Der in England lebende Jude John Wolffson schrieb im September 1935 an seinen deutschen Freund, dem Katholiken Wolf Reinhardt: Mein lieber Wolf, seit dem letzten Jahre, da wir uns zuletzt am Tegernsee trafen, hat sich so viel ereignet, ist die Atmosphäre so „weltgeschichtlich“ geworden, daß ich – durch Geschäfte und durch innere Hemmungen zurückgehalten – Dir gar nicht schreiben konnte. Wir in der Labour Party befinden uns in einer tiefen geistigen und moralischen Krise, darüber kann heute gar kein Zweifel bestehen. Wir haben unsere letzten Entscheidungen über die Schicksalsfragen von Krieg und Frieden immer wieder hinausgeschoben, und nun stehen wir vor dem furchtbaren Dilemma, den Frieden durch den Krieg beschützen zu müssen. Friedenswahrung durch Kriegsdrohung – welch ein Paradoxon! – und wir quälen uns ab damit in der Partei, in der geistigen Diskussion, wie in der großen Politik.
Ja, wenn wir uns zu diesen anderthalb Jahrzehnten seit dem Weltkriege immer und konsequent mit fanatischer Verbissenheit gegen jegliche Gewaltpolitik gewendet hätten, gegen die sowjetrussische, wie gegen die poincaristische, gegen die japanische, wie gegen die nazistische – dann stünden wir anders da. Aber wir haben zuviel mit dem Teufel paktiert und nun zeigen sich die Früchte dieser diabolischen Seitensprünge. Ich fühle mich also politisch wie menschlich ziemlich elend, trotzdem muß ich Dir einige Worte schreiben, um Dir jede menschliche und wirtschaftliche Hilfe anzubieten, die zu gewähren in meiner Macht steht. Ich habe gestern erst die Rede Hitlers am Sonntag und die Gesetze des Nürnberger Parteitages gelesen und ich legte die Zeitungen in tiefer Erschütterung aus der Hand.
Du kennst meine realpolitische Art und kannst Dich sicherlich noch daran erinnern, daß ich zu einer ziemlich weitgehenden ökonomischen Deutung historischer Massenbewegungen neige. Auch meine Auffassung über den Nationalsozialismus habe ich Dir nie verhehlt. Daß aber die Rückkehr zum Mittelalter in einem großen Staate Europas nicht nur als politische Tendenz, sondern als kodifiziertes Gesetz möglich werden soll, habe ich mir doch nicht vorstellen können. Daß ein großes Kulturvolk anderthalb Jahrhunderte nach der Französischen Revolution allen Ernstes durch Verfassungsgesetz zweierlei Bürger – einen als Träger der vollen politischen Rechte und einen als Objekt der staatsbürgerlichen Pflichten – einführen kann, übersteigt das Maß unserer Vorstellungen vom tiefen Herabsinken des kontinentalen Rechtsgefühls.
Am prägnantesten trifft dies natürlich die Juden, aber selbstverständlich können sämtliche Schichten, die der Regierung unlieb sind, noch dieses Gesetz die elementarsten Bürgerrechte, fortab ein Privileg der „Reichsbürger“, entzogen werden. Und dies in einem Lande, das der Theorie der „Volksgemeinschaft“ zur Wiedergeburt verhalf und die 30 Millionen Auslandsdeutsche als Minderheiten in der ganzen Welt zu schützen hat! Wir mit unserem insularen Rechtsgefühl, die wir sicherlich für jedes Unrecht, das an Minderheiten begangen wird, ein feines Ohr haben, können jene völlige Entartung des Billigkeitssinnes nicht begreifen, die in einem Atem die vollen Rechte für die deutsche Minderheit im Auslande fordert und diese Rechte den eigenen, nichtarischen und bedingungsweise auch arischen Staatsangehörigen verweigert.
Und diese Judengesetze „zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre!“ Ich weiß, daß Deine Frau jüdischen Ursprungs ist und daß sie all die Erniedrigungen und Beleidigungen, die sie gesellschaftlich wie menschlich in den letzten Jahren erleiden mußte, mit der unendlichen Geduld und Sicherheit einer Frau ertragen hat, die in der Liebe und der Mutterschaft so aufgegangen ist, daß sie sich jenseits allen schmutzigen Trubels der Zeit fühlt. Aber ich werde ihr bleiches Gesicht doch niemals vergessen, wie sie Deinen weinenden Sohn in Tegernsee einlullte, dem die Jungen im Schwimmbad zuriefen: „Deine Mutter ist eine Rüffke!“ Schreibe mir postwendend, ob Du noch immer nicht auf mein Angebot vom Vorjahre eingehen willst, einen Beamtenposten in der Fabrik meines Onkels anzunehmen: ich würde Dir sämtliche Anfangsschwierigkeiten überwinden helfen. Oder willst Du Deinen Sohn erziehen, der in einer Atmosphäre, wie der heutigen in Deutschland, mit dem Schandmal „Halbjude“ an der Stirn zu einem seelischen Krüppel wird? Antworte bald und fasse endlich einen Entschluß, auf mich kannst Du jederzeit rechnen.
