Der Sommer des Jahres 1941 war für den Krieg gegen die Sowjetunion als auch für die NS-Politik den Juden gegenüber entscheidend. Im Juli lief der Krieg für die Nazis noch perfekt ab, die Wehrmacht war auf schnellem Vormarsch; – nichts schien stoppen zu können. Goebbels notierte zuversichtlich am 8. Juli in seinem Tagebuch: „An unserem Sieg in Rußland zweifelt niemand mehr.“
An Ort und Stelle jedoch war die Lage weitaus komplizierter. Die Hungerpolitik, die in der Invasionsstrategie eine so große Rolle gespielt hatte, bedeutete zum Beispiel, dass die litauische Hauptstadt Vilnius Anfang Juli nur noch Lebensmittel für zwei Wochen hatte. Göring formulierte deutlich die Nazi-Politik, als er sagte, nur die Menschen hätten Anspruch auf Ernährung, durch die Invasionstruppen, die wichtige Aufgaben für Deutschland erfüllten. Und hinzu kam das ungelöste Problem der Angehörigen jüdischer Männer, die von den Einsatzgruppen der SS und Polizei erschossen worden waren. Frauen und Kinder hatten in den meisten Fällen ihren Ernährer verloren und würden wahrscheinlich besonders schnell verhungern; jedenfalls erfüllten sie keine „wichtigen Aufgaben für das Dritte Reich“.
Zwischenzeitlich wurde eine Krise an Lebensmitteln vorhergesagt, nicht nur an der sogenannten Ostfront, sondern auch in Polen, im Ghetto von Lodz. In diesem besagten Juli schrieb Sturmbannführer Rolf-Heinz Höppner an Adolf Eichmann, den Chef des „Judenreferats“ im Reichssicherheitshauptamt: „Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht zum Arbeitseinsatz fähig sind, durch irgendein schnell wirkendes Mittel zu erledigen. Jedenfalls wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen. Und Ende Juli gab Heinrich Himmler den Befehl, das „Problem“ derjenigen Juden zu lösen, die als „nutzlose Esser“ betrachtet wurden, jedenfalls soweit es die Ostfront betraf.
Er verstärkte die Einsatzgruppen durch Einheiten der SS-Kavallerie und Polizeibataillone. Schließlich waren 40.000 Mann an dem Morden beteiligt, eine Verzehnfachung der ursprünglichen Stärke. Für diese massive Steigerung gab es für die Nazis gute Gründe: Das Morden im Osten solle auf jüdische Frauen und Kinder ausgeweitet werden. Der Befehl dazu erreichte die verschiedenen Kommandeure im Laufe der folgenden Wochen und wurde zum Teil von Himmler persönlich gegeben, als er eine Besichtigungsreise an die Ostfront unternahm. Bis Mitte August 1941 waren alle Mordkommandos informiert. Es war dies ein Wendepunkt im Massenmord an den Juden.
Mit dem Beschluss, dass auch Frauen und Kinder erschossen werden sollten, trat die NS-Verfolgung der Juden in eine grundsätzlich neue Phase ein. Fast alle antijüdischen Maßnahmen der Nazis während des Krieges waren schon bis dahin potentiell völkermörderisch gewesen. Aber nun geschah etwas völlig anderes. Jetzt hatten die Nazis beschlossen, Frauen und Kinder zu sammeln, sie zu zwingen, sich auszuziehen, sich am Rand einer ausgehobenen Grube aufzustellen, und sie zu erschießen. Niemand konnte behaupten, dass ein Baby die deutschen Kriegsanstrengungen gefährden würde, aber die deutsche Soldateska sahen das Kind nicht an und bedienten den Abzug ihrer Waffen. Es kamen viele Dinge zusammen, um diese Veränderung der NS-Politik auszulösen.
Eine wichtige Vorbedingung war natürlich, dass die jüdischen Frauen und Kinder in der Sowjetunion für die Nationalsozialisten nun ein „Problem“ darstellten; wenn sie es auch selbst damit geschaffen hatten, dass sie die Männer vorher erschossen und eine Hungerpolitik im Osten in Gang gesetzt hatten. Aber das war nicht der einzige Grund für den Beschluss, das Morden auszuweiten. Im Juli hatte der „Führer“ verkündet, er wolle „einen Garten Eden im Osten sehen“; selbstverständlich dürfe es in diesem NS-Paradies keine Juden geben. Da die Mordeinheiten jedoch schon längst dabei waren, jüdische Männer zu erschießen, war es aus NS-Perspektive nur logisch, den Mordkommandos weitere Männer zur vollkommenen „Säuberung“ des neuen Garten Edens zu schicken.
Und so wurden die Massentötungen im Sommer 1941 ausgeweitet, und genau dies war auch der Moment, an dem die gesamte „Endlösung der Judenfrage“, die Millionen weiterer Juden, auch in Deutschland, Polen und Westeuropa, betraf, von den Nazis beschlossen wurde. Ein Dokument weist auf eine Verbindung hin. Am 31. Juli 1941 bekam Reinhard Heydrich von Hermann Göring eine Unterschrift auf einen Brief, der feststellte: „In Ergänzung der Ihnen bereits mit Erlaß vom 24.1.39 übertragenen Aufgabe, die Judenfrage in Form der Auswanderung und Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen, beauftrage ich Sie hiermit, alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa.“
Mit diesem Schreiben gab Göring Heydrich die Generalvollmacht für die „Endlösung“, also für die Ermordung aller Juden im deutschen Einflussgebiet genau in dem Augenblick, wo die Mordeinheiten im Osten dabei eingesetzt werden sollten, auch jüdische Frauen und Kinder zu erschießen.
Fortsetzung folgt.
Von Rolf von Ameln
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