Die Nationalsozialisten hatten einst den Plan, die Juden nach Afrika abzuschieben. Doch dieser Plan war aufgegeben worden, und Anfang des Jahres 1941 hatte Hitler Heydrich aufgefordert, einen Entwurf zur Deportation der Juden innerhalb des deutschen Machtbereichs auszuarbeiten. Da man von Seiten der Nationalsozialisten davon ausging, dass der Krieg in der Sowjetunion nur wenige Monate dauern würde und vor dem Einbruch des russischen Winters zu Ende gehen würde, muss Hitler und Heydrich der Plan vernünftig vorgekommen sein, die Juden im Herbst nach Osten abzuschieben, als interne Lösung ihrer selbst geschaffenen „Judenfrage“. In der Ödnis Ostrusslands würden die Juden schrecklich leiden.
Der Schriftverkehr zwischen Hitler und Heydrich macht deutlich, dass Heydrich Anfang 1939 zunächst den Auftrag hatte, eine Lösung der „Judenfrage in Form der Auswanderung und Evakuierung“ zu planen, ergo muss es seit diesem Zeitpunkt Diskussionen über seine Zuständigkeit und seinen Handlungsspielraum innerhalb des Nazi-Staates gegeben haben. Alfred Rosenberg wurde am 17. Juli 1941 von Hitler formell zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete ernannt; er war eine potentielle Gefahr für Heydrichs eigene Macht im Osten. Aber alles in allem stützt das nicht die einst vorherrschende Ansicht, dass Hitler im Sommer 1941 eine abschließende Entscheidung zur Vernichtung aller Juden Europas getroffen hätte.
Wahrscheinlicher ist es, dass alle führenden Nazis ihre Aufmerksamkeit auf den Krieg gegen die Sowjetunion richteten, dass die Entscheidung, Frauen und Kinder im Osten umzubringen, als eine praktischer Art betrachtet wurde, ein unmittelbares und spezifisches Problem zu beseitigen. Dennoch sollte diese bestimmte „Lösung“ ihrerseits weitere Probleme schaffen, und als Folge sollten neue Tötungsmethoden entwickelt werden, die es möglich machten, Juden und Nichtjuden in noch größerem Maßstab zu ermorden. Ein besonderer Augenblick war der 15. August 1941, als Heinrich Himmler nach Minsk kam und die „Arbeit“ seiner Tötungseinheiten selbst sah. Einer, der die Exekution mit ihm zusammen erlebte, war Walter Frentz, ein Luftwaffenoffizier, der als Kameramann für das Führerhauptquartier tätig war.
Nicht nur Frentz war erschüttert, ihm wurde klar, dass auch etliche Mitglieder des Hinrichtungs-Kommandos es waren. Frentz hielt in seinem Bericht fest, zu einem Exekutionsplatz gegangen zu sein, und hinterher sei der Kommandant der Hilfspolizei zu ihm gekommen und habe gebeten, ihm herauszuhelfen. Frentz habe jedoch antworten müssen, dass er keinen Einfluss auf die Polizei habe. Es war aber nicht nur dieser eine Offizier, der von den Erschießungen in Minsk traumatisiert war. SS-Obergruppenführer von dem Bach-Zelewski war ebenfalls anwesend und sagte zu Himmler: „Reichsführer, das waren nur hundert! Sehen Sie in die Augen der Männer des Kommandos, wie tief erschüttert sie sind! Solche Männer sind fertig für ihr ganzes Leben. Was züchten wir uns da für Gefolgsmänner heran? Entweder Nervenkranke oder Rohlinge!“
Später wurde von dem Bach-Zelewski selbst psychisch krank als Folge des Mordens; er hatte Visionen von den Massentötungen, an denen er teilgenommen hatte. Als folge dieser Proteste und dessen, was er selbst hatte mit ansehen müssen, befahl Himmler, nach einer Tötungsmethode zu suchen, die seine SS- und Polizeieinheiten psychisch weniger stark belasten würde. Aus diesem Grund reiste ein paar Wochen später SS-Obersturmführer Doktor Albert Widmann vom Kriminaltechnischen Institut des Reichssicherheitshauptamtes nach Osten und traf sich mit Artur Nebe, dem Kommandeut der Einsatzgruppe B, in seinem Hauptquartier in Minsk. Widmann war zuvor beteiligt gewesen an der Entwicklung der Vergasungstechnik von geisteskranken Patienten.
