschen im Irak sagen mir, dass viele Islamisten nur ihre Kleidung gewechselt haben. Die Ideologie aber ist weiterhin in ihren Köpfen. Der IS ist zwar formal besiegt, aber nicht politisch. Was vor vier Jahren passiert ist kann jederzeit wieder passieren.
Tausende von Frauen sind damals verkauft worden – teils mehrfach! Mehr als 2.600 Frauen sind bis heute verschollen. Wo sind diese Frauen? Wir bekommen immer wieder Hinweise und Anrufe von Frauen und Kindern, die sich in Häusern aufhalten ohne zu wissen, wo sie genau sind. Sind sie in Syrien oder im Irak? Wäre der IS besiegt, dann müsste man diese Menschen doch wiederfinden. Der IS hat zwar keine sichtbaren Checkpoints mehr, aber in den Häusern sind sie weiterhin existent.
Die Region Sindschar liegt trotz deutscher Aufbau- und Entwicklungshilfen in Trümmern – mehr als 400.000 Menschen leben weiterhin in Camps. Wo ist das Geld hin?
Das Geld fließt noch, aber es kommt nicht an. Die Hilfen sind nicht nachhaltig, denn die Gelder fließen in die Camps und nicht in den Wiederaufbau. Aber die Zukunftsperspektive der Eziden im Irak kann kein Leben in einer Zeltstadt sein. Von daher ist es schade um das Geld!
Vergleichen wir mal die Situation im Irak mit der Migrationswelle nach Deutschland im Jahr 2015. Auch wir haben damals Zelte und Container aufgestellt. Wir haben jedoch schnell erkannt, dass eine nachhaltige Integration nicht in Zelt- oder Containerstädten gelingen kann. Folgerichtig wurden viele der Notunterkünfte aufgelöst, nachdem der Flüchtlingszustrom abgeebbt ist. Der Großteil der Flüchtlinge lebt mittlerweile in Wohnungen.
Im Irak hingegen werden Containerschulen aufgebaut, oder Stromgeneratoren angeschafft. Die Infrastruktur innerhalb der Camps wird aufgebaut. Die Menschen müssen aber zurück in ihre Häuser. Sie müssen wieder die Möglichkeit haben ihre Felder zu bestellen, um für sich selbst sorgen zu können. Sie müssen die Möglichkeit haben zu studieren. Die Menschen im Irak sind bereit, sie wollen es!
Voraussetzung dafür ist jedoch außerhalb der Camps eine sichere Umgebung und eine funktionierende Infrastruktur herzustellen. Die Menschen dürfen keine Angst haben auf ihre Felder zu gehen, nur weil der ehemalige IS-Kommandeur noch immer im Nachbardorf lebt. Dafür muss man Lösungen finden.
Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind bin ich mir sicher, dass viele ezidische Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurückkehren.
Die Anerkennungsquote für Eziden bei uns ist rückläufig. Ein Grund: Nach Ansicht des BAMF werden Eziden in der Region Kurdistan-Irak nicht verfolgt. Wie bewerten Sie diese „inländische Fluchtalternative“?
Wenige Tage nachdem am 3. August 2014 der Genozid an den Eziden im Nordirak stattfand habe ich Gespräche mit dem damaligen Vizekanzler Sigmar Gabriel geführt mit dem Resultat, dass Deutschland sofort interveniert hat. Dafür bin ich der Bundesregierung bis heute sehr dankbar. Auch aus Dankbarkeit habe ich über Jahre hinweg stets versucht, mich diplomatisch auszudrücken. Bestimmte Entwicklungen sind nicht von heute auf morgen realisierbar. Regierungen brauchen Zeit – auch die Bundesregierung.
Doch zurück zu Ihrer Frage bezüglich einer „inländischen Fluchtalternative“ im Irak. Von welcher Alternative sprechen wir hier? Die Menschen berichten mir, dass sie im Gefängnis sitzen. Die Camps sind umzäunt. Die Bewohner dürfen die Camps nicht verlassen. Wer eine Nacht nicht zurückkehrt und einen Stempel vorzeigen kann, wird nicht mehr ins Camp gelassen. Trotz gegenteiliger Behauptungen dürfen die Menschen nicht außerhalb der Camps arbeiten. Sie dürfen nicht in ihre Heimat zurückkehren, außer sie lassen ihr gesamtes Hab und Gut zurück.
Ich habe Ihnen bereits berichtet, dass sowohl die gesamte Infrastruktur, als auch die gesellschaftlichen Strukturen im Nordirak zusammengebrochen sind. Also nochmal, von welcher Alternative sprechen wir hier?
Sowohl in meinen bilateralen Gesprächen als auch in meinen öffentlichen Reden habe ich immer wieder auf Folgendes hingewiesen: Das Ziel der Bundesrepublik Deutschland muss sein, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Dafür bin ich jederzeit zu haben. Wenn die Regierung das nicht schafft – aus welchen Gründen auch immer – muss sie sich an das Grundgesetz halten.
