Der Regierungsumzug von Bonn nach Berlin
Bundespräsident Richard von Weizäcker verlegte als erster seinen Dienstsitz am 18.01.1994 von der Bonner „Villa Hammerschmidt“ in das Berliner „Schloss Bellevue“, behielt aber den Bonner Dienstsitz als Zweit-Residenz für weitere Jahre, sowohl für sich, als auch dann für nachfolgende Bundespräsidenten. Damit war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bundesregierung und damit die Ministerien und Botschaften, die Lobbyisten und Verbände und natürlich auch deren Personal diesem Vorbild folgen würden.
Nicht alle in Deutschland und Europa teilten diese Umzugseuphorie, hatte man sich doch an Bonn als die Hauptstadt des tatsächlich demokratischen (West-) Deutschland gewöhnt, dessen Grundgesetz die Lehren aus der Geschichte dokumentierte.
Trotzdem Berlin im Einigungsvertrag von 1990 als zukünftige Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands vertraglich fixiert wurde, konnte in der historischen Abstimmung des Parlaments am 20.06.1991 der Beschluss zum Umzug nur mit drei Stimmen Mehrheit gefasst werden. 1993 beschloss dann der Bundesrat (Ländervertretung), den vollständigen Umzug, denn dieser wollte ursprünglich in Bonn bleiben.
Bis aber alle Bauten in Berlin vollständig arbeitsbereit waren, nutzten viele Ministerien beide Dienstsitze und pendelten regelmäßig zwischen Bonn und Berlin. Die Fluglinien und Taxi-Gesellschaften in Köln/Bonn und Berlin-Tegel haben das sehr wohlwollend mitgetragen.
Bonn war bis dahin eine ruhige und trotz aller rheinischen Toleranz eine eher konservative „Beamtenstadt“, deren Pulsschlag vom Arbeitsrhythmus von Bundestag und Bundesrat bestimmt war. Nicht nur die Stadt, sondern die ganze umliegende Region Bonn-Rhein-Sieg und Ahrweiler waren dadurch monostrukturell geprägt. Die Jahrzehnte der Arbeit von Bundespräsidenten, Bundeskanzlern, Bundesrat, Parlament, Ministerien, Botschaften und Verbänden haben die Menschen, die Einzelhändler, die medizinischen und kulturellen Einrichtungen, die Dienstleister insgesamt und speziell die Hotels, ja das ganze gesellschaftliche Leben tief und nachhaltig geprägt. Die Bonner Universität machte da keine Ausnahme. Aus diesem Grund brachte der angekündigte Regierungsumzug auch so eine massive Verunsicherung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens mit sich, insbesondere aber bei denen, die bisher in einer gewachsenen Symbiose mit der Regierung und dessen Umfeld gelebt haben, so auch die Hotels.
Die Kollegen hatten tatsächlich teilweise existenzielle Ängste. Alles was bis dahin Jahrzehntelang galt und gewohnt war, wurde jetzt in Frage gestellt. Um das nachvollziehen zu können muss man die bis dato gängige Praxis in Bezug auf Veranstaltungen und Zimmer-Buchungen aller Größenordnungen in den Hotels verstehen. In Bonn hatten sich für Veranstaltungen, Tagungen, Messen und Kongresse, Produktpräsentationen und politischen Zusammenkünften sehr eingefahrene Gleise herausgebildet. Jedes Ministerium, jeder Verband, jede Botschaft etc. hatten ihr „Stamm-Hotel“ und es war gängige Praxis, dass immer nach Abschluss einer Veranstaltung, die nächste im kommenden Jahr gebucht wurde. Dahingehend dachte das Parlament und deren Umfeld langfristig und jeweils bis zur nächsten Sommerpause im Voraus.
Die Banketträume und Zimmer-Buchungen waren somit langfristig fest geplant und ein sicheres Forecast (wirtschaftliche Vorschau) war problemlos möglich. Hinzu kam, dass die Abrechnung der bestellten Personenzahlen für Veranstaltungen und Zimmer, bei Abweichungen am Veranstaltungstag nicht in Frage gestellt wurden. Unsere AGB waren dahingehend eher rudimentär, denn auf Business-Bedarf ausgerichtet.
