Am zweiten Tag der Ausstellung der «Rollen vom Toten Meer» im Denver Museum für Natur und Wissenschaften, war die Suche nach einem Parkplatz genauso schwierig, wie der Versuch, ein Ticket für diese hochangesehene Präsentation zu ergattern.
Studenten, Lehrer, Eltern mit Kinderwagen, Jugendliche, ältere Menschen, Akademiker, Touristen haben sich an diesem kalten, verschneiten Morgen vor dem Eingang zum Museum versammelt. Organisiert von der Israelischen Antiquitäten Behörde (IAA), umfasst diese Ausstellung unvorstellbare Schätze: zehn Rollen (einige von ihnen wurden noch nie ausgestellt) und über 6.000 hebräische Ausstellungsstücke.
Die zufällige Entdeckung der Rollen im Jahr 1947 durch junge Beduinen klingt wie eine Spionagegeschichte. Sie begann mit einer verirrten Ziege. Der Staat Israel stand kurz vor seiner Entstehung. Der Schäfer Muhammed edh-Dhib und zwei Freunde verloren inmitten der trockenen Umgebung von Qumran, am nordwestlichen Ufer des Toten Meeres eine Ziege. Er vermutete, dass sie sich in einer Höhle befand, ging hinein, warf einen Stein – und zerbrach ein tönernes Gefäss. Dort fand er eine Sammlung von antiken Gefässen und dazwischen ein Pergament, das mit einer ausgebleichten Schrift beschrieben war und in zerschlissenes Leinen eingewickelt war.
Edh-Dhib war ahnungslos auf einen der grossartigsten historischen und archäologischen Schätze gestossen.
Ohne sich des Wertes bewusst zu sein, brachten Edh-Dhib und seine Freunde das Fragment zu Kando, einem Antiquitätenhändler aus Bethlehem. Kando wies ihn an, zurückzugehen und nach mehr zu suchen. Die Beduinen kamen mit sieben Rollen zurück, verkauften davon vier an Kando und drei an einen Händler namens Salahi. Kando verkaufte die Rollen weiter an Erzbischof Samuel, den Vorsteher des syrisch-orthodoxen Klosters St. Markus in Jerusalem.
Als Professor Eliezer Lipa Sukenik von der Hebräischen Universität von diesen ungewöhnlichen Rollen erfuhr, arrangierte er ein Treffen mit einem armenischen Händler im von Briten beherrschten Militärgebiet entlang der Grenze zu Jerusalem.
Der Armenier hielt ein Fragment hoch und Sukenik spähte durch den Stacheldraht. Er erkannte die archaische Schrift und traf sich mit Salahi, um dessen Rollen in Bethlehem zu sehen. Dort erkannte er ungläubig eine 2.000 Jahre alte Entdeckung. Sukenik erwarb Fotos von den drei Rollen im St. Markus Kloster und veröffentlichte sie 1948.
Im Jahr darauf schmuggelte der syrisch-orthodoxe Erzbischof Samuel seine vier Rollen nach New Jersey. 1954 platzierte er ein Inserat im Wall Street Journal und bot die vier Rollen zum Verkauf an. Yigal Yadin, der Sohn von Prof. Sukenik, selbst ein gefeierter Archäologe (und später hochrangiger Politiker) erwarb die Rollen für den Staat Israel.
1965 baute Israel den «Schrein der Bücher», um dort die sieben Rollen gemeinsam unter einem Dach zu beherbergen.
Während der letzten 71 Jahre wurden 90 Manuskripte und mehr als 10.000 Fragmente, die alle von den Essenern stammen, entdeckt. Man sagt, dass diese jüdische Sekte dort zwischen 140 BCE und 70 CE gelebt hat.
Seit die Rollen nach ihrem 2.000 Jahre andauernden Schlaf erwacht sind, sind sich Archäologen, rivalisierende religiöse Gruppierungen und Akademiker verschiedener Fachrichtungen immer wieder gegenseitig auf die Zehenspitzen getreten, um Zugang zu ihren fragilen Geheimnissen zu bekommen. Die Rollen sind das grösste Puzzle der Geschichte. Zehn Rollen, wunderbare Pergament Schnipsel, sprichwörtlich der Geschichte entrissen, liegen im Museum. Dort können wissenschaftliche Beweise und ihr schwer zu lösendes Geheimnis gut miteinander existieren.
