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Analyse: Die unbekannte türkische Flüchtlingskrise

ZUSAMMENFASSUNG: Die Türkei, in der rund 3,5 Millionen Flüchtlinge leben, wird im Allgemeinen als Transitland oder Bollwerkland in der anhaltenden Flüchtlingskrise betrachtet. Weniger bekannt ist, dass die Türkei auch eigene Flüchtlinge erzeugt.

Nach Angaben des griechischen Asyldienstes ist die Zahl der Asylbewerber aus der Türkei in den letzten zwei Jahren von 189 im Jahr 2016 auf 2.463 im August 2018 gestiegen. Dies entspricht einem Anstieg von rund 1.300%. Laut Eurostat haben zwischen 2005 und 2017 rund 25.000 türkische Bürger in europäischen Ländern Asyl beantragt.

Janitscharenzug durch das Brandenburger Tor am Türkischen Tag, Berlin. Foto: Wikimedia Commons

Das beliebteste Reiseziel ist Deutschland, weil es dort bereits eine erhebliche türkische Minderheit gibt. Allein in Deutschland haben zwischen 2016 und 2017 mehr als 14.000 türkische Staatsbürger einen Asylantrag gestellt. Verglichen mit der Anzahl der Bewerber aus Ländern wie Syrien, dem Irak und Afghanistan sind diese Zahlen aber nicht beeindruckend. Wenn wir jedoch die alarmierende Rate betrachten, mit der die Zahl steigt und dass die Türkei ein relativ stabiles und einigermaßen demokratisches Land ist, geben die Flüchtlingsströme aus dem Land Anlass zur Sorge. Ihre Ursachen und möglichen Auswirkungen auf die EU rechtfertigen eine Prüfung.

Die türkischen Flüchtlingsströme wurden größtenteils durch eine Kombination aus dem fehlgeschlagenen Putschversuch 2016 und der anhaltenden Wirtschaftskrise verursacht. Nach dem gescheiterten Putsch begann Präsident Recep Tayyip Erdoğan einen „Kreuzzug“ um all diejenigen auszusondern, die verdächtigt wurden, in irgendeiner Weise mit dem exilierten religiösen Führer Fethullah Gülen verbunden zu sein, von dem Erdoğan vorgibt, dass er der Vordenker des Putsches war. In den vergangenen zwei Jahren verfolgte Erdoğan Soldaten, Akademiker, Lehrer, Journalisten und andere Bürger mit dem Verdacht, dass sie Teil des Gülen-Netzwerks sind. Rund 150.000 Beamte haben ihre Arbeit verloren und die türkische Polizei hat über 50.000 Verhaftungen vorgenommen.

Die zweite große Stimulans für die türkischen Flüchtlingsströme ist die anhaltende Wirtschaftskrise. Die Wirtschaft des Landes ist in Trümmern. Nach Jahren des Wachstums, der niedrigen Zinsen und massiver staatlich gestützter Bauprojekte befindet sich die Wirtschaft jetzt im freien Fall und die Folgen für die Stabilität der Türkei sind noch nicht bekannt.

Seit Anfang 2018 hat die türkische Lira gegenüber dem Dollar 42% an Wert verloren. Die Inflation stieg von 7,2% im Januar 2015 auf 15,9% im Juli 2018. Ankara hat auch einen hohen Rückzahlungsbetrag. Nach Schätzungen der Ratingagentur Fitch für 2018, wird der Gesamtfinanzierungsbedarf der Türkei bei fast 230 Milliarden US-Dollar liegen.

Trotz der düsteren Wirtschaftslage scheint es Erdoğan zu widerstreben, eine strengere Geld- und Fiskalpolitik zu implementieren, aus Angst, dass er die Unterstützung seiner politischen Basis verlieren wird. Stattdessen hat er eine aufrüttelnde, verschwörerische Rhetorik gegen die globalen Finanzmärkte eingeführt, die er beschuldigt, „einen geheimen Krieg gegen die Türkei geführt zu haben“. Die prekäre Wirtschaftslage des Landes wird durch die angespannten Beziehungen zu den USA noch verschärft.

Diese Faktoren haben unter der türkischen Bevölkerung Angst vor Verfolgung, Arbeitslosigkeit und Reisebeschränkungen aufgrund des Widerrufs von Reisepässen hervorgerufen. Als Reaktion auf diese Befürchtungen versuchen einige türkische Bürger, in die EU einzuwandern. Die üblichste Route ist die Überquerung der griechischen Grenze über den Evros-Fluss und die Weiterreise mit Hilfe von Schleusern nach Europa.