Mit Beginn des Umzuges gab es aber schlagartig immer weniger Buchungen aus dem Umfeld der Regierung, bis hin zum völligen Stillstand. Ein weiterer wichtiger Aspekt war, dass die Personen des öffentlichen Lebens, die Politiker, Mitarbeiter der Ministerien und Botschaftsmitarbeiter auch als Privatgäste mit ihren Familien- und anderen Feierlichkeiten die Hotels frequentierten. Von der Taufe über Feiern zur Kommunion, Geburtstagsfeiern, Hochzeiten, Ehejubiläen, Trauerfeiern etc., alles fand ebenso normal bei uns statt, wie politische Veranstaltungen. Hier gab es tatsächlich Politiker zum Anfassen. Aber auch diese Tradition war mit dem Umzug weitgehend hinfällig, denn die meisten Politiker etc. verlegten zwangsweise auch ihren Wohnsitz nach Berlin.
Positiv in diesem Wandel der Stadt hat sich der s.g. Bonn-Berlin-Ausgleich in Höhe von ca. 1,5 Milliarden DM für Bonn ausgewirkt. Die größten DAX-Werte: Deutsche Telekom, T-Mobile, Post und Postbank, DHL, wurden damit ebenso nach Bonn geholt, wie zahlreiche UN-Sekretariate. Die Infrastruktur wurde grundlegend modernisiert und damit die Stadt und die umliegenden Regionen in die Neuzeit katapultiert.
AW-Wiki schreibt in einer Analyse dazu: „Um die Nachteile des Bonn-Berlin-Umzugs großer Teile der Bundesregierung auszugleichen, einigten sich der Bund und die Region Bonn/Rhein-Sieg/Ahrweiler am 29. Juni 1994 auf die Bonn-Berlin-Ausgleichsvereinbarung. Insgesamt 75 Projekte erhielten aufgrund ab 1994 aufgrund dieser Vereinbarung unmittelbar finanzielle Hilfen vom Bund. Mehr als 1000 weitere Projekte wurden initiiert oder mittelbar gefördert. Nach einer Erhebung des Bundesbauministeriums, das für die Ausgleichsvereinbarung zuständig war, wurden bis zum Auslaufen der Förderung am 31. Dezember 2004 in den unmittelbar geförderten Einrichtungen in der Region mehr als 2000, in den mittelbar geförderten etwa 17.000 Arbeitsplätze geschaffen oder gesichert. Der größte Batzen jedoch, 858 Millionen Euro, wurde für den Ausbau der Region als Wissenschaftsstandort vorgesehen. Dazu zählen die Errichtung des Zentrums für Informationstechnologie Bonn-IT (56,2 Millionen Euro) und der Technologieplattform für Hirnforschung und Neurowissenschaften „Life & Brain“ (15,3 Millionen Euro). Je 30,7 Millionen Euro gewährte der Bund für die Errichtung eines Nord-Süd-Zentrums für Entwicklungsforschung und eines Zentrums für europäische Integrationsforschung.
256 Millionen Euro aus dem Bundessäckel flossen in den Anschluss des Köln-Bonner Flughafens an die ICE-Neubaustrecke Köln/Rhein-Main, 74 Millionen in den wirtschaftlichen Strukturwandel, 60 Millionen in die Region Bonn als Kulturstandort. Für das 300 neue Arbeitsplätze bietende Center for Advanced European Studies (Caesar) sah die Ausgleichsvereinbarung den größten Einzelposten vor: 350 Millionen Euro.“
Die o.g. DAX-Werte brachten ca. 60.000 hochqualifizierte Mitarbeiter mit gutem Verdienst mit und ebenso bis dahin eher unbekannte Ansprüche des Business. Die Immobilienpreise als Indikator für die gesellschaftliche Wertung einer Stadt belegen, dass kein Niedergang wie befürchtet stattfand, sondern umgekehrt ein Aufschwung. Einzig das ehemalige Diplomatenviertel und Bonn-Bad Godesberg insgesamt haben trotz hoher Immobilienpreise mit dem massenhaften Zuzug von Menschen mit Migrationshintergrund eine andere Entwicklung genommen und sind heute mit dem Flair der Regierungszeit kaum noch vergleichbar.
Wir selbst haben zu jener Zeit 100% unsere Gäste verloren und dafür aber 105% neue Gäste gewonnen.
Der Punkt war aber, dass von den bisher sehr langfristigen Buchungen zu extrem kurzfristigen Buchungen umgeschaltet werden musste und die Marktmacht der DAX-Werte auch einige Schattenseiten zeigte. Wenn beispielsweise eine Veranstaltung für 100 Personen fest gebucht war und am Tage dann nur 60 kamen, so wollte man am Anfang auch nur diese bezahlen, obwohl der Vertrag anderes vorsah. Es hat einige Zeit und Anstrengungen gekostet, bis auch die dortigen Verantwortlichen verstanden, dass Dienstleister wie wir, Gastlichkeit und Wirtschaftlichkeit als Einheit verstehen und daher die AGB einen immer größeren Raum im Vertragsgeschehen einnahmen.