Niemand versteht das besser, als Jennifer Loss Mogan, die Museumspädagogin, die Intermountain Jewish News durch die Ausstellung führt. Was folgt, ist kein schrittweiser Reisebericht über Ausstellungsstücke, die 3000 Jahre alt waren bevor sie entdeckt wurden. Es ist eine facettenreiche Unterhaltung über die Rollen, eine sichtbar gewordene Erzählung vom geheimnisvollen Überleben und eine akademische Jagd im Versuch, die radikale jüdische Sekte zu verstehen, die sie erschaffen haben und dann urplötzlich verschwanden. Ein Puzzle dieser Grösse kann nicht allein gelöst werden.
Logan, die immer wieder vor einem der Ausstellungsstücke stehenbleibt, bevor man zu der besonders beachteten Halle der Rollen kommt, sagt: «Unsere biblischen Texte bezeugen den unmittelbaren Weg, der zum Monotheismus führte, z.B. dem Bruch mit den Hausgöttern. Es ist faszinierend. Aber was ich an dieser Ausstellung am meisten liebe, ist die Art, wie sich die Ausstellungsstücke in vorhandene Lücken einfügen und die darunter liegende verwirrende Geschichte erzählen.» sagt sie und zeigt auf eine Sammlung von winzig kleinen, für den Haushalt geschaffenen, Idolen, die etwa aus dem 10. bis 7. Jahrhundert BCE stammen. «Es ist klar, dass die Menschen Zeit brauchen, den Text zu verstehen.»
Ob man Gegenstände untersucht, die aus der Zeit des Ersten Tempels stammen, der um 586 BCE zerstört wurde, oder solche, aus der Anfangszeit des Zweiten Tempels, etwa 515 BCE oder später erklärt Logan «dass es hier viele Beispiele gibt, wo archäologische und bildliche Beweise auf biblische Beschreibungen treffen.»
Logan erreicht die Halle der Rollen. Ein geschickt ausgeleuchteter, beeindruckender Raum mit einem kreisförmigen Sockel, der von einem Tongefäss gekrönt wird, das 1947 gefunden wurde. Die Schlichtheit der Präsentation ist unglaublich.
«Teile von Genesis, Exodus, Leviticus, Numbers und Deuteronomium wurden in der Sammlung von Manuskripten und Fragmenten gefunden.» erklärt Logan. Der gesamte Kanon der hebräischen Bibel wurde in der einen oder anderen Form in den Rollen gefunden – dabei tauchten die ältesten Texte der hebräischen Bibel erst etwa 1.000 Jahre später auf. «Man sieht biblische Texte und Kommentare dazu. Das Alles war schon da. Das ist es, was man in den Rollen findet, sektiererische und nicht-sektiererische Texte.» Die Rollen decken zumindest Teile von jedem biblischen Text ab, mit Ausnahme vom Buch Esther. Weil dieses Fehlen noch nicht erklärbar ist, ist es vorstellbar, dass die Purim Geschichte noch in der Erde ruht.
Damit keine Schäden entstehen, werden die Rollen im Juni, zur Halbzeit der Ausstellung, ausgetauscht. Zunächst werden getauscht: Toharot – Reinheitsgebote (die zum ersten Mal öffentlich ausgestellt werden), Jesaja, Levi (aramäisch), Festtage der Gemeinde, Kriegsrecht, Gemeinderegeln, Psalmen (König David wird als Autor genannt), Exodus (Paleo Hebräisch war die erste Form der hebräischen Kalligrafie), der Bar Kochba Papyrus und Enoch.
Jede Rolle wird identisch präsentiert: Eine kurze Erklärung zum Inhalt, das aktuelle Pergament, eine 1:1 Übersetzung des gesamten Textes und ein hochaufgelöstes Digitalbild. Die Fragmente – atemberaubend, herausfordernd und unlesbar für das untrainierte Auge stellen die zentralen Ausstellungsstücke dar.
Die Besucher werden auf eine 2000-jährige Zeitreise genommen, die teilweise die Gegenwart zu ersetzen scheint. Es ist magisch.
Die Jesaja Rolle, bezeichnet als 1Qlsaa, auch bekannt als die «Grosse Jesaja Rolle», ist eine der ersten sieben Rollen, die die beduinischen Schäfer 1947 in der Qumran Höhle 1 gefunden haben. Zusätzlich zur «Grossen Jesaja Rolle» – dem einzigen Buch, das komplett erhalten ist, wurden in Qumran einige Kopien gefunden. Das lässt vermuten, dass dieses prophetische Werk, das das Wiederkommen des Messias beschreibt, von einzigartigen Bedeutung für die Essener war. «Es ist eindeutig apokalyptisch und verbunden mit den messianischen Zeiten, die kommen werden. Wir wissen, dass für die Essener die bevorstehende Zukunft sehr wichtig war. Wir sehen das als belegt in biblischen Texte an, die zu jener Zeit von allen Juden geteilt wurden. Aber wir sehen auch in den anderen Essener Rollen Gemeinde Regeln und verwaltungstechnische Schriften. Auch das war extrem wichtig.»
