Albert Schweitzer und Helene Bresslau gingen 1913 nach Lambarene
„Es ist Mitternacht Dr. Schweitzer“ ist der Titel eines Kinofilms von 1952, den der Franzose Andre Haguet, der aus der Ile-de-France stammte, damals mit bekannten französischen Schauspielern und der berühmten Jeanne Moreau drehte. „Beim Oganga von Lambarene“ von dem württembergischen Lehrer Richard Kik, das 1954 als Kinderbuch im längst vergessenen Enßlin & Laiblin Verlag in Reutlingen erschien, bekam ich als Schülerin mit Widmung geschenkt. Durch sämtliche Phasen des Lebens und den vielen Umzügen in alle vier Himmelsrichtungen begleitete mich das Büchlein. Wie viele Male es ein- und ausgepackt und ins Bücherregal gestellt wurde, kann ich kaum sagen. Die Begeisterung für den Theologen Albert Schweitzer, vor allem für dessen humanistisch-medizinisches Engagement im afrikanischen Urwald, ist über die Jahre geblieben.
Theologie, Medizin und Orgelspiel ergeben eine gute Symbiose, eine unvergleichliche Fügung im Leben Albert Schweitzers, der 1875 in Kaysersberg im Oberelsass, unweit von Colmar, in eine alemannisch-elsässische Pfarrersfamilie geboren wurde. Vier Geschwister hatte er, in Günsbach hinter den Vogesen in der Nähe von Colmar verbrachte er seine Kindheit. Als Bub durfte er die Mutter hin und wieder mit dem Zug in die nächste Stadt nach Colmar, begleiten. Die Vogesen mit den Weinbergen und den Obstgärten prägen die Landschaft, die Albert Schweitzer bis an sein Lebensende begleitete. Die „Negerfigur“ aus Stein auf dem Marsfeld in Colmar, hatte es ihm angetan. Seine kindliche Sehnsucht nach dem fernen Kontinent Afrika, wo es wilde Tiere und schwarze Menschen gibt und die Sonne unerbittlich heiß brennt, wurde in ihm geweckt. Der Colmarer Bildhauer Frederic-Auguste Bartholdi, der die Freiheitsstatue in New York erbaute, erdachte das Denkmal in Colmar mit den unterschiedlichen Erdteilen in Erinnerung an Admiral Bruet. In dem afrikanischen Kontinent mit dem afrikanischen Menschenbild ahnte Albert Schweitzer bereits als Schüler das Elend des dunklen Kontinents.
Schon als Zehnjähriger spielt Albert Schweitzer die Orgel, wenn der Vater sonntags predigte. Zu Hause im Günsbacher Pfarrhaus, übte er wieder und wieder das Klavierspiel. In späteren Jahren stellt er sich während seiner häufigen Orgelkonzerte unter Beweis; ein Meister der Töne wurde er und Johann Sebastian Bach aus Eisenach in Thüringen sein lebenslanger Orgelmeister. Den Orgelbau beherrschte er ebenso, für den Erhalt alter Orgeln setzte er sich ein. In Mülhausen besucht er das Gymnasium, bestand 1893 das Abitur und begann ein Studium an der Straßburger Universität, studierte Theologie, wie Vater und Großvater, promovierte und habilitierte, wurde Vikar in St. Nikolai in der Hauptstadt der Elsässischen Region. Zuvor studierte er Orgel in Paris und 1899 in Berlin einige Monate Philosophie. Während der Berliner Zeit konnte Albert Schweitzer einige Male auf der Orgel von W. Sauer aus Frankfurt an der Oder in der Kaiser-Wilhelm- Gedächtniskirche in der neu gegründeten preußischen Stadt Charlottenburg Stücke von Johann Sebastian Bach spielen. Die Vossische Zeitung schrieb darüber am 29. Juni 1899.