Nun trug er sein Fachwissen nach Osten. Es ist eigentlich unglaublich, aber eine der ersten Methoden, mit denen Widmann den Mordprozess in der Sowjetunion zu „verbessern“ versuchte, war eine Sprengung! Mehrere geisteskranke Menschen wurden mit Päckchen von Sprengstoff in einen Bunker gesperrt. Einer, der dabei war, erzählte später vor Gericht, was geschah, als der Sprengstoff gezündet wurde. Die Explosion sei nicht stark genug gewesen; Verwundete seinen schreiend aus dem Bunker gekrochen. Der Bunker sei dann zusammengebrochen, überall seien Körperteile verstreut gewesen, auch auf den Bäumen. Man habe sie eingesammelt, aber auf den Bäumen sei einiges hängen geblieben.
Widmann entnahm diesem scheußlichen Experiment, dass Mord durch Sprengung nicht das war, was Himmler wünschte, also suchte er nach anderen Methoden. Beim Euthanasieprogramm war Kohlenmonoxid in Flaschen zum Töten verwendet worden, aber es war unmöglich, eine große Anzahl solcher Kanister viele hundert Kilometer nach Osten zu transportieren. Dann kam ihm die Idee, Menschen in Lastkraftwagen oder Busse zu sperren und sie durch Abgase umzubringen. Diesmal war der Versuch – aus NS-Sicht – erfolgreich. Widmann hatte eine billige, wirksame Methode zur Tötung von Menschen entwickelt, die die psychische Belastung der Mörder auf ein Minimum reduzierte.
So setzte im Herbst 1941 Widmann im Osten eine bedeutende Veränderung im NS-Tötungsprozess in Gang. Und auch Auschwitz wurde im Sommer 1941 in das Mordprogramm einbezogen. Der Abtransport der Kranken im Rahmen des „Programms 14f13“ und die Erschießung russischer Kommissare in der Kiesgrube zeigten der Verwaltung ein Problem auf, das denen der Einsatzgruppen im Osten nicht unähnlich war: Es war die Notwendigkeit, eine effektivere Methode des Mordens zu suchen. Die entscheidende Entdeckung in Auschwitz scheint gemacht worden zu sein, als Kommandant Höß nicht im Lager war. Fritzsch, sein Stellvertreter, erkannte eine neue Verwendungsmöglichkeit für eine Chemikalie, die im Lager zur Insektenvertilgung eingesetzt wurde: kristallisierter Zyanwasserstoff – Blausäure – , in Dosen im Handel und unter dem Namen Zyklon Blausäure vermarktet, allgemein bekannt als Zyklon B.
Fritzsch stellte eine ähnliche logische Schlussfolgerung in Auschwitz an wie Widmann im Osten: Wenn man mit Zyklon B Läuse umbringen konnte, warum nicht auch menschliche Schädlinge, wie zum Beispiel die Juden? Und da Block 11 bereits Ort der Hinrichtungen war und der Keller abgedichtet werden konnte, – war das dann nicht der geeignete Ort für einen Versuch? Aber es stellte sich heraus, dass das Gas nicht genug wirkte, viele Häftlinge waren am nächsten Tag noch am Leben. Deshalb verstärkte die SS die Dosis, es wurden mehr Kristalle hineingeschüttet. Nach der Rückkehr von Höß berichtete ihm Fritzsch von seinen Experimenten. Höß war bei den nächsten Vergasungen in Block 11 anwesend und sagte später aus: „Geschützt von einer Gasmaske sah ich die Tötungen selbst. In den überfüllten Zellen trat der Tod augenblicklich ein, in dem Augenblick, in dem Zyklon B eingeworfen wurde. Ein kurzer, fast erstickter Schrei, und es war vorbei.“
Bewiesen ist jedoch, dass der Tod alles andere als augenblicklich eintrat, dennoch milderte der Einsatz von Zyklon B den Mordprozess für die Nazi-Mörder: Sie brauchten ihren Opfern nicht mehr in die Augen zu sehen, wenn sie sie ermordeten. Höß schrieb, er sei „erleichtert“ gewesen, dass diese neue Tötungsmethode gefunden worden war, denn das „ersparte ihm ein Blutbad“. Er sollte sich getäuscht haben, denn das richtige Blutbad sollte erst noch seinen Anfang nehmen; – bis zum bitteren Ende.
Von Rolf von Ameln
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