Auf Seite drei berichtet das Blatt unter dem Titel „Symbolische Gesten sind keine Lösung“, trockene Fakten zur jüdischen Situation: So wie die Pläne zur Neugestaltung der Welt nach dem Kriege schon viele hunderte von Büchern, Broschüren, Pamphleten und Memoranden füllen, ist auch die Frage nach der Regelung, Lösung und Auflösung des Juden-Problems ein heiß umstrittenes Objekt der Diskussionen. Aber die Wirklichkeit wartet nicht, bis sich Politiker, Theoretiker und Wohlfahrtsbeamte am grünen Tisch geeinigt haben. Auch bei der Tragödie des jüdischen Volkes hat das im großen Feld der alliierten Kriegsführung nun so siegreich überwundene Hemmnis des „too little, too late“ eine entscheidende und tragische Rolle gespielt.
Mit der ihr angeborenen Bravour und Klarheit hat Freda Kirchwey im letzten Heft der „Nation“ ein leidenschaftliches Editorial „Rescue Hungary´s Jews!“ geschrieben, in dem sie fordert, das Truppenschiffe, die in Mittelmeerhäfen ihre für Europa bestimmten Passagiere ausgeladen haben, die von der Vernichtung bedrohten ungarischen Juden aufnehmen sollten, und dass Lastflugzeuge die ungarisch-jüdischen Kinder nach dem aufnahmebereiten Schweden bringen mögen. „Wenn“ ruft Freda Kirchwey aus, „der Tod dieser Leute für Hitler wichtig genug ist, dass er Menschen und Maschinen und Zeit auf ihre Ausrottung verwendet, so sollte das Leben dieser Leute Hitlers Feinden mindestens ebensoviel wert sein.“
Es steht zu befürchten, dass auch dieser Vorschlag – selbst wenn er sofort ein positives Echo fände – zu spät kommt. Seitdem die Rumänen sich gegen Ungarn gewandt haben, haben ungarische und deutsche Polizei die kurze Zeit unterbrochenen Deportationen wieder aufgenommen. Niemand weiß, wie die Dinge enden werden, niemand weiß, wie viele Juden noch in Europa bei Kriegsende übrig bleiben werden. Aber selbst wenn man die Ziffern niedrige annimmt, als die Ausrottungsberichte der exilierten Regierungen sie in den einzelnen Ländern angeben, so ist nicht damit zu rechnen, dass viel mehr als zwei Millionen Juden überhaupt in Europa – Russland ist hier nicht dazu gerechnet – übrig bleiben.
Ein kleiner Teil lebt gleichberechtigt in England, der Schweiz und Schweden; ein anderer Teil wird in demokratische Länder des westlichen Kontinents und in die zukünftigen Demokratien Nord-, Zentral- und Südost-Europas – Deutschland scheidet dabei aus – zurückkehren. Bleibt ein heimatloser Rest von etwa einer Million, von dem beträchtliche Massen zu krank oder sonstwie zu ruiniert für eine Wanderung oder Auswanderung sein werden, also ein reines Fürsorgeobjekt bilden werden. Für Palästina in Frage kommt der Rest von einer halben bis dreiviertel Millionen Menschen, also eine Ziffer, die bei der Aufnahmefähigkeit Palästinas überhaupt keine Rolle spielen dürfte.
Das ist die krasse, aktuelle Situation, die bei einigem guten Willen von allen Beteiligten durchaus bewältigt werden kann. Im Zusammenhang damit erhebt sich vielfach die Frage, was mit den Juden wird, die während der letzten zehn Jahre in andere Länder gegangen sind, in denen sie noch nicht Bürger geworden sind. In England besteht unter vielen Refugees die Befürchtung, dass man sie gern nach dem Krieg abschieben möchte. In der letzten Zeit hat sich aber eine derartige, zweifellos bestehende Tendenz insofern abgeschwächt, als man die Behandlung des Flüchtlings-Problems in England vorläufig vertagt hat und erst die Gestaltung der allgemeinen Wirtschaftslage usw. abwarten will.
