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Die Nazi-Propagandamschine schwört die Bevölkerung auf den kommenden Krieg ein

In der „National Zeitung“, Ausgabe für das Ruhrgebiet, erzählt das Blatt nach einer „wahren“ Begebenheit: Ein Mann namens Merz. Ein Soldatenschicksal…

Im kleinen Speisesaal des Hotels Carol geht der Generalquartiermeister von Wand zu Wand und telephoniert; jedes Wort enthält die starke Federung eines bis zum Aeußersten gespannten Willens. An der Türe steht mit geschlossenen Hacken Oberleutnant Merz von den Pirnaer Pionieren, steht unbewegt und wartet. Hinter den Fenstern wogt der dumpfe, eingeschlossene Lärm der Calea Victoriei, der Hauptstraße von Bukarest. Ein Zeitungshändler ruft das Extrablatt der „Gaceta Bucarestilor“ aus: Die rumänische Regierung nach Jassy geflüchtet! Endlich legt der General den Hörer auf, besinnt sich sekundenlang und blickt den Offizier prüfend an.

„Oberleutnant Merz“, sagt dieser schnell, „zur besonderen Verwendung beim Stabe der 9. Armee.“ – „Danke!“ Der General winkt ab, lädt mit einer Handbewegung zum Sitzen ein. Auf dem Tisch liegt die Landkarte Rumäniens; mit Buntstiften sind mehrere Stellungen der deutschen, österreichischen, bulgarischen und rumänischen Streitkräfte eingezeichnet. Die feindliche Front läuft im nordsüdlicher Richtung vor Braila und Halatz; zum wichtigsten strategischen Punkt ist die Eisenbahnbrücke über die Donau bei Tschernavoda geworden, eine der größten Eisenbahnbrücken überhaupt. „Von Constanza lassen die Rumänen heute nachmittags 3 Uhr einen Panzerzug ab“, erklärte der Generalquartiermeister, „die Brücke bei Tschernavoda soll gesprengt werden. Die Brücke darf nicht gesprengt werden; alles hängt davon ab!

Wann wird der Panzerzug in Tschernavoda sein?“ Das helle, falkenhaft zugreifende Auge des Generals ruht unbewegt auf dem jungen Offizier, der angestrengt nachdenkt. 5 Uhr, schätzt Merz mit einem raschen Blick auf die Karte, und das Herz klopft ihm bis zum Zerspringen. „Herr Oberleutnant Merz“, fährt der General ruhig fort, „Sie haben Befehl, bis 5 Uhr spätestens jenseits der Donau die Eisenbahnbrücke zu sperren!“ Ueber das hellgraue, klare Auge fällt das Lid. Die Lippen schließen sich. Sekundenlang ist es still. Der Blick des Oberleutnants sucht auf der Landkarte die Strecke zwischen Bukarest und Tschernavoda. Einhundert, zweihundert, zweihundertfünfzig Kilometer schätzungsweise, eine ziemlich gerade Strecke, an Fetesti vorbei.

Bei Fetesti steht noch rumänische Nachhut; er sieht auf der Karte die kleinen, rot gezeichneten Halbkreise…Durch diese Halbkreise bis nach Tschernavoda, auf der Karte ein Katzensprung, in Wirklichkeit ein Wagnis wildester Form…Einerlei! „- Befehl, Eure Exzellenz!“ Oberleutnant Merz steht stramm vor dem General. Die Hände finden sich; kein Wort fällt weiter. Merz verläßt den Speisesaal, begibt sich in den Nebenraum, zum Adjutanten. Nach außen hin ruhig, innerlich bringen ihn Spannung und Erregung beinahe um. Der Kommandant der Feldeisenbahn meldet sich am Telephon. Merz braucht eine Schnellzuglokomotive, spätestens 2 Uhr unter Dampf am Werkstättenbahnhof, zu besonderer Verwendung.

Eine halbe Stunde Zeit. Befehl ist Befehl; – die Brücke muß gerettet werden! Während er in einer Pferdedroschke die Calea Victoriei zum Bahnhof hinunterfährt, packt ihn die Gefahr des Planes wie ein Fieber und entflammt ihn schwindelerregend. Um 2 Uhr will er mit der Lokomotive über Fetesi nach nach Tschernavoda fahren und jenseits der Donau den Panzerzug über den Haufen rennen! Eine Wettfahrt, was weiter, versucht er sich zu beruhigen, doch immer wieder fällt er aus seinem eigenen Entschluß heraus, kopfschüttelnd und fast verzweifelnd, – eine Wettfahrt? Zwischen den Gleisen hingehend kommt er zur Sammlung aller Kräfte; doch schon über der Gefährlichkeit und Unentrinnbarkeit dieses Wagnisses begreift er die Notwendigkeit, kühl und klar das Unternehmen durchzudenken.

