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Zeitgeschichte in den Israel Nachrichten – Ein jüdischer Kindertransport; Reise ins Ungewisse

Paula Moise war zehn Jahre alt, lebte in Braunschweig, und war eines der rund 10.000 jüdischen Kinder aus Nazi-Deutschland und dem früheren Österreich, die zwischen Dezember 1938 und dem Kriegsbeginn im September 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien gelangten und damit vor dem Hitler-Regime in Sicherheit gebracht werden konnten.

Paula Moise sagte später: „Als der Zug an jenem schicksalhaften Morgen im Januar 1939 seine Fahrt beschleunigte, stand ich am Fenster und warf einen letzten Blick auf die Welt, die bald hinter mir liegen sollte. Ich sah die immer kleiner werdende Gestalt meiner Mutter, die meinen kleinen Bruder an der Hand hielt. Stumm und in sich gekehrt saßen die Kinder während der Fahrt auf ihren Sitzen. Mein dreizehnjähriger Bruder befand sich auch im Zug. aber wo?“

Kindertransport aus Österreich auf dem Weg nach Großbritannien. Foto: Yad Vashem

Wie sie hatten die meisten von ihnen den Abschied von Eltern und Heimat als dramatischen Einschnitt erlebt, nach dem sich ihr Leben vollkommen verändern sollte. Die Bereitschaft, diese Kinder aufzunehmen, war eine Folge des Schocks, den die Nachrichten über den November-Pogrpm in England ausgelöst hatten. Die britische Regierung unter Premierminister Chambelain hatte sich Mitte November 1938 unter dem Eindruck dieser Berichte innerhalb weniger Tage durchgerungen, die bis dahin restriktive Asylpolitik zu überdenken und Flüchtlingen aus dem Nazi-Reich „temporary refugee“ zu gewähren. Am 16. November fiel die Entscheidung, eine bestimmte Anzahl von bedrohten jüdischen Kindern aus Deutschland einreisen zu lassen – unter der Voraussetzung, dass sie nach Abschluss einer Berufsausbildung weiter wandern würden.

Die jüdischen Flüchtlingsorganisationen in England hatten sich verpflichtet, die Kosten für den gesamten Unterhalt dieser Kinder zu zahlen, soweit nicht Privatpersonen die Garantie für ein Kind übernahmen. Für diese Kinder hatten die englischen Behörden die Einreiseformalitäten stark vereinfacht. Die nötigen finanziellen Mittel wurden vor allem durch den „Lord Baldwin Fund“ aufgebracht: Der ehemalige Premierminister wandte sich am 8. Dezember 1938 in einer Radioansprache an die englische Nation und löste eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Das „Inter-Aid Committee for Children of Germany“, das seit 1933 einige hundert Kinder ins Land gebracht hatte, schloss sich mit anderen Institutionen zum „Refugee Children´s Movement“ zusammen, das den Empfang der Kinder in Großbritannien sowie deren Unterbringung in Transit-Camps – meist Ferienlagern – organisierte. Später kamen die Kinder dann zu Pflegeeltern.

Der erste Kindertransport erreichte die englische Küste bei Harwich am 2. Dezember 1938. Mit ihm kamen Kinder aus einem Berliner Waisenhaus, das am 9. November im Zuge der Reichskristallnacht in Brand gesetzt worden war, sowie Kinder aus Hamburg. Der erste Transport aus Wien erreichte England am 13. Dezember 1938. Große Verdienste um die Durchführung des Kindertransportes erwarben sich vor allem die Niederlande, die sich nicht nur bereit erklärten, die Kinder durchreisen zu lassen, sondern auch über eine Wohlfahrtsorganisation verfügten, die Flüchtlingskinder betreute. Deshalb wurde die Route, die über Holland und dann mit der Fähre nach England führte, häufiger benutzt als jene über Hamburg, wo die Kinder auf Überseedampfer umstiegen, die auf ihrem Weg nach Amerika einen englischen Hafen – meist Southampton – anliefen.