Also wer waren die Essener? «Eine gute Frage! Die etwa 300 Essener waren Ableger der ursprünglichen Gruppe, die an einem anderen Ort lebte. Die Gruppenmitglieder, die in Qumran siedelten, mussten männlich, unbescholten und über 21 Jahre sein.» Die Essener aus Qumran hatten Jerusalem verlassen, weil sie überzeugt waren, dass die Bevölkerung die Reinheitsgebote nicht einhielt. «Etwas, was die Menschen rituell unrein machte, war sexuelle Aktivität. Die Essener sahen ganz Jerusalem als Teil des Tempels an. Das erforderte, dass alle dort lebenden Juden rituell rein sein mussten. Nur weil die Menschen dort lebten und Familien hatten, war klar, dass sie Sex hatten. Aber das war eine Entweihung des Tempels. Also verliessen sie die Stadt.»
Logan sagt, dass die aufgefundenen Texte nahelegen, dass die Essener ausschliesslich männliche Mitglieder hatten. Es gibt nur ein oder zwei verborgene Hinweise auf Frauen in den Texten. Allerdings wurden auf dem Friedhof einige weibliche Skelette gefunden. «Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was uns die Texte sagen und was die Archäologie findet.»
Die religiöse Orientierung der Essener unterscheidet sich massgeblich von der der zeitgleich lebenden Sadduzäer und den vorherrschenden Pharisäern, sagt sie. «Die Essener Gemeinschaft hielt sich strikt an die nicht-verhandelbare Vorschrift, jüdische Feiertage niemals zu verschieben. So wollte Jerusalem nicht, dass z.B. Yom Kippur auf einen Freitag oder einen Sonntag fiel. Fiele er auf einen Freitag, könne sich niemand vernünftig auf den Schabbat vorbereiten. Fiele er auf einen Sonntag, könne man sich nicht angemessen auf das Fasten vorbereiten. Jerusalem drehte ein wenig am Neumond und alles funktionierte. Nicht so die Essener. Kein Feiertag wurde verlegt. Alles verlief, wie es verlaufen sollte.» Angesichts simpler Lösungen oder strikter Beachtung der Vorschriften, wählten die Essener Letzteres. Während die Gemeinderegeln sehr differenziert sind, sagt Logan, widerspiegelt der Unterschied zwischen den Essenern und anderen jüdischen Gemeinden deren weiter gefassten Ansatz im Umgang mit den jeweiligen Glaubenssystemen.
Ausstellungsstücke die sich in den Schaukästen an den Wänden befinden, zeigen das Alltagsleben der Essener, von rituell genutzten Gegenständen bis zur Körperpflege; ein aus Kalkstein geschnitzter Becher, der beim Segen vor dem Essen benutzt wird, ein grob gezahnter Kamm, auch ein Kamm zum Herauskämmen von Läusen, Sandalen, winzige Boxen für Tefillin, Leinenstreifen…… «Hier kommen religiöse und alltägliche Dinge zusammen.» sagte Logan.
Die Belagerung von Jerusalem im Jahr 70 CE war der entscheidende Beginn des ersten jüdisch-römischen Krieges. Die Truppen von Kaiser Titus eroberten Jerusalem, schalteten die jüdischen Rebellen aus und zerstörten den Zweiten Tempel. Die Essener von Qumran verschwanden während dieser erdbebenartigen Katastrophe. Vielleicht haben sie mit ihrer starren apokalyptischen Weltanschauung darin das Ende der Welt gesehen. «Es gab Spekulationen, dass die Römer ganz Jerusalem zerstören wollten. Massada liegt nur noch wenige Jahre voraus. Die Essener verstauten die Rollen hastig in Krügen, und verstauten sie, als ihnen keine Zeit mehr zu bleiben schien, in Höhlen.» Es gibt auch Vermutungen, dass die Essener nach Massada, einer das Tote Meer überschauenden Festung flohen. Als die Römer Massada am Ende des ersten jüdisch-römischen Krieges angriffen, begingen 960 Menschen, die meisten von ihnen Rebellen, Selbstmord. «Eine der Rollen, ‘Das Lied vom Schabbat’ wurde in Massada gefunden. Das lässt vermuten, dass Mitglieder der Essener Gemeinde dorthin geflohen waren.» Ob speziell diese Rolle nicht-sektiererisch ist, also für viele zugänglich war, oder sektiererisch, als nur für die Essener erreichbar, ist ungewiss.
