Leipzig ist zugeschneit, wie kaum zuvor in diesem Jahr. Eigentlich ein richtiges Lese- und Buchwetter. Doch hier geht es im Moment um die Buchmesse, die alljährlich stattfindet. Rumänien, Gastland der Buchmesse 2018, ist irgendwo versteckt zu lesen. Vierzig rumänische Bücher sind ins Deutsche übersetzt worden, können gelesen und sollten gelesen werden. Gute Literatur aus einem anderen Kulturkreis, den wir entdecken sollten. Kompetente Übersetzer sind unterwegs, um die Gespräche auf den Podien, eine reiht sich an das andere, zu übersetzen. Interessante Gespräche über Politik, auch der vergangenen Politik, werden geführt, über Literatur und Wünsche sowieso. Die heimische Regierung sollte sich an den Schriftstellern orientieren, die offen und klug über die Historie des Landes und die Gegenwart diskutieren. Staatspräsident Klaus Johannis, der Hoffnungsträger, fehlt. Er hätte nach Leipzig kommen sollen, schließlich wird nicht nur die literarische Kultur vorgestellt, auch 100 Jahre Rumänien wird gefeiert.
S.E. der Deutsche Botschafter in Bukarest, Cord Meier-Klodt, tummelt sich durch die Vielfalt der Podiumsgespräche. Sein Interesse an der Literatur seines Gastlandes ist zu spüren. Nach der Eröffnung des Schwerpunktlandes Rumänien ließ Mircea Dinescu, Schriftsteller und Gastronom aus Bukarest, Tafeln. Es duftete in der Halle 40, die Tische bogen sich, die Zuhörer stürzten sich auf die wohlschmeckenden rumänischen Speisen, bis die Messeverwaltung einschritt und die Töpfe mit dem Gesottenen verschwinden mussten. Hinter dem Vorhang ging‘s dann weiter. Dinescu will abreisen, ist wütend, doch bleibt. Ja, Rumänien bietet eben Vielfalt! Von einem zutiefst europäischen, einem modernen Land ist zu hören mit ethnischer und religiöser Vielfalt.
Vor dem erwähnten Vorhang sind fotografische Portraits an einer großen aufgestellten Wand arrangiert befestigt. Exzellente Portraits übrigens, in klassischem Schwarz-Weiß. Marc Schröder, der Fotograf, hat sie aufgenommen, ist Luxemburger und reiste vor acht Jahren dem siebenbürgischen Dialekt nach. Zuhause erfuhr er von der Ähnlichkeit der luxemburgischen und der siebenbürgisch-sächsischen Mundart. Vor achthundert Jahren kamen Kolonisten aus dem Moselland und Luxemburg in die Karpaten und blieben. Vor achtundzwanzig Jahren öffnete sich das Land, der Exodus begann und die meisten Bewohner zogen scharenweise über die Karpaten nach Westen, nach Deutschland. Marc Schröder erfuhr auf seiner ersten Reise in Hermannstadt/Sibiu von den Aushebungen im Januar 1945. Aus fast jeder deutschen Familie in Rumänien, Ungarn und angrenzenden Ländern wurden Männer und Frauen ausgehoben und zur Schwerstarbeit in die Kohlegruben ins Donezbecken deportiert. Viele starben bereits auf dem Weg nach dort, andere kamen durch Kälte, Schwerstarbeit, Hunger und Typhus ums Leben und kamen nicht mehr zurück. Marc Schröder ließ das Thema nicht los und begann sich intensiv damit zu befassen, hat in den Jahren überlebende Männer und Frauen im gesamten Land besucht, von ihnen über das damalige Schicksal gehört und die Menschen fotografiert. Eine vielfältige Sammlung von Erzählungen und Fotos entstand. Ein winziger Ausschnitt dieser großartigen Arbeit ist hier zu sehen, die Texte erklären das Thema „Immer war diese Hoffnung – ehemalige Russlanddeportierte erinnern sich“. Das Deutsche Kulturforum östliches Europa in Potsdam unterstützte finanziell diese Fotoausstellung und Dr. Ingeborg Szöllösi, die Mitarbeiterin, war mit ihrer Kompetenz zur Stelle, Georg Aescht übersetzte ins Rumänische. Marc Schröder wünsche ich einen interessierten Verleger, um mit ihm diese gesammelte Vielfalt zu einem Buch bündeln zu können.