Züge aus Berlin und Wien hielten in vielen Städten, wo weitere Kinder zusteigen konnten. Um ein Kind zum Transport zu bringen, mussten es die Eltern zunächst bei der zuständigen jüdischen Kultusgemeinde registrieren lassen. Um Kinder, die zwar bei den Nazis als „jüdisch“ galten, deren assimilierte Familien aber keinen Kontakt mehr zu jüdischen Institutionen hatten, kümmerten sich die Quäker, die mit der „Society of Friends“, den englischen Quäkern zusammenarbeiteten. Für die Kinder und ihre Eltern war die Trennung eine große Belastung. Der genaue Zeitpunkt der Abreise war ungewiss, denn er hing neben deutscher Behördenwillkür auch von der von den Engländern vergebenen Permit-Nummer der Kinder ab, und wurde oft sehr erst sehr kurzfristig bekannt gegeben.

Viele Eltern informierten daher ihre Kinder erst dann über die bevorstehende Reise, wenn sie sicher sein konnten,k dass diese auch tatsächlich stattfinden würde. Sie waren bemüht, Zuversicht zu verbreiten, obgleich sie mindestens genauso unter der Ungewissheit der Zukunft litten wie ihre Kinder. Olga Lenk aus Stuttgart, die später als Olga Drucker in den USA leben sollte, hatte ihre Erinnerungen in tagebuchartiger Form überliefert: „Gestern haben wir einen Brief von den Liebermanns aus Norwich in England bekommen. Es war ein Bild von der Familie mit dabei. Die Tochter ist so alt wie ich. Durch die Pastellfarben des Bildes sehen alle ganz komisch aus, ihre Lippen sind so rot. Ich frage Mama, was ich tun soll, wenn sie mich nicht mögen. <Mache Dir keine Sorgen, sie werden Dich schon mögen>, sagt Mama. Aber ich weiß nicht, ob ich sie mögen werde.“

Kindertransport – Denkmal vor dem Londoner Bahnhof Liverpool Street.

Für Kinder, die keine persönlichen Kontakte nach England hatten, wurden die Pflegeeltern erst an Ort und Stelle gesucht: eine demütigende Auswahlprozedur, über welche die eingangs zitierte Paula berichtete: „Man stellte mich in die Reihe, und da ich zierlich, blond und blauäugig und erst zehn Jahre alt war, fnd ich bald <Abnehmer>. Vielleicht hätte ich mich geschmeichelt fühlen sollen, aber ich fühlte etwas ganz anderes. Denn die Leute, die mich aufnehmen sollten, waren keine Juden, und da ich in einer orthodoxen Familie aufgewachsen war, empfand ich nun Groll und Misstrauen.“

Und tatsächlich hatten viele Kinder große Mühe, ihre nicht-jüdischen Gastgeber über die Speisegesetze und andere religiöse Vorschriften zu informieren, die sie einhalten wollten. Vor allem die jüngeren waren dadurch überfordert und aßen schließlich den angebotenen Schinken! Für so manches Kind hat mit dem Kindertransport die Beziehung zur jüdischen Religion ein Ende gefunden. Dass umgekehrte Phänomen war aber viel weiter verbreitet, denn viele „säkulare“ jüdische Kinder landeten in orthodoxen Pflegefamilien und unterwarfen sich den jüdischen Riten nur widerwillig. Paula jedoch hatte Glück, denn sie fand schließlich freundliche jüdische Pflegeeltern, und sowohl der kleine Bruder als auch die Mutter schafften ebenfalls die Flucht nach Großbritannien. Für viele Kinder aber war der Abschied am Bahnhof ein endgültiger.

Der zunächst noch bestehende Briefkontakt mit der Familie riss mit Beginn des Krieges ab. Die in Nazi-Deutschland zurückgebliebenen Eltern und andere nahe Verwandte wurden im Holocaust ermordet. Nur wenige der Kinder sind nach Ende des Zweiten Weltkrieges in die alte Heimat zurückgekehrt. Viele sind – wie Paula – in England geblieben und haben sich dort ein „britisches Leben“ aufgebaut. Viele sind aber auch weiter gewandert, in die USA und nach Israel. An der Liverpool Station in London erinnert seit dem Jahre 2006 ein Denkmal aus Bronze,, das eine Gruppe von Kindern mit Koffern zeigt, an den Kindertransport aus Nazi-Deutschland.

In England waren diese Kinder in Sicherheit. Die familiäre Geborgenheit jedoch, aus der die Nazis sie vertrieben hatten, haben sie in den überwiegenden Fällen nie wiederfinden können.

Von Rolf von Ameln

 

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Von am 14/11/2018. Abgelegt unter Spiegel der Zeit. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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