Während das Schicksal vieler Opfer des Nazi-Regimes ungewiss war, wussten ihre Peiniger nach der Kapitulation des „Großdeutschen Reiches“ genau, was sie erwartete: Strafverfolgung und Haft. Ebenso wie der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, seine Vergangenheit zu beschönigen suchte, taten es ihm viele andere gleich. So auch zum Beispiel Oskar Gröning, der ein kleines Rad im Mordgetriebe war, versuchte seinen Kopf zu retten. 1944 war sein Antrag auf Versetzung an die Front endlich genehmigt worden, und er wurde einer SS-Einheit zugeteilt, die in den Ardennen zum Einsatz kam. Nach seiner Verwundung und dem anschließenden Aufenthalt in einem Feldhospital kehrte er zu seiner Einheit zurück, bevor sich diese am 10. Juni 1945 den Engländern ergab.
In der Gefangenschaft bekamen alle Häftlinge einen Fragebogen ausgehändigt. Gröning begriff, dass ihm „die Arbeit im Konzentrationslager Auschwitz negativ ausgelegt würde“, und so versuchte er, die Aufmerksamkeit davon abzulenken. Er gab an, dass er im Wirtschaftshauptverwaltungsamt der SS in Berlin gearbeitet habe. Ihn plagten keinerlei Schuldgefühle wegen der Geschehnisse in Auschwitz, sondern war davon überzeugt, dass „der Sieger immer im Recht ist und wir wussten, dass das, was dort in Auschwitz passiert war, nicht immer mit den Menschenrechten vereinbar war.“ Im Jahre 1946 verlegte man ihn nach England, wo er sich wohler fühlte. Als Zwangsarbeiter führte er ein relativ gutes Leben. Seine Verpflegung war gut und er bekam sogar ein Taschengeld.
Er trat dort dem Chor des YMCA bei und tourte vier Monate lang durch die Midlands und Schottland. Er trug deutsche Kirchenlieder und alte englische Volksweisen wie „A Lover and Hiss Lass“ vor, und sein Publikum war begeistert. Die Zuhörer rissen sich sogar darum, einen Deutschen bei sich aufzunehmen, ihm ein bequemes Bett zur Verfügung zu stellen und am Morgen ein ausgezeichnetes Frühstück zu servieren. Als er schließlich 1947 schließlich entlassen wurde und nach Deutschland zurückkehrte, verweigerte man ihm seine einstige Stelle in der Bank, weil er der SS angehörte, fand dann eine Anstellung in einer Glashütte und begann, die Karriereleiter hochzuklettern. Er versuchte, seine Zeit in Auschwitz zu vergessen, und bestand darauf, dass auch seine Familie ihre Erinnerungen begrub.
Einmal, kurz nach seiner Rückkehr in das Nachkriegsdeutschland, saß er mit seinem Vater und seinen Schwiegereltern am Abendbrottisch, als diese „eine dumme Bemerkung über Auschwitz“ machten, die implizierte, dass er zumindest „ein potentieller Mörder“ war. „Da bin ich explodiert“, erwiderte Gröning, „ich habe mit der Faust auf den Tisch geschlagen und habe gesagt: Bitte, nehmt eins zur Kenntnis. Dieses Wort, und diese Beziehung, werden hier in meiner Gegenwart nie mehr wieder erwähnt. Sonst ziehe ich aus oder mache sonst irgend etwas! Ich war ziemlich laut geworden, aber mein Wunsch wurde respektiert, und niemand verlor je wieder ein Wort darüber.“ Die Familie Gröning richtete sich im Nachkriegsdeutschland ein und erntete die Früchte des deutschen Wirtschaftswunders.
Nach der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 wurde eine gut organisierte und mit großzügigen finanziellen Mitteln ausgestattete Sondereinheit ins Leben gerufen, deren Aufgabe es war, deutsche Kriegsverbrecher aufzuspüren. Ihr spektakulärster Erfolg war die Festnahme Adolf Eichmanns 1960 in Argentinien, der nach Israel entführt und 1961 in Tel Aviv vor Gericht gestellt wurde, Moshe Tavor gehörte zum Team, das Eichmann stellte. Obgleich er stolz auf diese aufsehenerregende Aktion war, glaubte er, dass er mit der heimlichen „Rache“, die er in den Tagen und Monaten direkt nach dem Krieg übte, mehr erreichte. Im Jahre 1941 trat Moshe Tavor im Alter von zwanzig Jahren in die britische Armee ein.