In alter Freundschaft, Dein John.
Der Deutsche Wolf Reinhardt schrieb zwei Wochen später seine Antwort an John Wolffson:
Mein lieber John, vielen vielen Dank für Deinen treuen, trostvollen, ermutigenden Brief. Das bloße Bewußtsein, daß man solche Freunde in der Welt besitzt, richtet einen auf und gibt Kraft für unsere Kämpfe und Richtung in den Wirrnissen dieser Zeit. Ich danke Dir tausendmal und werde Dein Angebot nicht annehmen, wie ich es schon wiederholt ausgeschlagen habe. Ich kann es nicht annehmen, denn ich glaube an das Schicksal und glaube mit einem immer unerschütterlichem Glauben an den Sinn der Geschichte und der göttlichen Fügung, die die Weltgeschichte lenkt. Erinnerst Du Dich noch an unsere Heidelberger Zeit, da wir im Seminar von Gundolf und Weber vom „neuen Mittelalter“ träumten?
Du sprachst über Guild-Sozialismus und über die englische Neuromantik und behauptetest, daß´es eine menschliche wie gesellschaftliche Möglichkeit der Rückwendung zum Mittelalter, zur Reproduzierung seiner Hierarchie, seiner metaphysischen, sozialen und wirtschaftlichen Bindung auf einer höheren Stufenleiter gebe, die an die Stelle eines sinnlosen, gottverdammten, materialistisch-hastenden Götzendienstes an der „Dynamik“ des 19. Jahrhunderts treten sollte. Wir träumten von der Renaissance des Handwerks, der Einheit der seelischen und körperlichen Arbeit in den neuen Siedlungen der Gartenstadtbewegung, wir träumten von einem Sozialismus der Qualität und von einer Bindung der Gesellschaft im Zeichen eines Gleichgewichts der großen organisierten Produzenten- und Konsumverbände unter Hinzuziehung des Staates als Schlichters und Schiedsrichters.
Was ist aus unserem Ideal geworden, was aus dem Georgekreis und der jungdeutschen Bewegung? Wir sind zurückgesunken in ein Mittelalter, wie es verzerrt im Bewußtsein eines flachen Aufklärertums lebt: in dem rüder Fanatismus den echten Glauben, Massenhysterie die organische Gemeinschaft, militärischer Drill die freiwillige geistige Hierarchie ersetzt und in dem an Stelle Gottes ein neuer Materialismus tritt: der naturalistische Götzendienst der Rasse. Es ist nur natürlich, daß der neuerstandene Rassenwahn, in dem sich der schlecht verstandene Mystizismus vom nordischen Wesen mit einem seichten Rationalismus halbverdauter Pseudowissenschaftlichkeit des 19. Jahrhunderts mischt, daß dieser Rassenwahn in einen zwangsläufigen Konflikt mit allen unseren lebendigen Religionen geraten mußte.
Es war durchaus kein Zufall, daß in den letzten Monaten dieses Jahres der Kampf des Staates gegen den Katholizismus, protestantische Bekenntniskirche und Judentum mit gleicher Intensität tobte, daß die neuheidnische Bewegung immer mehr staatliche Förderung genoß, und daß schließlich sich aus dieser Sackgasse nur ein Ausweg eröffnete: die Flucht in den Antisemitismus. Ich weiß es auch von meiner Frau, daß die Juden es fast schon als natürlich empfinden, daß wenn in irgendeiner antisemitischer Diktatur das herrschende Regime Schwierigkeiten zu überwinden hat, die Judenfrage stets als Blitzableiter der Massenleidenschaften herangeholt wird.
Dieses neue Auflodern des Antisemitismus, diese sinnlosen Beschuldigungen über „provokatorisches Auftreten der Juden“ werden mit einem traurigen Lächeln hingenommen, wie Schicksalsschläge, die Gott als Prüfung und Erprobung der Juden ihnen aufbürdet. Man versteht die wirtschaftlichen Sorgen des Regimes und man rechnete mit Sicherheit damit, daß die Verdunkelung des wirtschaftlichen Horizonts schließlich mit dem Rufe enden würde: „Schlagt den Juden!“ Das ist seit Jahrtausenden so und gibt eine Art jüdischen Masochismus, der sich sogar dort in Hiobspositionen versetzt, wo dazu gar kein Grund vorhanden ist. Und gar dort, wo ein Regime herrscht, dessen verdrängter Sozialismus sich zu immer neuen Komplexen der Massenseele verknoten muß, wird von Zeit zu Zeit der Rettungsanker des Antisemitismus in die trübe Psyche der kleinbürgerlichen Schichten ausgeworfen, der gute, altbewährte Antisemitismus, von dem schon Bebel festgestellt hat, daß er der Sozialismus des dummen Kerls ist.