Das Leiden in der Welt, das Helfen wollen bewegte ihn mehr und mehr. Erst mit dreißig Jahren begann er Medizin in Straßburg zu studieren, wollte Missionsarzt werden. Seine Medizinische Doktorarbeit trug den Titel „Die psychiatrische Beurteilung Jesu: Darstellung und Kritik.“
1912 heiratete der junge Theologe und Arzt Helene Bresslau aus Berlin, die 1879 in eine preußisch-jüdische Historikerfamilie geboren wurde. Professor Harry Bresslau, der Vater, ließ das Kind Helene und ihre beiden Geschwister im Harz evangelisch taufen, er selbst und seine Frau Caroline blieben bei der jüdischen Religion. Harry (Heinrich) Bresslau wurde 1848 in Dannenberg an der Elbe in eine jüdische Familie geboren, hatte in Göttingen studiert, arbeitete zeitweise in Berlin im Auerbach‘schen Waisenhaus und anderen Schulen als Lehrer. Als ungetaufter Jude hatte er kaum Chancen eine ordentliche Professur in Preußen zu bekommen. 1874 fand die Hochzeit mit Caroline Isay in Trier statt, Caroline, die Mutter von Helene Schweitzer, wurde 1853 an der Mittelmosel in Schweich im Landkreis Trier geboren. Befürworter der Judenassimilation war Professor Bresslau gegen sämtliche Widerstände. Nach dem Berliner Antisemitismusstreit 1880, den er mit Professor von Treitschke austrug, gab er die Zeitschrift „Zur Judenfrage“ heraus. Die Bresslaus zogen von Berlin nach Straßburg, wo Bresslau an der dortigen Kaiser-Wilhem-Universität im Reichsland Elsaß-Lothringen eine ordentliche Geschichtsprofessur bekam und später auch Rektor wurde. Diese Positionen erreichte er als erster deutscher Jude, was damals für große Aufregung sorgte. Helene Bresslau beendete in Straßburg die Schule und wurde Lehrerin. Wissen in sämtlichen Bereichen der Musik, der Literatur und des allgemeinen Lebens wurde ihr in ihrem Elternhaus vermittelt. Eine Ausbildung zur Waisenpflegerin kam hinzu, später gründete sie in Straßburg ein Heim für ledige Mütter.
Die Pariser Evangelische Missionsgesellschaft unterhielt bereits in Lambarene in Französisch-Äquatorialafrika südlich des Äquators eine Missionsstation. Am Karfreitag 1913 begann das Ehepaar Schweitzer die lange vorbereitete Reise mit dem Dampfer „Europa“ von Bordeaux an der Atlantikküste in Richtung Kongo. Weiter fuhr sie der Flussdampfer auf dem Ogowe von Kap Lopez flussaufwärts, links und rechts der Ufer zogen der undurchdringliche Urwald und die kleinen Dörfer der Einheimischen vorbei, die neue Heimat von Helene und Albert Schweitzer. Das Missionsdorf Lambarene erwartete die Angekündigten aus Europa. Arzt und Seelsorger wird Albert Schweitzer den Kranken und Hilfesuchenden Dorfbewohnern in und um Lambarene in den kommenden Jahrzehnten werden. Einfache Hütten und Baracken wurden nach Schweitzers Vorstellungen mit einheimischen Baumaterialien für die Krankenstation hergerichtet. Unter primitiven Verhältnissen begann der „Urwalddoktor“ mit Hilfe seiner Frau die Kranken zu versorgen. Vor der Abreise auf den Afrikanischen Kontinent hatte Helene Schweitzer-Bresslau in Verbundenheit zu Albert Schweitzer, in Verbundenheit zu seiner medizinischen Aufgabe in Lambarene, eine Ausbildung als Krankenschwester in Frankfurt am Main abgeschlossen.
Hochinfektiöse Leprakranke, die damals als Aussätzige außerhalb der Dörfer leben mussten, wurden seine Patienten, ebenso malariainfizierte Tropenkranke. Krankheiten unterschiedlicher Genese behandelte Schweitzer, Operationen waren an der Tagesordnung. Gebärende brauchten seine Hilfe, Kinderkrankheiten musste er erkennen und heilen, ebenso die tägliche Not der Menschen lindern. Ein übergroßes Spektrum für einen Mediziner.
Der Mut des Theologen und Arztes Albert Schweitzer, der Mut der Ehefrau Helene, in die Tropen, nach Lambarene in Gabun, in den Urwald nach Westafrika zu gehen, den Ärmsten der Armen zu helfen, bestimmte einen Großteil des Lebens des Missionarspaares Schweitzer und wurde ihnen eine lebenslange Mission.
