Die Geschichte von Chaim erinnert mich an die Geschichte von Danny Saunders. An das Buch „Die Erwählten“, in dem Chajim Potok die Geschichte einer Freundschaft beschreibt.
Der Vater von Danny Saunders ist ein hochangesehener chassidischer Rabbiner, ein Zaddik. Mehr als das, er ist das Oberhaupt einer Gruppe von streng orthodoxen Juden, die jegliches Leben ausserhalb ihrer abgeschlossenen Welt strikt ablehnen und den modernen Staat Israel nicht anerkennen. Und es ist die Geschichte von Reuven Malter. Dessen Vater ist Journalist und Zionist, ein liberaler, religiöser Jude und Talmudgelehrter, der an der Universität Jüdisches Recht lehrt. Beide leben in Williamsburg, nur wenige Strassen voneinander getrennt und doch Lichtjahre weit auseinander.
Aus anfänglichem gegenseitigem Nichtverstehen wird Freundschaft. Reuven lernt die Welt der Chassidim kennen. Bei den ersten Treffen mit Dannys Vater ist er verstört und irritiert. Die reine Männerwelt der Chassidim, in der Frauen keine Rolle spielen, ist ihm unbekannt. Die ersten Befragungen durch den Rabbiner geraten zur Katastrophe. Doch er lernt die Kunst der talmudischen Diskussion von seinem Freund Danny und beginnt sich im Hause des Rabbiners wohler zu fühlen. Auf der anderen Seite lernt Danny durch seinen neuen Freund, dass es auch wichtige Dinge ausserhalb der jüdischen Gemeinden und des Judentums gibt. Den beiden Freunden gelingt es, ihre Blickwinkel zu erweitern.
Danny will das vorgegebene Erbe seines Vaters nicht antreten und einst sein Nachfolger werden. Diese verantwortungsvolle Aufgabe überlässt er lieber seinem jüngeren Bruder. Er möchte aus der Enge seines Vaterhauses hinausgehen und an einer jüdischen Hochschule ausserhalb Brooklyns studieren. Sein Traum ist es, Psychologe zu werden. Er will seinen Horizont erweitern und fürchtet sich doch davor, vor der Verantwortung, die auf ihm liegt, zu fliehen. Mit seinem Vater kann er darüber nicht sprechen. Der erzieht ihn durch Schweigen. Die beiden sprechen nur miteinander, wenn sie gemeinsam den Talmud lernen, oder wenn Danny die wöchentliche Befragung über das Gelernte über sich ergehen lassen muss.
Gemeinsam beginnen die beiden ihr Rabbinats Studium. Danny beginnt parallel dazu ein Psychologiestudium. An dem Tag, an dem Danny sein Studium abschliesst, gesteht er seinem Vater, dass er an der weltlichen Columbia Universität weiter studieren will. Dessen grosser Kummer ist die Vermutung, dass sein Sohn, auf den er so viel gesetzt hat, in Zukunft sein Judentum ablegen wird.
Das Buch endet damit, dass Danny sich, erstmals in einen bürgerlichen Anzug gekleidet, ohne Bart und Schläfenlocken von seinem Freund Reuven verabschiedet. Sie trennen sich mit dem Versprechen, ihre privaten Studien des Talmuds auch in Zukunft weiter fort zu setzen.
Chaim Meisels, ist der Enkel des bekannten Satmar Rebbe Moshe Teitelbaum. Moshe Teitelbaum stand der streng orthodoxen jüdischen Sekte seit dem Tod seines Onkels Joel Teitelbaum im Jahr 1979 als Oberrabiner und Zaddik vor. Als er 2006 starb, hinterliess er die offene Frage, welcher seiner Söhne seine Nachfolge antreten solle. Die Satmar lehnen jede Modernisierung strikt ab, erkennen den Staat Israel nicht an. Trotzdem lebt eine Gruppe von etwa 2.000 von ihnen in Israel. Mit einem Vermögen von etwa 1 Milliarde US$ gehören die Satmar zu den reichsten Sekten in den USA.
„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“ schreibt Chaim auf seiner Facebook Seite. Dort beschreibt er den langen Weg, den er gegangen ist, bevor er in der vergangenen Woche in das Offizierskorps der IDF aufgenommen wurde.
Schwierig sei sein Weg gewesen, sehr schmerzhaft, aber schlussendlich auch gekrönt mit dem was er sich als Lebensplan gewünscht hat. Mit dem Leben in Israel. Mit dem Leben als Offizier bei der IDF.
Mit 11 Jahren hat er zum ersten Mal Israel besucht. Benennen konnte er das Gefühl damals nicht, aber irgendetwas hatte eine Seite in ihm berührt, er fühlte, hier könnte er daheim sein.
„Als wir einige Tage später nach Brooklyn zurückkehrten, hatte ich mich verändert. Plötzlich war ich mit dem Staat Israel verbunden. Aber, weil ich der Enkel des Satmar Rebbe bin konnte ich mit niemandem darüber sprechen. Die Gemeinde, in der ich aufgewachsen war, unterstützt den Staat Israel nicht.“
Mit 15 Jahren kehrt er nach Bnei Brak zurück. Die einzige Sprache, die er spricht, ist Jiddisch. Die in sich geschlossene Welt der Satmar verhindert so sehr geschickt, dass ihre jungen Mitglieder einen Kontakt zur Welt ausserhalb ihres Mikrokosmos herstellen können.
Bnei Brak ist nichts anderes als ein vergrösserter und vorsichtig modernisierter Mikrokosmos. Nur in den Aussenbezirken, wo die Stadt an Tel Aviv, Petach Tikwa und Herzeliya anstösst, wo sich Hightech mit Tradition vermischt, wo die Grenzen zwischen 19. und 21. Jahrhundert verschwimmen, da verschwindet Jiddisch langsam aus dem Alltag.