Auf keinen Fall aber wird man Flüchtlingen in England zumuten, etwa nach Deutschland zurückzukehren. Sollte, was vorläufig nicht anzunehmen ist, sich die Lage in England nach dem Kriege so ungünstig gestalten, dass ein Teil der Refugees das Land verlassen müsste, so ist die Auswanderung nach Palästina das Gegebene. Auf keinen Fall liegt es im Interesse der Juden, dass eine wilde Wanderung navh den verschiedensten Teilen der Welt stattfindet. Ganz abgesehen davon, dass kaum Staaten bereit sind, größere Mengen von Juden aufzunehmen, kennen wir das alte Gesetz vom „Antisemitismus, der auf dem Buckel mitgeschleppt wird“. Gewiss, Paraguay hat sich neuerdings bereit erklärt, ähnlich wie die Vereinigten Staaten einen Free Port zu erwägen, und auch Ecuador und andere Länder sind dazu bereit.
Aber symbolische Gesten des Humanismus sind keine Lösungen des Juden-Problems. Es ist wundervoll, dass die schwedische Regierung am vergangenen Montag offiziell erklärt hat, dass sie willens ist, eine unbeschränkte Anzahl von jüdischen Flüchtlingskindern zu beherbergen. Niemand wird das dankbarer empfinden, als das jüdische Volk.Mit der Frage einer ruhigen und normalen Regelung des Juden-Problems hat das nichts zu tun. Außerordentlich zu begrüßen ist die Haltung der mexikanischen Regierung. Doktor Nahum Goldmann war kürzlich als Chairman des Administrative Committee des World Jewish Congress in Mexiko und hat bei dieser Gelegenheit mit dem Innenminister Aleman über die Frage des weiteren Verweilens der Refugees in Mexiko gesprochen.
Aleman versicherte ihm, dass die Befürchtungen einiger Refugees, man könne sie nach dem Kriege auszuweisen versuchen, völlig unbegründet seien. Die mexikanische Regierung betrachte die in Mexiko lebenden Flüchtlinge als nützliche Elemente und als „permanent residents“. Es ist dies das erste Mal, dass sich eine lateinamerikanische Regierung in so dezidierter Form über ihre Stellung zu den Flüchtlingen in ihrem Land geäußert hat, und es ist zu hoffen, dass andere Staaten ebenfalls dem Beispiel Mexikos folgen werden. Was alle Stellen vermeiden wollen, ist das Herumirren heimatloser Juden. Wo immer solche einzeln oder in Massen vorhanden sind, ist Palästina die Lösung.
Wir haben bereits im vorigen „Aufbau“ berichtet, dass das Völkerbundsmandat wahrscheinlich fallen wird. Ob die Gedanken einer internationalen Verwaltung, über die wir referierten, sich durchsetzen werden, erscheint nach neuen Informationen aus London fraglich. Sicher ist aber, dass heute England, Amerika und Russland gemeinsam ein Interesse an einer produktiven Entwicklung Palästinas haben. Russland ist heute nicht mehr gegen den Zionismus als Bewegung oder Palästinas als einen jüdischen Staat eingestellt. Die positive Stimmung in Amerika, der überwältigenden Mehrheit in Amerika zu der Frage ist bekannt. Immerhin ruht der Schwerpunkt der Frage weiter bei England, da auch Russland Palästina als ein Problem der anglosächsischen Sphäre betrachtet. Vermutlich wird England in dieser oder jener Form einer Art jüdischem Staat zustimmen. Es besteht allerdings die Gefahr, dass noch einmal die Frage einer weiteren Verkleinerung des Gebietes – Teilung – aufgeworfen werden wird, da es neuerdings ein englisches Argument ist, dass durch die furchtbaren Vernichtungsschläge, die das jüdische Volk erlitten hat, die möglichen Einwanderungsziffern eine beträchtliche Verringerung erfahren haben.
„Der Aufbau“ war am 1. Dezember 1934 von deutschen und österreichischen Emigranten als Forum, kulturelle Plattform und Sprachrohr gegründet worden. Er entwickelte sich in der Zeit des Nationalsozialismus zum wichtigsten Organ der in die USA geflüchteten deutschsprachigen Juden und anderer Flüchtlinge.
Eine weitere Folge aus dieser Zeitung erscheint in der nächsten Ausgabe der Israel Nachrichten.
Von Rolf von Ameln
Rolf v. Ameln ist Buchautor, sowie IN-Korrespondent in Deutschland und Spezialist für Themen der Zeitgeschichte. Er schreibt seit 25 Jahren für die Israel-Nachrichten.
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