1917 bereits mussten Helene und Albert Schweitzer aus politischen Gründen Afrika verlassen. Der 1. Weltkrieg war ausgebrochen, von Gabun ging die unerwünschte Reise in Internierungslager nach Frankreich. Bereits 1918 durften sie nach Straßburg zurückkehren. Albert Schweitzer arbeitete als Assistenzarzt in einem Straßburger Spital und als Vikar in St. Nicolai. 1919 wurde in der elsässischen Hauptstadt die Tochter Rhena, ihr einziges Kind, am 14. Januar geboren. Am gleichen Tag wurde Albert Schweitzer 44 Jahre alt. In der Günsbacher Dorfkirche wird die Tochter getauft. Nach Beendigung des 1. Weltkrieges wurde das Elsaß Frankreich zugesprochen und Albert Schweitzer bekam die Französische Staatsbürgerschaft, doch als deutschsprachiger Elsässer fühlte er sich zeitlebens.
Nachdem Elsaß-Lothringen nach dem 1. Weltkrieg französisch wurde mussten Harry Bresslau und seine Frau Caroline Bresslau-Isay, die Schwiegereltern von Albert Schweitzer, unter Spott Straßburg verlassen und nach Deutschland zurückkehren, kurzzeitig gingen sie nach Hamburg und später wohnten sie in Heidelberg. Professor Harry Bresslau starb 1926 in der Stadt am Neckar, seine Frau Caroline Bresslau-Isay erlebte sämtliche antisemitischen Schikanen und Erniedrigungen und starb 1941 in der nazifizierten Stadt Heidelberg.
1924 ging Albert Schweitzer erneut, doch diesmal alleine, nach Lambarene. Seine Ehefrau Helene bekam eine Lungenkrankheit und konnte nur schwer die Tropenhitze ertragen. Für sie und Tochter Rhena baute Albert Schweitzer zuvor ein Haus in Königsfeld im Schwarzwald, in der Nachbarschaft der Herrnhuter Brüdergemeinde.
Dank des Schwedischen Bischofs Nathan Söderblom konnte Albert Schweitzer ab 1920 in Schweden Vorträge über seine Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ halten, mittels Orgelkonzerten seine Schulden bezahlen und Geld für seine Rückkehr 1924 nach Afrika verdienen, um das Urwaldhospital auszubauen“ (Wikipedia).
Jede Rückkehr nach Lambarene in den Urwald bringt neue Herausforderungen für den Arzt und Theologen Dr. Albert Schweitzer. Neue Hütten wurden gebaut, ein ständiges und erneutes Kultivieren findet statt. Mit persönlichem Handanlegen wird er Vorbild für die Dorfgemeinschaft. Ein tropenfestes Klavier mit Orgelpedal wurde ihm in Europa gebaut und nach Lambarene transportiert. Wieder und wieder übt Schweizer in seinen freien Stunden das Orgel spielen. Der Missionar und „Urwalddoktor“ wird zu Konzerten und Vorträgen nach Europa und in die USA eingeladen. Die finanziellen Erlöse dieser Aktivitäten gingen als Spenden in seine karitative Arbeit in Lambarene in Gabun, ebenso Schallplatten- und Buchverkäufe.
Hitler kam 1933 in Deutschland an die Macht, die Nationalsozialisten begannen den Terror gegen die jüdische Bevölkerung und Andersdenkende und begannen die ersten Konzentrationslager zu bauen. Helene Schweitzer, die getaufte Jüdin, flieht mit dunkler Vorahnung mit der Tochter in die Schweiz und 1941 erreichte sie über Portugal und Angola Gabun und bleibt in Lambarene bis 1946. Längere und kürzere Aufenthalte in Lambarene ergaben sich für Albert Schweitzer in den kommenden Jahren.
Politik war nie Albert Schweitzers Stärke, doch seine Philosophischen Schriften, seine theologischen Arbeiten, seine Warnungen vor dem Krieg, der Aufrüstung und den Atomwaffen, sein zunehmender Pazifismus, und nicht zuletzt seine Arbeit als Missionsarzt in Afrika, brachten ihm eine Vielzahl von Ehrungen, Preise und Auszeichnungen, als höchste Auszeichnung den Friedensnobelpreis 1954 (für 1952). Die Reise nach Oslo zur Entgegennahme des Nobelpreises war die letzte gemeinsame Reise von Helene und Albert Schweitzer. 1957 starb Helene in Zürich, 1965 wurde Dr. Albert Schweitzer in Lambarene in Gabun in Westafrika begraben.
Von Christel Wollmann-Fiedler
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