Stolz sind die Rumänen auf ihre hundertjährige Geschichte, weniger stolz sind sie auf ihre faschistische Zeit, doch die hundertjährige Geschichte und der Faschismus scheinen eng verbunden zu sein, war zu hören. Auch waren die Orthodoxe Kirche und der Faschismus stark miteinander verbunden. Bis 1918 gehörten große Gebiete zu Österreich-Ungarn mit unterschiedlichen Mentalitäten und Religionen, nach dem 1. Weltkrieg zerfiel die Donaumonarchie, die Gebiete wurden aufgeteilt und Großrumänien entstand.
In Italien entwickelt sich der Faschismus, in Ungarn ebenso und der Deutsche Nationalsozialismus greift um sich nach der Weimarer Republik. Reichspräsident Paul von Hindenburg übergibt Adolf Hitler 1933 in Potsdam das „Zepter“ und ernennt ihn zum Reichskanzler. Als einer der übelsten Diktatoren und Mörder entwickelt sich dieser, der schlimmste des Jahrhunderts, vielleicht sogar der letzten Jahrhunderte? Rumänien orientiert sich an diesen faschistischen Ländern. Aufarbeitung tut in der Gegenwart not. Während der kommunistischen Ära wird über die noch überlebenden und dagebliebenen Juden nicht gesprochen, über die Progrome in der Zeit des Faschisten Ion Antonescu im gesamten Land ebenso wenig. Anfang der 1980er Jahre werden viele der Juden von Staatspräsident Nicolea Ceaucescu nach Israel für Amerikanische Dollar verkauft.
Catalin Mihuleac, der in Jassi in der Moldau lebt, schrieb sein Buch Oxenberg & Bernstein. Das Buch wurde ins Deutsche übersetzt. Jassi in der Moldau war das Zentrum des rumänischen Judentums, 127 Synagogen soll es gegeben haben, heute existiert noch eine. Der Jüdische Friedhof zeigt noch heute die Präsenz der Jüdischen Bevölkerung in der Stadt und der Umgebung.
Über Progrome in der NS-Zeit im eigenen Land wird auf den unterschiedlichen Podien intensiv gesprochen. Den rumänischen Schriftstellern ist das wichtig. In Odessa, Jassi, auch in Bukarest fanden schreckliche Ausschreitungen und Gewalttaten gegen Juden statt. Im Bukarester Schlachthaus wurden sie wie Vieh an die Fleischerhaken gehängt. Man ist sich einig, dass Lehrer und Professoren endlich lernen müssen, Schüler und Studenten korrekt über die schreckliche Zeit aufzuklären. Zu hören ist, dass die Geschichtswissenschaft schlecht und die Vermittlung falsch ist. Die Orthodoxe Kirche und der Faschismus paarten sich gut, wird erzählt. Vor Jahren leugnete Dan Sova, ein junger sozialistischer Politiker in Bukarest, den Holocaust und lobte gar Marschall Antonescu, den Faschisten, den „Redlichen“, der seinerzeit rumänischer Staatschef war und sich mit Hitler verbündete. Von einem Fauxpas wird gesprochen. Ich nenne es einen Skandal! Absolute Dummheit, keine Geschichtskenntnisse, keine Bildung kommen hinzu. Doch auch ohne Hitler gab es in Rumänien Massenmorde. In der Wiesel-Kommission wird von 280.000 bis 380.00 ermordeten Juden und von über 20.000 ermordeten Roma berichtet. Gequält und erschossen wurden sie oder starben in den Lagern in Transnistrien. 1944 wurde Antonescu mit Hilfe von Parteien und des Königs gestürzt und an die Sowjetunion ausgeliefert. Zurück in Rumänien bekam er einen Prozess und wurde 1946 nach einem Urteil liquidiert. Noch heute wird Ion Antonescu in Rumänien als Held gefeiert. Prozesse dagegen und dafür gab es in den Jahren, doch die Verehrung beim Volk bleibt.
