Unerwartet kam für viele Häftlinge in Auschwitz-Birkenau das Ende. Eines Nachts im Januar 1945 wurden die Insassen durch eine Explosion geweckt. Der Winterhimmel war rot von Flammen, denn die Lagerleitung hatte die Krematorien in die Luft jagen lassen. Kurz darauf mussten alle Häftlinge das Lager verlassen, auch die noch anwesenden Zwillinge, die alle Doktor Mengele für seine Experimente als Versuchskaninchen missbraucht hatte. Alle mussten sie in das Stammlager Auschwitz rennen. Es muss eine Szene wie in einem Alptraum gewesen sein: Über ihren Köpfen sahen sie in der Ferne Artilleriefeuer aufblitzen, während sie durch die Nacht hasteten, ohne Gnade von den SS-Schergen angetrieben, Kinder, die zu schwach waren, wurden erschossen und ihre toten Körper neben der Straße liegen gelassen.
Nach dem ursprünglichen Plan der Nazis sollten Tausende von Gefangenen, die zurückgelassen wurden, weil sie zu schwach waren, um an einem Massenexodus teilzunehmen, umkommen. Der Befehl für deren Ermordung war am 20. Januar 1945 von SS-Obergruppenführer Heinrich Schmuser, dem Höheren SS- und Polizeiführer von Oberschlesien an die Lagerleitung ergangen. In den darauffolgenden sieben Tagen brachten Sondereinheiten der SS 700 Häftlinge aus Birkenau und anderen Nebenlagern um. Aber knapp 8.000 Inhaftierte entkamen dem sicheren Tod durch den schnellen Vormarsch der Roten Armee und der Tatsache, dass die SS-Chargen lieber ihre eigene Haut retten wollten, als den Befehl auszuführen.
Kurz darauf schwiegen die Waffen, und am 27. Januar trafen Soldaten der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee in Auschwitz ein. Im Arbeitslager Monowitz, direkt neben den Buna-Werken der I.G. Farben, fanden sie 600 Überlebende, in Birkenaus knapp 6.000 und im Stammlager Auschwitz noch knapp 1.000..! In diesem Januar 1945 empfanden so manche es als Glück, dass die Sowjets sei befreit hatten. Hätten die Nazis sie nicht zurück gelassen, sondern gezwungen, mit den anderen 60.000 sogenannten „arbeitsfähigen“ Gefangenen aus den verschiedenen Lagern Auschwitz´ den langen Marsch nach Westen anzutreten, hätte so mancher nicht überlebt.
Diese wenigen folgenden Wochen waren für viele, die an der „Evakuierung“ teilnehmen mussten, das wohl schlimmste Erlebnis ihrer Gefangenschaft, schlimmer als die ständigen Selektionen, schlimmer als der Hunger im Lager, schlimmer als die von Ungeziefer verseuchten, eisigen Baracken, in denen sie hausten. Dieser Exodus sollte mit Recht als „Todesmarsch“ in die Geschichte eingehen. Das Konzept eines Todesmarschs war aber nicht neu, denn bereits im Januar 1940 mussten 800 polnische Kriegsgefangene, ausschließlich Juden, die etwa 100 Kilometer von Ludlin nach Biala Podlaska zu Fuß zurücklegen. Nur eine Handvoll überlebte diesen Marsch durch das winterliche Polen; die Mehrzahl erfror oder wurde von SS-Angehörigen, die den Zug begleiteten, erschossen. In den darauf folgenden Jahren, nach der Auflösung der Ghettos, wurden viele Juden von den Nazis auf Todesmärsche geschickt; auch die sowjetischen Kriegsgefangenen, die im Westen provisorische Lager errichten mussten, traf dieses Los.
Die Gefangenen wurden aus dem Lager geprügelt, nur mit ihrer dünnen Häftlingskleidung am Leib, die keinerlei Schutz gegen den Schnee und den eisigen Wind eines polnischen Winters bot, und mussten sich auf der Straße aufstellen. In den späten Abendstunden mussten sie den Marsch in Fünfer-Reihen antreten. Wer sich auch nur bückte, um Schnee gegen den Durst aufzuheben, wurde erschossen. Vor diesem Hintergrund gesehen ist es kaum vorstellbar, dass die SS glaubte, diese ehemaligen Insassen von Auschwitz könnten ihnen noch „nützlich“ sein! Zu diesem Zeitpunkt des Zweiten Weltkrieges war die deutsche Rüstungsindustrie jedoch auf Sklavenarbeiter angewiesen: Ende 1944 arbeiteten immerhin eine halbe Million Zwangsarbeiter in deutschen Fabriken.