Später diente er in der jüdischen Brigade – eine Einheit aus 5.000 jüdischen Soldaten unter Befehl von Brigadier Ernest Benjamin, einem aus Kanada stammenden Juden. Ihr Abzeichen war der Davidstern – das Symbol der Nationalflagge Israels. 1940 waren die ersten Juden aus Palästina in die britische Armee eingegliedert worden, und 1942 hatte ein palästinensisch-jüdisches Regiment in Nordafrika gekämpft. Doch die englische Regierung, allen voran Neville Chamberlain, hatte sich über Jahre hinweg dagegen gesperrt, eine eigenständige jüdische Einheit aufzubauen. Da sich jedoch Winston Churchill dieser Idee gegenüber aufgeschlossener zeigte, wurde 1944 schließlich die Jüdische Brigade gebildet.
Während ihres Einsatzes in Norditalien und auch unmittelbar nach Kriegsende erfuhren Moshe und seine Kameraden immer mehr über die Verbrechen, die Deutsche an den Juden verübt hatten. „Wir waren wütend“, sagte er damals, „und viele von uns fanden, dass es nicht reichte, im Krieg mitzukämpfen.“ Und so überlegten Moshe Tavor und seine Kampfgefährten, wie sie an den Deutschen Vergeltung üben könnten. Zunächst nutzten sie ihre Kontakte zum militärischen Nachrichtendienst und zu verschiedenen jüdischen Organisationen und besorgten sich Namen von Deutschen, die verdächtigt wurden, an der Ermordung von Juden beteiligt gewesen zu sein. Dann tarnten sie ihre Fahrzeuge, indem sie den Davidstern durch nichtjüdische Einheiten ersetzten, und legten Armbinden der britischen Militärpolizei an.
Manch einer der ehemaligen SS-Schergen hatte daran glauben müssen; – man machte kurzen Prozess, und man dachte dabei an die Ermordeten in den Konzentrationslagern der Nazis. Obwohl Moshe Tavor peinlichst darauf achtete, keine Spuren zu hinterlassen, gab es doch Beweise, darunter der Augenzeugenbericht des ehemaligen Stabschefs der israelischen Armee, Hain Laskov, die keinen Zweifel daran lassen, dass Mitglieder der Jüdischen Brigade tatsächlich „Rache-Morde“ verübten; auch weiß man von weiteren jüdischen „Rächern“, die versuchten, das Trinkwasser eines Lagers zu vergiften, in dem Angehörige der SS inhaftiert waren. Moshe Tavor und die anderen Mitglieder der Brigade hatten für ihre Taten ein klares Motiv: Sie wollten für die Ermordung der Juden, zum Teil ihrer eigenen Angehörigen, Vergeltung üben.
Es gab aber noch einen weiteren Grund für ihr erbarmungsloses Vorgehen: das diffuse Gefühl, dass sich die Juden, die von den Deutschen unterdrückt, verfolgt und letztendlich umgebracht worden waren, nicht genügend zur Wehr gesetzt hatten. Tavor sagte einst: „Ich konnte nicht begreifen, wie sechs oder acht deutsche Soldaten 150 Menschen auf Lastkraftwagen verfrachteten und wegbringen konnten. Ich glaube, ich hätte mich eher auf einen dieser Deutschen gestürzt und erschießen lassen; dann hätte ich es wenigstens hinter mir gehabt. Aber ich bin eben anders als diese Juden, die damals in Polen auf dem Land lebten. Als Kinder haben wir immer gespielt, wir wären große jüdische Helden und würden Krieg führen. Ich fühle mich dem Volk, das vor über 2.000 Jahren hier – in Israel – gekämpft hat, sehr verbunden, und ich empfand keine solche Verbundenheit mit den Juden, die sich wie Schafe zur Schlachtbank führen ließen. Ich konnte das nicht verstehen.“
Moshe Tavor stand mit seiner Haltung nicht allein. Ehemalige KZ-Häftlinge, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Israel niederließen, berichteten, dass sie sich dem unausgesprochenen Vorwurf gegenüber sahen, nicht genügend gegen die Nazis aufbegehrt zu haben. Als hätten Frauen und Kinder in den Ghettos Osteuropas irgendeine Möglichkeit gehabt, Widerstand zu leisten. Doch viele konnten nicht verstehen, dass sich die Juden „wie Schafe zur Schlachtbank“ hatten führen lassen. Falls Männer wie Moshe Tavor aus der „Endlösung“ eine Lehre gezogen hatten, eine, die sich tief in die Seele des neuen Staates Israel eingraben sollte, so lautet diese: Nie wieder dürfen sich Juden kampflos ihren Feinden ergeben.
Zum siebzigsten Jahrestag des Staates Israel geschrieben,
von Rolf von Ameln
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