ZUSAMMENFASSUNG: Es ist keine angebliche „Religionalisierung“, welche die israelische Identität bedroht und die Spaltungen in der israelischen Gesellschaft vertieft, sondern das Fehlen einer gegenseitig akzeptierten zeitgenössischen jüdischen Gemeinsamkeit.
Die tausendjährige exilische Erfahrung hat das jüdische Volk der kulturellen Ganzheit beraubt, welche die nationale Existenz untermauert, während die religiöse Komponente, die es in diesen anspruchsvollen Zeiten aufrecht erhielt, das komplizierte Netz der soziopolitischen und interkommunalen Wechselbeziehungen, die die Grundlage des jüdischen Volkes bildeten, nicht ersetzen konnte. Das Wiederauftauchen des jüdischen Volkes im späten 19. Jahrhundert als nationaler Akteur und die Wiederherstellung der Staatlichkeit in seiner angestammten Heimat ein halbes Jahrhundert später, schien diese Anomalie wiedergutgemacht zu haben. Wie die Intensität der anhaltenden Debatte über die erwünschte Natur der jüdischen Identität Israels zeigt, bleibt diese Frage für Israelis und Diaspora-Juden eine große Herausforderung.
Nehmen wir zum Beispiel David Ben-Gurions Kommentar aus den späten 1960er Jahren: „Zwanzig Jahre nach seiner Gründung existiert der jüdische Staat, den ich zu gründen hoffte, noch nicht und wer weiß wann er entstehen wird.“ Bezeichnenderweise sprach der ehemalige Premierminister von „dem jüdischen Staat“ und nicht von „dem Zustand der Juden“. Denn nach der liberalen Auffassung ist ein Staat wenig mehr als ein institutionell-organisatorischer Mechanismus zur Verwaltung und Regelung der Beziehungen zwischen den Bürgern und kann daher nicht jüdisch sein (doch viele seiner Bürger identifizieren sich als Juden). Ben-Gurion sah einen Staat vor, der in seinem Ethos, seiner Substanz und seinen Attributen jüdisch sein würde – im nationalen, nicht im theokratischen Sinn des Wortes. Sogar während ihrer tausendjährigen exilischen Erfahrung, in der der nationale Aspekt ihrer Identität durch ihr religiöses Gegenstück abgelöst wurde, überschritt das jüdische Gemeinschaftsleben die rein theokratische (halachische) Dimension um philosophisches Denken und Mythologie, Moral, Kultur, Soziales Interaktion und vor allem eine religiös-nationale Sehnsucht nach einer Rückkehr in das angestammte Heimatland.
Ben Gurions Vision eines jüdischen Staates hat eine kleine säkulare Minderheit kürzlich als „das Ende der israelischen Identität“ beklagt, als ob es jemals möglich wäre, eine solche Identität von ihrem jüdischen Kontext zu distanzieren. In seinem Buch „Speaking Zionism: Der existentielle Kampf zwischen Staat und Religion“, bietet Arye Carmon, Gründungspräsident des Israel Democracy Institute, ein säkularistisches Manifest an, von dem er hofft, dass es dazu beitragen wird, einen gemeinsamen Boden für die israelische Gesellschaft zu schaffen. Stattdessen legt er die Tiefe der Kluft offen. Auf der einen Seite kritisiert er die Gründerväter der zionistischen Revolution dafür, „das Kind mit dem Bade auszuschütten und ihre Kinder von ihrem Erbe und ihrer Kultur zu trennen“, indem sie die exilische Erfahrung ablehnten. Auf der anderen Seite tadelt er jene Israelis, die traditionelle jüdische Praktiken und Werte als Versuch ansehen, „Heiligkeit in den öffentlichen Raum zu bringen“. „In fortgeschrittenen Demokratien“, beklagt er, „wurde Gott aus dem öffentlichen Raum herausgenommen.“
Und gerade dort, im öffentlichen Raum, können wir den fundamentalen Unterschied zwischen einem Staat, der sich als jüdisch identifiziert und einem Staat, der jüdische Bürger umfasst, sogar als jüdische Mehrheit finden. Der Streit zwischen säkularen und traditionellen/religiösen israelischen Juden dreht sich um den öffentlichen Raum im engeren technisch-halachischen Sinn des Wortes, wie die Einhaltung des Sabbats, religiöse Diätbeschränkungen oder die Registrierung der Ehe. Aber diese Themen haben weit tiefere und spirituellere Dimensionen, die öffentlichen Ausdruck erfordern, wie die jüdische Verpflichtung zum Sabbat als Ideal der sozialen Gerechtigkeit oder die dauerhafte Verpflichtung zum tausendjährigen Eid: „Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, möge meine rechte Hand ihre Fähigkeiten vergessen.“ Solche Verpflichtungen haben eine zentrale Bedeutung, besonders wenn sie sich in der Öffentlichkeit manifestieren.