Für ihre „Transporte ins Reich“ benutzten die Nazis zwei Routen: die eine in nordwestlicher Richtung über Mikolow zum knapp 50 Kilometer entfernten Eisenbahnknotenpunkt Gleiwitz, die andere in westlicher Richtung, zum knapp 60 Kilometer entfernten Bahnhof von Wodzislaw. Aber auch für die, die den Marsch überlebten und in die Reichsbahnzüge stiegen, die sie in Lasger nach Deutschland oder Österreich bringen sollten, war das Martyrium immer noch nicht zu Ende. Hinrich Himmler, einer der Hauptverantwortlichen hätte in den ersten Tagen nach dem Beschluss der „Endlösung“ wohl keine Probleme gehabt, denn die Juden mussten sterben, weil er und sein Führer sie als Bedrohung ansahen.
Seine Handlungen in den letzten Monaten des Krieges wurden immer unberechenbarer, denn Ende 1944 sollte er Juden aus Ungarn gegen Lastwagen austauschen. Zwar scheiterte dieses Vorhaben, aber es zeigte, wie Himmlers Verstand – so er denn je einen hatte – inzwischen arbeitete. Was den Reichsführer-SS betraf, so sollte jetzt Ideologie durch Pragmatismus ersetzt werden. Im Februar 1945 äußerte sich Himmlers flexiblere Haltung in dem Transport von 1.200 Juden von Theresienstadt in die Schweiz. Die Freilassung war von der American Union of Orthodox Rabbis über eine Reihe von Mittelsmännern organisiert worden, und diesmal hieß es „Juden gegen harte Devisen.“
Die weiblichen Insassen des Zuges wurden von der SS aufgefordert, sich zu kämmen und zu schminken! Hitler erfuhr erst aus den Schweizer Zeitungen von dieser Aktion und tobte vor Wut, da die Freilassung der Juden aus Theresienstadt ohne sein Einverständnis erfolgt war, und das musste ihm jetzt, da sich der Krieg seinem Ende neigte, wie Defätismus vorgekommen sein. Hitler untersagte sofort jeden Austausch dieser Art! Aber Himmler handelte ein weiters Mal gegen Hitlers Befehl, als er zuließ, dass Bergen-Belsen im April von den Alliierten befreit wurde, denn der „Führer“ hatte ja befohlen, alle Konzentrationslager vor dem Eintreffen der Alliierten zu zerstören. Doch Himmler widersetzte sich ausdrücklich diesem Befehl.
Man kann davon ausgehen, dass er Bergen-Belsen intakt ließ, als eine Art „Zugeständnis“ an die Alliierten, und selbst nicht über die Zustände im Lager Bescheid wusste. Seine Rechnung ging jedoch nicht auf, denn die furchtbaren Bilder aus dem Lager schockierten – endlich – die Weltöffentlichkeit. Ein britischer Soldat, der für die Wochenschau interviewt wurde, sagte: „Wenn du so etwas mit eigenen Augen siehst, weißt du, wofür du kämpfst. Die Fotos in der Zeitung können das nicht ausdrücken-. Die Dinge, die die Nazis verbrochen haben – niemand würde glauben, dass es Menschen sind.“ Hitler selbst beging am 30. April 1945 kurz vor 15:30 Uhr Selbstmord, als sich die Soldaten der Sowjetarmee dem Reichstag näherten.
Er hinterließ eine politische Erklärung, die er in der Nacht zuvor formuliert hatte und in die er die Juden für den Krieg verantwortlich machte. Er starb, wie er gelebt hatte, von Hass auf das jüdische Volk verzehrt, ohne die geringste Reue. Auch Himmlers Zuversicht, dass das Schicksal Großes mit ihm vorhabe, erfüllte sich nicht, existierte nur in seiner Phantasie. Am 23. Mai 1945, gut zwei Wochen nach einem Treffen mit Höß, beging auch er Selbstmord, nachdem er hatte einsehen müssen, dass die Alliierten niemals mit einem Mann, der Millionen auf dem Gewissen hatte, Geschäfte machen würden. Nachdem Hitler und Himmler tot und die meisten der Täter untergetaucht waren, hätten die Überlebenden eigentlich aufatmen können. Doch es kam anders: Die Nürnberger Prozesse brachten zwar eine gewisse Genugtuung, aber Gerechtigkeit hat bis zum heutigen Tag niemand von ihnen erfahren.
Von Rolf von Ameln
Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Dann unterstützen Sie uns bitte mit einer Spende, oder werden Sie Mitglied der Israel-Nachrichten.
Durch einen technischen Fehler, ist die Kommentarfunktion ausgeschaltet!
Leserkommentare geben nicht die Meinung der Redaktion wieder. Wie in einer Demokratie ueblich achten wir die Freiheit der Rede behalten uns aber vor, Kommentare nicht, gekuerzt oder in Auszuegen zu veroeffentlichen. Anonyme Zuschriften werden nicht beruecksichtigt.