Chaim wollte lernen. Er wollte die Welt kennenlernen. Kaufte sich ein Smartphone mit Internetzutritt, lernte Englisch und begann zu lernen. Für den jungen Mann muss das wie der Eintritt in eine völlig fremde Welt gewesen sein. Die meisten Haredim, die versucht hatten, sich aus ihrer Welt zu lösen, waren schon an der Sprache gescheitert.
Mit 17 Jahren vertraute er sich seinem Rabbiner an. Seit Jahren hatte er den Shabbat nicht mehr eingehalten und fühlte sich nicht mehr verbunden mit seinem alten religiösen Leben. Der Rabbiner, ganz und gar eingewoben in die Welt der Satmar, befand, dass sein Problem darin lag, dass er nicht verheiratet sei. Mit 17 Jahren!!!
Die Heiratsvermittlerin muss schnell gewesen sein. Bereits nach zwei Wochen wurde er vom zukünftigen Schwiegervater auf Herz und Nieren über seine religiösen Kenntnisse geprüft. Das Studium in Bnei Brak hatte ihn bestens vorbereitet: Er bestand den Test! Dann durfte er eine knappe Stunde mit der ihm zugedachten Braut allein sein (die Eltern sassen im Nachbarzimmer und ich bin sicher, die Türe war nicht ganz geschlossen). Am Ende des Abends waren die beiden verlobt.
Nach der Hochzeit wurde klar, dass diese Ehe nicht von Glück gesegnet war. Chaim träumte sich nach Israel und seine Frau interpretierte immer und immer wieder die Worte der Rabbiner.
„Nach sechs Wochen kam ich nach Hause und meine Frau sagte mir, dass sie schwanger war. Ich war glücklich, ich war sehr aufgeregt, bis ich begann, daran zu denken, was ich getan hatte. Wie ich ein haredisches Kind in einer Welt aufziehen könnte, die ich ablehnte. Ich wusste, es war zu spät. Das Mädchen konnte jederzeit auf die Welt kommen und dann würde ich von jetzt auf gleich Vater werden. Ich konnte nicht länger bleiben.”
Chaim verabschiedet sich von seiner Frau und der Gemeinde. Die meisten Familienangehörigen wandten sich von ihm ab. Von diesem Zeitpunkt an musste er sein Leben völlig neu organisieren. Er musste sich um Arbeit kümmern, um sein Leben finanzieren zu können. Er musste aber auch lernen, wie man mit nicht-orthodoxen, nicht-jüdischen Menschen spricht. Er musste lernen, sich ohne Bart und Schläfenlocken sicher zu fühlen. Und er musste lernen, wie es sich anfühlt, nicht in der Standardkleidung, schwarzer Anzug, weisses Hemd, zu stecken, die gleichermassen Schutz und Gleichschaltung ist.
Sein Ausbruch aus der Welt der Satmar war gelungen. Die grössere Herausforderung stand aber noch bevor.
Kurz bevor im Sommer 2014 die (hoffentlich) letzte Gaza Krise „Fels in der Brandung“ ausbrach, beschloss Chaim, nach Israel auszuwandern und sich bei der IDF zu bewerben. Garin Tzabar, ein Programm, das sich hauptsächlich um junge Soldaten, die ohne Familie in der IDF dienen, kümmert, lehnte ihn ab: Geschieden mit Kind und erst 19 Jahre alt, das seien keine guten Voraussetzungen für den Militärdienst.
Kein Grund für Chaim, seinen Traum aufzugeben. Er reiste auf eigene Faust nach Israel. Ein Freund vermittelte ihn zu Chayal el Chayal Lone Soldier Home, wo er seine erste Basis in Israel fand.
Es folgte der Ulpan (Sprachkurs für fast alle Neueinwanderer) und nach kurzer Zeit die Aufnahme in die Golani Brigade. Als er in die Eliteeinheit „Egoz“ aufgenommen wird, erzählt er niemandem seine Geschichte. Die Angst, noch einmal abgewiesen zu werden sitzt zu tief.
Seine Geschichte hat Spuren in ihm hinterlassen. Er musste sich vom Traum, einer der ganz Grossen innerhalb der Einheit zu werden verabschieden. Es wäre aber nicht Chaim, wenn er den kurzen Rückschlag nicht gemeistert hätte.
Er absolvierte einen acht monatigen Offizierskurs, in dem er alles lernte, was er als guter Offizier bei den Golanis und innerhalb der IDF braucht, um dem Land optimal zu dienen. Chaim lebt heute in Beit Giora, einem Haus in Jerusalem, in dem nur Soldaten ohne Familie in Israel leben.
Chaims Traum hat sich erfüllt. Doch etwas tut ihm sehr weh. Seine haredische Familie in Amerika verweigert ihm den Kontakt mit seiner Tochter Rivka, die schon vier Jahre alt ist. Ein Teddybär, den er ihr zum dritten Geburtstag schickte, wurde von der Familie zurückgewiesen.
Er hofft, dass sie sich eines Tages, wenn sie erwachsen ist, und vielleicht selber entscheiden kann, wen sie sehen will und wen nicht, treffen können. Dann möchte er ihr erklären, warum er diesen Schritt gemacht hat. Warum es für ihn genauso wichtig ist, den Staat Israel zu verteidigen, als die Torah zu lernen.
„Wir haben die beste Armee der Welt und es ist egal, von wo ihr gekommen seid und was ihr bisher gemacht habe. Wenn ihr 100% gebt, werdet ihr euren Weg finden.“
Von Esther Scheiner
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