Nach Angaben des Instituts für Migrationspolitik betrug die Zahl der türkischen Bürger, denen im Jahr 2016 der Schutzstatus zuerkannt wurde, 900. Im Jahr 2017 waren es 5.555. Dies entspricht einer Steigerung von über 300%. Diese Daten stellen den Anteil der Entscheidungen in erster Instanz im Bereich des positiven Asyls, im Verhältnis zu allen in jedem Land getroffenen Entscheidungen dar. Positive Entscheidungen umfassen den Schutz von Flüchtlingen, subsidiären Schutz und humanitären Schutz. Im Jahr 2017 betrug die durchschnittliche Anerkennungsrate von Asylanträgen türkischer Bürger in Europa 36,0%. Dies bedeutet, dass in einem von drei Fällen, türkischen Asylbewerbern der Flüchtlingsstatus gewährt wurde.

(Natürlich unterscheiden sich die Anerkennungsraten in den europäischen Ländern erheblich. Norwegen hat mit 89,7% die höchste Anerkennungsrate. Dagegen haben Polen, Ungarn und Bulgarien noch keine positive Entscheidung getroffen. Griechenland hat eine Anerkennungsquote von 54,5%.)

Diese erhebliche Steigerung ist aus zwei Gründen auffällig. Erstens spiegelt sie die Geschwindigkeit wider, mit der die Gesamtzahl der Asylanträge türkischer Bürger gestiegen ist. Zweitens zeigt es, dass europäische Asyldienste anerkennen, dass türkische Bürger verfolgt werden.

Die erste große Schwierigkeit im Umgang mit türkischen Flüchtlingen ergibt sich aus der Tatsache, dass die EU mit Ankara ein Abkommen unterzeichnet hat, um die Flüsse syrischer Flüchtlinge einzudämmen. Nach der Vereinbarung müssten alle Syrer, die die griechischen Inseln nach dem 20. März 2016 erreichten, in die Türkei zurückgeführt werden. Für jeden in die Türkei zurückgekehrten Flüchtling, würde ein Flüchtling aus Griechenland in die EU aufgenommen. Daher gilt die Türkei im Rahmen des Abkommens als „sicheres Drittland“, das die ankommenden Flüchtlingsströme aufnehmen kann.

Das macht aber keinen Sinn mehr. Die europäischen Länder gewähren den türkischen Bürgern jetzt den Flüchtlingsschutzstatus, was bedeutet, dass sie in ihrem Heimatland unter Verfolgung leiden. Wie kann die EU dann die Einstufung der Türkei als „sicheres Drittland“ weiterhin rechtfertigen?

Das Problem der türkischen Flüchtlingsströme könnte der letzte Nagel im Sarg des Abkommens sein, das vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) sowie von nichtstaatlichen Organisationen wie Amnesty International und Ärzte ohne Grenzen kritisiert wurde. Die Kritik bezieht sich auf die Tatsache, dass die Türkei nicht als sicher angesehen werden kann, da sie Nicht-Europäern den Flüchtlingsstatus verweigert und keinen völkerrechtlichen Schutz bieten kann.

Während einige Analysten die Vereinbarung als „zu groß um zu Scheitern“ betrachten, ist es unsicher, ob die türkischen Flüchtlingsströme die Aufrechterhaltung der Vereinbarung ermöglichen werden. Selbst wenn sich die EU dafür einsetzt, kann sie nicht leugnen, dass die Türkei selbst jetzt ein Flüchtlingsgenerator ist.

Von Nikolaos Lampas (BESA)

Nikolaos Lampas ist Lehrbeauftragter in der Abteilung für Politik und Internationale Beziehungen der Universität von Piräus, Griechenland. Er ist außerdem Visiting Research Fellow in der Abteilung für Politik und Internationale Beziehungen der Universität von Peloponnes, Griechenland.

BESA Center Perspectives Paper No. 993, November 1, 2018
Begin-Sadat Center for Strategic Studies
Bar-Ilan University, Ramat Gan, Israel.
Übersetzung: Dr. Dean Grunwald

 

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Von am 01/11/2018. Abgelegt unter Featured. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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