Im Artikel 16a des Grundgesetzes steht, dass jeder politisch Verfolgte das Recht auf Asyl in Deutschland genießt. Wenn ich aufgrund meiner sexuellen Orientierung verfolgt werde, dann genieße ich politisches Asyl in Deutschland. Wenn ich verfolgt werde, weil ich vom Islam zum Christentum konvertiere und gemäß der Scharia umgebracht werden soll, dann habe ich das Recht auf politisches Asyl in Deutschland. Und wenn ich als Ezide verfolgt werde, weil ich einer anderen Religion angehöre oder als Ezide missachtet, beschimpft und als Mensch fünfter oder sechster Klasse behandelt werde, dann habe ich ohne Zweifel das Recht auf politisches Asyl in Deutschland.
Wir alle kennen Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Nicht die Würde der Deutschen, nicht die Würde der Amerikaner oder die Würde der Franzosen, sondern die Würde des Menschen – dazu gehören auch die Eziden! Und wenn die Würde der Menschen im Irak mit Füßen getreten wird, dann ist es unsere Pflicht, diesen Menschen hier Asyl zu gewähren.
Zusammengefasst: Bis jetzt gibt es keine Fluchtalternative. Ich wäre froh, wenn es eine gäbe. Dann wäre ich sicherlich einer der ersten, der diese Alternative unterstützen würde. Aber Camps sind keine Alternative!
Zehntausende Eziden sind allein 2014 nach Deutschland geflohen, nachdem die Terrormiliz „Islamischer Staat“große Gebiete im Nordirak erobert hat. Wie ist die Situation der Eziden in Deutschland?
Es gibt zwei Gruppen von Eziden in Deutschland. Die erste Gruppe sind Eziden, die in zweiter, dritter oder vierter Generation in Deutschland leben. Sie sind deutsch sozialisiert und unterscheiden sich nur durch ihre Religion.
Die zweite Gruppe sind ezidische Flüchtlinge, die vor drei Jahren nach Deutschland gekommen sind. Diese Menschen sind kollektiv traumatisiert! Ihre Familien wurden komplett auseinandergerissen. Teile der Familie leben in Deutschland, andere weiterhin im Nordirak, sind gestorben oder verschollen.
Diese Menschen sind nach Deutschland geflohen, um Schutz zu suchen. Sie sind zunächst verwundert, wenn auch Muslime in Deutschland Asyl erhalten und ihren Glauben frei ausleben dürfen. All die traumatischen Erlebnisse dieser Menschen sind natürlich sofort wieder präsent, sobald sie einen „salafistisch-dschihadistisch“ aussehenden Mann sehen. Unsere Aufgabe ist es, sensibel aber bestimmt zu erklären, dass in Deutschland nicht nur Eziden ein Recht auf Asyl haben, sondern alle politisch oder religiös verfolgten Menschen.
Durch die Medien werden immer wieder Fälle bekannt, in denen ezidische Mädchen und Frauen selbst in Deutschland verfolgt werden. Wird seitens der Politik genug für den Schutz der hier lebenden Ezidinnen getan?
Alle in der Politik sind überaus bemüht, dass es den hier lebenden Eziden gut geht. Als im Jahr 2015 über eine Millionen Flüchtlinge nach Deutschland kamen haben wir Hand in Hand gearbeitet. Vor diesem Hintergrund kann ich die Kritik an Bundeskanzlerin Angela Merkel in keiner Weise nachvollziehen. Die Kanzlerin hat damals gesagt „Wir schaffen das!“ – und wir haben es geschafft. Ich denke, darauf sollten wir stolz sein.
Nirgendwo auf dieser Welt fühlen sich die Eziden sicherer als in Deutschland! Sie wissen, dass es in Deutschland Institutionen der Exekutive und Judikative gibt, an die sie sich im Falle von Verfolgung, Belästigung oder Unterdrückung wenden können. Abgesehen von wenigen Einzelfällen sind die Eziden froh und glücklich darüber, hier leben zu dürfen.
Herr Dr. Ortac, wann ist Ihre nächste Reise in den Nordirak geplant und was wünschen Sie sich für die Zukunft der Eziden in Deutschland, Irak und in Syrien?
Ich weiß nicht, wie oft ich bisher gesagt habe: „Das war die letzte Reise!“ Dennoch war ich in den letzten vier Jahren siebzehnmal im Irak. Die nächste Reise ist jedoch noch nicht geplant.
Ich wünsche mir, dass die Eziden in Deutschland unsere demokratischen Werte verinnerlichen und unsere demokratischen Errungenschaften mit allen dazugehörigen Rechten und Pflichten achten und wertschätzen.
Für die Menschen im Irak wünsche mir, dass sie wieder in ihren Dörfern leben können. Vor allem wünsche mir, dass die Eziden dort in Würde leben können – sie haben es nämlich verdient!
Vielen Dank für das Interview Herr Dr. Ortac!
Von Sven Lilienström,
Organisationsteam der Initiative Gesichter der Demokratie | Faces of Democracy.
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