Die Gedanken ordnen sich; aus der Erregung steigt unbeirrt die Entschlossenheit zur Tat. Aufmerksam betrachtet er die große, sechsachsige Lokomotive vor dem Schuppen. Dreifach gekuppelt, bemerkt er mit Genugtuung, und neueste Ueberhitzer! Viel mehr versteht er nicht davon; der Heizer muß ihm die Apparatur erklären. Genau folgt er jedem Handgriff. So… und so: schon tritt Dampf in die Zylinder, die Kolben drücken, die Räder drehen sich… 2 Uhr 10 Minuten, der Heizer springt schnell ab, die Lokomotive rollt über das Gewirr der Gleise und Weichen des Bahnhofs der Strecke zu. Merz steht hinter dem runden Fenster, den Blick geradeaus, die rechte Hand am Regulator, ruhig und weit über sich selbst hinausgehoben in einem Bereich traumhaften Geschehens.

Die Strecke fällt vor ihm wie ein doppeltes, glänzendes Band aus dem lehmgelben Boden. Die Vorstadt weicht kulissenhaft zur Seite. Schneller und schneller rollt die Maschine über die Strecke. Ein unheimliches Zittern geht durch jeden Hebel, jedes Handrad; der heiße, hämmernde Dampf wogt wolkig um die Ventile. Hinter den letzten Häusern tut sich riesengroß die Ebene auf. Die Wiesen haben schon eine gelbliche welke Färbung; gegen den Horizont hin schwimmt die Hitze wie eine graue, schwere Wolke. Das Stampfen der Räder geht in die Nerven beschwingend über und spannt sie zum Zerreißen. Der Blick fällt auf den Geschwindigkeitsmesser; der Zeiger steht auf 90.

Merz nimmt einen Eisenhaken, reißt die runde Tür der Feuerung auf und wirft so lange Kohlen hinein, bis die Arme vor Erschöpfung versagen. Sitzend verfolgt er die Zeiger der Meßgeräte. Der Dampfdruck steigt. Die Geschwindigkeit ist jetzt über 100. Ueber das Schutzgitter gelehnt blickt Merz angestrengt zur Seite: die Maschine rast an einem Wäldchen vorbei, nimmt es wie einen Hut von der Wand. Wie im Fluge steigt sie die Kurve hinauf, 110. Die Räder knirschen. Ein Stationsgebäude kommt angeflogen, Häusergruppen jagen hell vorbei. Der Wind fließt wie ein Wasserfall mit hohem, pfeifenden Ton über das Schutzdach. In einer halben Stunde muß Felesti kommen! Immer schneller rollt die Lokomotive. Die Bäume tanzen im flirrenden Licht.

Die Telegraphenstangen sind Schattenstriche. Die Signale – : Felesti! 4 Uhr 30 Minuten! Ein Mann steht auf dem Perron und schwenkt wie irrsinnig eine Fahne. Weiter! Die Weichen krachen. Gewehrfeuer lärmt auf. Kugeln klatschen in das Blech des Tenders. Weiter! Weiter! 4 Uhr 30 Minuten. Die Ebene ist gewonnen. 195 zeigt der Geschwindigkeitsmesser. Ueberdruck, zuckt es durchs Gehirn. Einerlei! Weiter! 130, 135. Auf den Feldern sind noch Bauern, Wagen stehen herum. Wald schwingt sich mit stahlblauer Flanke heran, ist einen Augenblick lang da, verschwindet. Wald. Wald! 140, 145. Das Zinkdach des Wärterhäuschens blinkt eine Sekunde lang wie ein Blitz in der finsteren Sonne, dann stürzen sich die Räder donnernd auf die Brücke!

Der Höllenlärm verschlingt seinen Schrei, seinen Triumph, seinen Sieg: die Brücke! Er muß sich am Gitter festhalten, um nicht in die Knie zu sinken: die Brücke! Da unten wälzt breit die Donau wie ein Meer ihre bräunlichen Fluten zum Schwarzen Meere, da drüben zieht sich die Strecke tief eingeschnitten in hügeliges Gelände bis nach Constanza hinunter…hinter der Brücke! 5 Uhr 20 Minuten. Schon hat er die Höhe des Meeres gesichtet, ein dunkelgrüner Horizont, schon pfeift der Dampf zerrend um das Notventil, doch unbewegt hält Merz den Regulator, geht mit 150 in die Kurve, sein Blick hat schon das schwärzliche Ungeheuer vor sich auf der Strecke entdeckt: den Panzerzug! Eine Minute noch, und der Zusammenprall erfolgt. 155, 160. Deutschland soll leben! 165. Und wenn wir sterben müssen! 170 – : ein Donnerschlag. Ein Ruck. Ein Sturz. In rasendem Schwung bäumt sich die Lokomotive vor dem Panzerzug, wirft ihn der Länge nach aus der Kurve und überschlägt sich zum Schluß. Krachend saust die Riesenfaust des Dampfes, in Fetzen fliegen Bleche durch die Luft und fallen prasselnd, weit zerstreut wieder zu Boden.

Die Brücke ist gerettet. Ein Mann namens Merz hat es getan, Oberleutnant der Pirnaer Pioniere, beim Stabe der 9. Armee, zur besonderen Verwendung.

Wie wenig doch schon ein einziges Leben eines Menschen zählte, wurde hier bereits überdeutlich.

Von Rolf von Ameln

 

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Von am 22/06/2017. Abgelegt unter Spiegel der Zeit. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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