Nora Iuga, die Grande Dame der rumänischen Literatur, plaudert kurzweilig über ihr Leben mit der Poesie, die Schriftstellerei und die Lyrik. Mit George Almosnino, dem bekannten rumänischen Lyriker, war sie verheiratet. Dieser war Sohn sephardischer Juden und starb 1994 in Bukarest. Posthum hat sie weitere Lyrikbände von ihm herausgegeben. Ernest Wichner ist kompetent, kennt Nora Iuga seit Jahren, hat Bücher und Lyrik von ihr aus dem Rumänischen ins Deutsche übersetzt. Aus dem Banat in Rumänien stammt er selbst, ist ein Freund von Herta Müller, der Nobelpreisträgerin, und war bis 2017 Leiter des Literaturhauses in Berlin in der Fasanenstraße. Nora Iuga, die Schriftstellerin übersetzt vom Deutschen ins Rumänische, übersetzte in den Jahren über fünfunddreißig Bücher, auch Literatur von Herta Müller, Elfriede Jelinek und Günther Grass, den drei Nobelpreisträgern. Den Friedrich-Gundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung bekam sie 2007, vor drei Jahren verlieh ihr die Bundesrepublik Deutschland das Bundesverdienstkreuz. 18 Lyrikbände sind von ihr erschienen, 8 Romane, Tagebücher und Essays. Zu jedem wichtigen Literaturtreffen in Rumänien, oft auch in anderen europäischen Ländern, wird sie eingeladen, im Rundfunk und Fernsehen ist sie präsent. Im letzten Jahr übersetzte sie zusammen mit Radu Mihai Alexe ein Buch von Dana Grigorcea.
Dana Grigorcea und Catalin Dorian Florescu haben auf einem anderen Podium Platz genommen und sprechen über Rumänien, über das Land in dem sie geboren wurden, von dem sie weggingen. „Flüchtlinge versus Flaneure: Rumänische Schriftsteller im deutschen Sprachraum“ war der Titel dieser Diskussion. Beide Schriftsteller haben ihr neues Zuhause und ihre schriftstellerische Heimat in der Schweiz gefunden. Unterschiedliche Ansichten und Meinungen auch bei ihnen über das Balkanland. Dana Grigorcea wurde 1979 in Bukarest geboren, studierte in Bukarest, Gent, Brüssel und Krems an der Donau, arbeitete in Österreich, in Deutschland und in der Schweiz bei Zeitungen und dem Fernsehen, lebt in Zürich mit Ehemann und zwei Kindern, in diesem Jahr erschien ihr 5. Buch. Vor drei Jahren nahm sie am Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagefurt teil und gewann den 3sat-Preis. Mit dem Buch „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ bin ich gerne durch den Stadtteil Cotroceni in Bukarest mit meiner Kamera gelaufen, dem Stadtteil ihrer Kindheit und Jugend.
Catalin Dorian Florescu erzählt gerne, hat er vor Jahren gesagt. Im Internet wird er als “ein herausragender Meister der Erzählkunst“ betitelt. In Temeswar im Banat wurde er 1960 geboren, floh mit seinen Eltern über Umwege 1982 in den Westen Europas. Die Schweiz war ein Zufall, eine Fügung, inzwischen ist er Schweizer Staatsbürger. Studium der Psychologie und Psychoanalyse in Zürich, Arbeit als Psychotherapeut in einem Rehabilitationszentrum, seit 2001 ist er freier Schriftsteller. Zum Stadtschreiber in vielen Orten wurde er ausgewählt, mit Buchpreisen und Stipendien bedacht, weit über zehn Romane und Essays hat er geschrieben, „Jacob beginnt zu Lieben“ versetzte mich in historische Zeiten des Banats, dem Einwanderungsgebiet der Banater Schwaben in der Pannonischen Tiefebene.
Die dritte im Bunde dieses Podiums ist Gabriele Markus, Tochter deutsch-jüdischer Emigranten, 1939 wurde sie in Bern geboren, ließ sich später als Sängerin ausbilden, erzählt interessant über Aglaja Veteranyi, über ihre Begegnung, ihre Freundschaft und Verbundenheit. Aglaja, das Zirkuskind, wurde 1962 in Bukarest geboren, kam mit den Eltern und dem Zirkus 1977 in Zürich an. Schulbesuche waren kaum möglich, Wanderschaften mit dem Zirkus und die Akrobatik waren ihr Alltag, Lesen und Schreiben waren ihr fremd. Gabriele Markus erzählt über die Freundin, die im Zirkuswagen groß wurde und wunderbar dichtete, mit viel Fantasie und Wille ausgestattet war Schauspielerin und Schriftstellerin wurde, Preise und Stipendien bekam und sich 2002 das Leben in Zürich nahm. Gabriele Markus trat in Konzerthäusern und Theatern auf, ist heute Gesangspädagogin in Zürich, schreibt Lyrik und Prosa.