Jetzt maskiert sich dieser Antisemitismus als Rassenschutz und wendet sich mit schwüler Phantasie gegen die „Rassenschande“. Nun, auf beiden Seiten, auf arischer wie auf nichtarischer, gab es zu allen Zeiten ein Ideal der „Rassenreinheit“, bei den alten Juden in erster Linie, ist doch das Alte Testament voll rassenschützlerischer Dokumente aus der Geschichte des Judentums. Aber wir glaubten uns doch nach den Forschungen der Vererbungswissenschaft im letzten halben Jahrhundert darüber hinaus, daß die Begriffe von Nation, Konfession und Rasse heillos verworren, die „germanische“ oder nordische Rasse zu einer mystischen Entität erhoben und den übrigen „Rassen“, heute der jüdischen, morgen der südlichen, übermorgen der slawischen gegenübergestellt werden würden.
Daß im Eherecht eines großen Kulturvolkes die Verhinderung der Rassenmischung als oberste Rechtsform fungieren könnte, war trotz unserer romantischen Schwärmerei für das „neue Mittelalter“ einfach absurd gewesen. Nun ist auch dies Wirklichkeit geworden: eine Rechtsordnung ist geschaffen, die nicht die Liebe als tiefste Quelle und heiligstes Unterpfand der Ehe erblickt, sondern den vermeintlichen Utilitarismus eines verworrenen Rassebegriffs, die die ewigen elementaren individuellen Beziehungen zwischen Mann und Frau mit einer böswilligen Rasseschnüffelei unter Polizeikontrolle stellt und zur Beute des Denunziantentums, der schmutzigen Phantasie des Klatsches und des Konkurrenzneides ausliefert und schließlich in die geradezu lächerliche Staatskontrolle des Dienstbotenzimmers ausartet.
All das wäre praktisch gar nicht so düster, wie es ausschaut, wenn es mit dem ganzen Komplex der Unterscheidung von Bürgern höheren und minderen Rechts, mit der Brandmarkung einer ganzen Bevölkerungsschicht, mit den Unklarheiten und Sinnlosigkeiten der „Volljuden“, „Halbjuden“; „Vierteljuden“ nicht eine neue Rechtsunsicherheit von chaotischen Ausmaßen schaffen würde. Eine Reaktion werden aber diese Erniedrigungen bei den Juden sicherlich auslösen: sie werden gefestigt und gestärkt in ihrem Glauben und sie werden erzogen zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl. Erinnerst Du Dich noch an unsere Abende, da wir zu dritt Claudels „L´annonce fait a Marie“, dieses herrlichste Werk des Neukatholizismus, gelesen haben? Mit derselben Ergriffenheit lesen wir jetzt etwas ganz Altes und ewig Neues: das Buch Hiob.
Wir nehmen Deine liebenswürdige Hilfe nicht an, denn das Leiden hat oft einen höheren historischen Sinn, den wir schweigend und demütig hinnehmen müssen. Vielleicht wird diesem Leiden und diesem Ausharren ein neuer Adel entsprießen; jenseits rassischer, konfessioneller, nationaler Ideale, ein neuer härterer Menschenschlag des europäischen Geistes. Vielleicht werden sich eines Tages alle Kämpfer gegen jegliches Unrecht zusammenfinden und einen stummen, instinktiven Bund der neuen Menschenrechte bilden. Die Wege dahin sind verschlungen und eine Flut von Reaktions- und Trutzgefühlen wird zu überwinden sein, bis wir das neue Europa schaffen werden.
Die deutschen Juden, selbst meine Frau, die über jedes Rassenvoruteil hinaus ist, neigen dazu, den gelben Fleck, mit dem man sie brandmarken will, herunterzureißen und hochflattern zu lassen wie eine Fahne. Wieder werden die Juden zwischen Demut und Stolz hart um ihr Gleichgewicht ringen müssen. aber sicherlich wird ein Leben in Gefahr dem Leben in Lüge vorzuziehen sein. Das werde ich auch meinem Sohne, dem „Halbjuden“, als Leitsatz fürs Leben einimpfen. Und jetzt nochmals: aufrichtigen Dank für Deine Freundschaft und Deine Treue: aber wir wollen unseren Glauben bewahren an das bessere Deutschland und das bessere Europa. Wir wollen ausharren, wohin uns das Schicksal gestellt hat.
In alter Freundschaft, Dein Wolf.
Wie sehr sich doch diese beiden Brieffreunde geirrt hatten zeigte sich bereits in der „Reichskristallnacht!“
Von Rolf von Ameln
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