Es ist wahr, dass Ben-Gurion in den Augen ultraorthodoxer Juden ein Vertreter des Säkularismus ist. Die Durchsicht seiner vielen Schriften offenbart jedoch eine andere Perspektive: Anstatt die zionistische Revolution als eine Verschiebung von einer religiösen zu einer säkularen Denkweise zu betrachten, betrachtete er sie als eine Veränderung der Wahrnehmung des jüdischen Handelns sowohl in religiöser als auch in nationaler Hinsicht. Sein unerschütterliches Engagement für das Aliya-Unternehmen bietet vielleicht die deutlichste Manifestation staatlichen Handelns, das sich aus der jüdischen Vision der Erlösung ergibt.
Indem er Aliya in biblischen Begriffen als „das Sammeln von Exilanten“ umrahmte, verband Ben-Gurion das Unternehmen mit solchen tausendjährigen jüdischen Themen wie dem täglichen Gebet, „ein großes Horn für unsere Freiheit zu blasen und ein Banner zu erheben, um unsere Verbannten zu sammeln“ und die Aussage der alten Weisen, dass „der Tag der Sammlung der Exilanten genauso groß ist wie der Tag, an dem Himmel und Erde erschaffen wurden.“ Dies war die Essenz der fundamentalen Veränderung, die von der zionistischen Bewegung in ihrem Kampf für die nationale Wiederherstellung eingeführt wurde.
Individuelle und öffentliche Akte religiöser Praxis erfordern keine organisierte staatliche Anstrengung zur Ausführung, aber die Rückkehr nach Zion und die Wiederherstellung der Staatlichkeit erforderten eine nationale Anstrengung höchster Ordnung. Und während viele der frühen Pioniere von einem religiösen zu einem säkularen Lebensstil übergingen, war ihr tiefes Eintauchen in das nationale Wiederbelebungsunternehmen eher eine Anstrengung als eine säkulare Revolution, wichtige Aspekte der jüdischen Identität wiederzubeleben, die während des Exils in Vergessenheit gerieten.
Indem er die hartnäckige ultraorthodoxe Opposition zur praktischen Verantwortung für die nationale Rettung zurückwies, bestand Ben-Gurion darauf, dass „dieses theologische Konzept kein religiöses Gebot ist und nichts mit dem Judentum von Rabbi Akiva, den Makkabäern, Ezra und Nehemia, Joshua, oder Moses zu tun hat.“
Es ist natürlich einleuchtend, dass das Sammeln der Exilanten eher ein nationales als ein religiöses Unternehmen ist. Aber angesichts der einzigartigen Stellung des Judentums als Nationalreligion kann es keine Unterscheidung zwischen seinen religiösen und zeitlichen Aspekten geben. Ben-Gurion war sich dessen bewusst und sah sich in den Fußstapfen von Rabbi Akiva und Joshua.
Im letzten Bericht bietet kein Extrem der israelisch-jüdischen Gesellschaft den meisten Israelis, die ihre jüdischen Traditionen und Lebensweise bewahren wollen, ein Allheilmittel. Auf der einen Seite des Ganges steht eine militante säkulare Minderheit, losgelöst von jüdischem Glauben und jüdischer Tradition. Auf der anderen Seite sind ultraorthodoxe Gemeinschaften aus dem schlagenden Herzen des jüdischen Nationallebens in Israel entfernt. Unter diesen Umständen ist es nicht die angebliche „Religionalisierung“, welche die israelische Identität bedroht und die Spaltungen in der israelischen Gesellschaft vertieft, sondern das Fehlen einer für beide Seiten akzeptierten zeitgenössischen jüdischen Gemeinsamkeit.
Von Maj. Gen. (Res.) Gershon Hacohen (BESA)
Maj. Gen. (Res.) Gershon Hacohen ist Senior Research Fellow am Begin-Sadat Center for Strategic Studies. Er war zweiundvierzig Jahre in der IDF. Er befehligte Truppen in Schlachten mit Ägypten und Syrien. Er war früher ein Korpskommandeur und Kommandeur der IDF Military Colleges.
BESA Center Perspectives Paper No. 956, September 21, 2018
Begin-Sadat Center for Strategic Studies
Bar-Ilan University, Israel
Übersetzung: Dr. Dean Grunwald
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