Für alle Hoteliers, so auch für uns galt: Marketing und aktives Sales-Management bekam von heute auf morgen einen völlig neuen Stellenwert.
Die neuen Mitarbeiter und die für die DAX-Werte tätigen Agenturen usw. kannten die Bonner Hotels nur rudimentär oder gar nicht und mussten daher erst eigene Erfahrungen sammeln. Umgekehrt erlebten wir aber auch, dass in den Leitungs- und Führungsebenen der neu etablierten DAX-Werte ein permanenter Wechsel stattfand. Auch eine Erfahrung, wie sich Langfristigkeit und Stetigkeit zu Kurzfristigkeit und Wechsel wandelte. Business statt Politik.
Jetzt ein Forecast für einen Monat oder gar ein Quartal zu erstellen, wurde nahezu unmöglich und somit die kaufmännische, auf Kennzahlen beruhende Führung eines Hotels immer schwieriger. Nicht selten hatte man das Gefühl statt kaufmännischer Steuerung in der Glaskugel zu lesen. Dieser Umstellungsprozess dauerte länger als ein Jahr und war begleitet von der gleichzeitig stattfindenden, evolutionären Entwicklung des Internets und des www. Die Mitarbeiter der DAX-Werte waren uns in der täglichen Anwendung des www in dieser Hinsicht weit überlegen. Der E-Mail-Verkehr steckte noch in den Kinderschuhen und die eigene Web-Site war aus heutiger Sicht aus der Steinzeit.
Die Marktführer unter den Online-Distributionskanälen begannen immer stärker das Zimmer-Buchungsverfahren zu beeinflussen und übernahmen fast vollständig die Buchungshoheit durch s.g. Bestpreisgarantien (für das Buchungsprotal). Wer dies verletzte, riskierte aus dem Buchungsportal ausgeschlossen zu werden und das war dann tatsächlich existenzgefährdend, denn die DAX-Werte buchten aus durchaus nachvollziehbaren Gründen ausschließlich über diese Kanäle.
Erst über 10 Jahre später ist es dem Deutschen Hotelverband (IHA) juristisch gelungen, den Hotels wieder zu ihrem hoheitlichen Recht zu verhelfen.
Mit dem s.g. Internet 2.0 kamen auch völlig neue Dienstleister ins Spiel, wie z.B. Web-Designer, Programmierer für Buchungsmaschinen in der eigenen Web-Site, App-Programmierer, Managementsysteme für Online-Distributionskanäle und vieles mehr. Die Kosten waren hoch und die Erfahrungen damit gering. Kein Wunder, dass zahlreiche schwarze Schafe unterwegs waren. Alles lief parallel und gleichzeitig zum Regierungsumzug.
Die Marktmacht der Online-Distributionskanäle spiegelte sich insbesondere in immer schneller steigenden Kommissionszahlungen wieder. Wer Premium behandelt werden wollte (Platzierung auf Seite 1 der Buchungs-Website), der musste zwischen 10 und 35% Kommission je Buchung (meist sogar noch Brutto) zahlen. Diese Praxis läuft jedem Gedanken an Wirtschaftlichkeit zuwider. Hinzu kommt, dass mit der neuen Klientele die Kreditkartenabrechnungen sprunghaft anstiegen und Zimmer-Buchungen ohne Kreditkarte die absolute Ausnahme wurde. Wer dann noch Rabatte (wegen großer Buchungsvolumina) geben sollte, der lief Gefahr, statt Wertschöpfung nur noch Raubbau zu betreiben, denn der Gewinn sank auf ein nicht mehr nachweisbares Maß.
Diese dramatische Kausalkette habe ich in Vorträgen vor Kollegen, vor Studenten der Tourismuswirtschaft und vor Rechtsanwälten, die mit Insolvenzrecht befasst sind, immer wieder erläutert denn es ist ein schleichender Prozess des Niedergangs eines Hotels. Aus Ertragsschwäche wird Liquiditätsschwäche und daraus binnen Jahresfrist meist auch eine Insolvenz. (dazu mehr im Teil 10: Sanierung eines Hotels in Insolvenz).
Von Gerhard Werner Schlicke
(Alle Ereignisse beruhen auf wahren Begebenheiten, Namen von noch lebenden Personen wurden verfremdet oder aus Gründen der Diskretion weggelassen)
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