Am Morgen des 7. November des Jahres 1938 schießt der siebzehn Jahre alte Jude Herschel Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris mit mehreren Schüssen auf den Legationsrat Ernst vom Rath, der am 9. November seinen Verletzungen erlag. Nach dem Attentat ließ sich Herschel ohne jeglichen Widerstand festnehmen. Noch am selben Tag gab das deutsche Nachrichtenbüro DNB klare Vorgaben heraus: „Alle deutschen Zeitungen müssen in größter Form über das feige Attentat berichten. Die Nachricht muss die erste Seite voll beherrschen. In eigenen Kommentaren ist darauf hinzuweisen, dass das Attentat die schwersten Folgen für die Juden in Deutschland haben muss!“
Herschel Grynszpan wurde am 28. März 1921 in Hannover als drittes Kind eines armen, russisch-polnischen Schneiders geboren. Die Eltern waren gut zehn Jahre zuvor vor den Überfällen der Soldaten des russischen Zaren aus ihrer Heimat geflohen. Zu Hause wurde Jiddisch gesprochen und es herrschte sehr oft Hunger. Deutsch lernte Herschel erst, als er ab 1927 die allgemeine Volksschule besucht. Ohne Abschluss muss er die Schule im Jahre 1935 – er war jetzt vierzehn Jahre alt – verlassen. Er engagierte sich im jüdischen Sportverein und dank der Vermittlung eines Rabbiners konnte er für einige Monate die Rabbinische Lehranstalt in Frankfurt am Main besuchen. Bei seiner Rückkehr nach Hannover blieb er trotz all seiner Bemühungen arbeitslos.
Er träumte davon, nach Palästina auszuwandern. Im Juli 1936 verließ Herschel seine Familie, um bei einem Onkel in Brüssel auf die Einreiseerlaubnis für Palästina zu warten. Zu dieser Zeit hatte er einen gültigen Pass und ein Visum für Belgien. Als es dort zu Spannungen kam, weil er keine eigenen Mittel hatte, reiste er weiter zu einem anderen Bruder des Vaters, der in Paris lebte: seinem Onkel Abraham Grynszpan. Hier lebte er nun als illegaler Ausländer, da seine Papiere nur für Belgien gültig waren. Sein Onkel half ihm und bezahlte sogar eine Strafe für Herschel. Ein Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich wurde zunächst bewilligt, im August 1938 jedoch abgelehnt.
Am 3. November 1938 erreichte ihn eine Postkarte seiner Schwester Berta, die ihn über die Deportation seiner Eltern und Geschwister aus Hannover im Rahmen der sogenannten „Polen-Aktion“ informiert. Am 28. und 29. Oktober 1938 wurden von den rund 50.000 im Reich lebenden polnischen Juden – Kinder, Frauen und Männer – 15.000 bis 17.000 verhaftet und etwa 12.000 von ihnen in versiegelten Eisenbahnwaggons über die Grenze nach Polen deportiert. Die polnische Regierung aber ging gegen Juden im ausland vor. Berta schrieb: „Lieber Herschel, Du hast gewiss von unserem großen Unglück gehört. Man steckte jedem von uns einen Ausweisungsbefehl in die Hand, und man hat uns nicht erlaubt, nach Hause zu gehen. Wir haben keinen Pfennig. Könntest Du nicht etwas nach Lodz schicken? Küsse von uns allen. Berta.“
Nach einem Streit mit seinem Onkel verließ Herschel am Sonntagabend, dem 6. November, die Wohnung, nimmt seine wenigen Ersparnisse mit und mietet unter falschem Namen für eine Nacht ein Hotelzimmer. Von dort schrieb er eine Karte an seine Eltern:
„Meine lieben Eltern! Ich konnte nicht anderes tun, soll Gott mir verzeihen, das Herz blutet mir, wenn ich von eurer Tragödie und der 12.000 anderer Juden hören muss. Ich muss protestieren, dass die ganze Welt meinen Protest erhört, und das werde ich tun. Entschuldigt mir.“
Am nächsten Morgen verließ er das Hotel gegen 8 Uhr und kauft einen Trommelrevolver, Kaliber 6,35 mm, angeblich für seinen Onkel. Mit der Metro fuhr er zur Rue de Lille, wo sich die deutsche Botschaft befand. Dem Pförtner sagte er, dass er ein wichtiges Dokument habe, das er nur dem Botschafter persönlich übergeben könne. Da der Botschafter nicht anwesend ist, wird er an den Legationsskretär Ernst vom Rath verwiesen. Ein Amtsdiener führte Herschel in das Büro des Diplomaten, lässt ihn hinein und schließt die Tür. Nur wenige Minuten später sind drei Schüsse zu hören. Die Bürotür wird aufgestoßen und der schwer verletzte vom Rath stürzt um Hilfe rufend heraus. Er bicht kurz danach zusammen und ist ab dann nicht mehr vernehmungsfähig.