Es gibt auch Vermutungen, dass Jesus bei den Essenern lebte, bevor er im Alter von etwa 30 Jahren seine Predigerwanderung aufnahm. «Es gibt interessante Ansätze, die mit dieser Ausstellung verbunden sind und die sich auch mit diesen Aspekten der Geschichte beschäftigen. Für mein Empfinden sind das keine wissenschaftlichen Ansätze.» so Logan, «Wir haben darüber gesprochen, wie wichtig den Essenern rituelle Reinheit war, wie starr sie daran festhielten. Jesus, wie er in den Testamenten beschrieben ist, ist das reine Gegenteil davon. Ganz sicher gab es keine Übereinstimmungen. Aber trotzdem, dieser Punkt ist wichtig für die weitere Entwicklung von Judentum und Christentum. Die Juden glaubten, dass Gott im Tempel wohnte. Dorthin brachten sie ihre Opfergaben. Als der Tempel zerstört war, wohin war ‘Gott’ gegangen, wo konnte man mit ihm sprechen?» Logan sagt, dass beide Religionen, das Judentum und das Christentum diese Fragen für sich beantworten müssen. Das rabbinische Judentum bezieht sich auf die Thora, die Mitzwot und die Gebete. Erhaltung und Herausforderung verschmolzen in den Rollen vom Toten Meer, sagte sie. «Die Tatsache, dass wir so viele Kopien der Jesaja Rolle haben, ist bemerkenswert. Aber hinter all dem gibt es ein Element der Herausforderung: Was wurde in den Krügen versteckt, welche Krüge sind zerbrochen, sei es durch Witterung oder durch Tiere.»
Konservierungstechniken, verstärkt durch Technologien und gesunden Menschenverstand haben sich in den letzten siebzig Jahren laufend weiterentwickelt.» Logan erwähnt ein «..phänomenales Bild aus dem Rockefeller Museum, aufgenommen in Jerusalem. Man sieht dieses helle Licht, das genau auf die Fragmente scheint, die mit irgendeinem Klebband zusammengehalten werden. Und jemand steht da und raucht! Das ist nicht die Art von Konservation, die wir heute praktizieren. Kein Sonnenlicht, keine Klebbänder und keine Zigaretten.» Heutzutage können Wissenschaftler, Linguisten und Amateure die Leon Levy Dead Sea Scrolls Digital Library online besuchen.
Nach fast einer Stunde mit Gesprächen über die Essener in der Halle der Rollen, begibt sich Logan zum letzten Ausstellungsteil «…da wo die Geschichte endet. Wir haben gerade alle diese Dinge gesehen, die mit dem Zweiten Tempel verbunden sind. Wir dachten, wir bringen ein Originalstück von dort hierher.» Ein grosser Stein vom Robinson Bogen, der an der südlichen Ecke der Kotel in Jerusalem unter der Fassade des Zweiten Tempels heraussteht. «Ja, er ist echt!» sagt Logan und lässt ihre Hand über den Stein streichen. «Das ist für viele Besucher die Möglichkeit, zum ersten Mal die Mauer zu berühren, oder sich an ihren letzten Besuch in Jerusalem zu erinnern. Einige der Besucher haben sogar Zettelchen hineingesteckt.» Diese Nachrichten werden nach Jerusalem geschickt und dort in der Kotel plaziert werden. Auf der anderen Seite des Raumes weist und Logan auf eine Webkamera hin, die die Sicht auf die Kotel freigibt.
Denver ist die letzte der sieben Städten in den USA, in denen die Rollen ausgestellt waren. Begonnen hat die Ausstellung in New York, vorhergegangen waren Jahre der Vorbereitung zwischen dem Museum in Denver und der IAA. Einige der Chef Kuratoren reisten mehrfach nach Denver, um sicherzustellen, dass die Konservierungsmethoden exakt eingehalten würden.
Sieht man die Begeisterung in den Gesichtern von Mitarbeitern, Freiwilligen und Besuchern, so weiss man, dass sich die Mühe gelohnt hat. «Man kann erkennen, wie alles aufeinander aufgebaut wurde, und wie die Texte und die Ausstellungsstücke perfekt zueinander passen. Hier wurde ein umfassendes Bild unserer gemeinsamen Geschichte gestaltet.» schliesst Logan.
Die Ausstellung der Rollen vom Toten Meer im Museum von Kunst und Wissenschaft in Denver dauert noch bis zum 3. September 2018.
Von Andrea Jacobs, IJN Redakteurin
Übersetzung: Esther Scheiner
Veröffentlicht mit freundlicher Bewilligung der Intermountain Jewish News, Denver, Colorado, USA.
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