Hinter mir höre ich die Stimme von Thomas Sparr, der am Israelischen Kulturstand über sein neues Buch „Grunewald im Orient – das deutsch-jüdische Jerusalem“ begeistert erzählt. Anschließend wird an siebzig Jahre Israel erinnert und siebzig Bilder vorgestellt. Die Journalistin Shelly Kupferberg aus Tel Aviv und Berlin ist umtriebig und wissend und moderiert die Geschichte mit den Postern. Henrietta Singer und Sara Neumann haben die Idee umgesetzt. Henrietta studierte Kommunikationsdesign in Mainz, Sara kommt aus Jerusalem, hat ein Drehbuch-Studium absolviert und wohnt in Frankfurt am Main. Die beiden jungen, modernen Frauen sprechen über das Projekt und die Postersuche. Auf Dachböden kramten sie, in Archiven und Museen wurden sie fündig, bekamen Tipps von Privatleuten. Hunderte von Poster kamen zusammen, doch nur die ansprechendsten und interessantesten kamen in die Auswahl. Eine Zeitreise durch die siebzigjährige Geschichte Israels entstand, von 1948 bis heute. „70 Jahre Israel in 70 Plakaten“ ist im verlag hermann schmidt erschienen.
„30 Jahre im Exil“ steht im Programm. Michael Krüger, der Verleger und Schriftsteller aus München unterhält sich mit Norman Manea, kennt dessen Leben und seine schriftstellerischen Werke. Manea wurde 1936 in Suceava in der Südbukowina geboren und als Kind, 1941, mit der gesamten Familie nach Transnistrien deportiert. 1945 kam die Familie zurück nach Suceava. Norman besuchte dort die Schule, studierte später Maschinenbau in Bukarest, in den 70er Jahren begann er zu Schreiben. Den Holocaust und die kommunistische Zeit in Rumänien thematisiert er in seinen Werken, 1986 ging er ins Exil nach West-Berlin und 1988 mit einem Stipendium in die USA, wo er noch heute mit seiner Gattin lebt. Der jüdisch rumänische Schriftsteller Norman Manea ist inzwischen ein international anerkannter Schriftsteller, wird überhäuft mit Stipendien und Preisen, ist ein interessanter Erzähler und ein gerne gesehener Gast, seit Jahren Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.
Schräg gegenüber ist ein ziemlich kleiner Stand, oben am Kopfende steht in großen Lettern MERIDIAN und verrät uns, woher er kommt. Der Czernowitzer MERIDIAN ist gemeint, das Poesiefestival, das seit acht Jahren in der berühmten Metropole der ehemaligen Bukowina, in der heutigen Ukraine, alljährlich stattfindet. Igor Pomerancew und sein Neffe waren die Gründer, Petro Rychlo, der Literaturprofessor der Universität ein wichtiger Übersetzer und wichtiger Akteur. Eine fiktive Wiederbelebung des einstigen deutsch-jüdischen Lebens soll das Festival sein und an die deutschsprachigen jüdischen Schriftsteller erinnern, die Czernowitz zur Berühmtheit in der ganzen Welt verhalfen. Serjij Zhadan der bekannte Ukrainische Schriftsteller las aus „Internat“ und Ewgenija Lopata moderiert und übersetzt ins Deutsche. Seit drei Jahren ist sie Festivalleiterin des MERIDIAN.
Mein Radius ist knapp, wie ich bereits sagte, viel gäbe es noch zu berichten. Im nächsten Jahr ist wieder eine Buchmesse. Mit dem letzten Zug fahre ich aus dem zugeschneiten Bahnhof heraus in die tiefe Nacht nach Berlin.
Von Christel Wollmann-Fiedler
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