Herbei eilendes Wachpersonal sowie vor der Botschaft patrouillierende französische Polizisten rufen eine Ambulanz und nehmen den Attentäter fest, der keinerlei Widerstand leistete. Was sich in jenen wenigen Minuten genau abgespielt hatte, ist bis zum heutigen Tage umstritten, da nur die Aussagen von Herschel Grynszpan vorliegen, die zum Teil später von ihm widerrufen wurden. Zunächst gab er an, dass er allein gehandelt habe, gegen die Verfolgung der Juden in Deutschland protestieren und Ausreisepapiere für seine Familie nach Palästina erpressen wollte. In Hitler-Deutschland wurde er umgehend als „Handlanger des Weltjudentums“ dargestellt.
Bereits lange vor diesem Attentat hatte das Nazi-Regime für das Jahr 1938 zwei „Schwerpunkte der Judenpolitik“ vorgegeben: Die Juden aus dem öffentlichen Leben, vor allem aus der Wirtschaft, auszuschließen und durch verstärkte Diskriminierung mehr Juden zur Auswanderung aus Deutschland zu zwingen. Herschel Grynszpans Attentat wurde umgehend für diese Pläne genutzt: Als Ernst vom Rath am 9. November 1938 in einem Pariser Krankenhaus verstarb, hielt Propagandaminister Goebbels eine Rede vor Parteiführern in München, in der er „schärfste Vergeltung“ forderte. Noch am Abend gaben die SA-Gruppenführer an ihre jeweiligen Heimbereiche Anweisungen für „Rache für den Mord an vom Rath“ durch: „Sämtliche jüdischen Geschäfte sind sofort von Männern in SA-Uniform zu zerstören. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen.“
In der Nacht vom 9. auch den 10. November 1938 kam es beinahe überall im Deutschen Reich zum Pogrom: Tausende jüdischer Menschen wurden gedemütigt und verfolgt, zehntausende verhaftet. Hunderte Menschen wurden ermordet; – genaue Zahlen der Selbstmorde und Todesfälle in den Konzentrationslagern waren zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Tausende jüdische Geschäfte wurden geplündert, die Schaufenster zerschlagen. Der Begriff „Reichskristallnacht“ wurde vom Berliner Volksmund geprägt. Er fungierte als ironischer Gegenbegriff zur Propagandalüge vom „spontanen Volkszorn“ und sollte stattdessen den organisierten Charakter des Pogroms hervorheben. Die meisten Synagogen im Reich gingen in Flammen auf, wobei die Feuerwehr die Aufgabe hatte, nur zu verhindern, dass die Brände auf „deutsche“ Häuser übergreifen.
Herschel erfährt zunächst nichts von den grauenhaften Vorkommnissen im Deutschland Adolf Hitlers. Immer wieder versuchen die ihn vernehmenden Beamten „Hintermänner“ für seine Tat zu finden. Vom November 1938 bis zum Mai 1940 verblieb er in Untersuchungshaft im Jugendgefängnis Fresnes bei Paris. In den Vereinigten Staaten von Amerika hatten sich Solidaritätsgruppen gebildet, die Geld für einen guten Anwalt sammelten und ihn zum „Helden im Kampf gegen den Nazi-Terror“ erklärten. Die politische Lage änderte sich mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, für Herschel im Mai 1940. Kurz vor dem drohenden Einmarsch der „Großdeutschen Wehrmacht“ in Paris wurde das Gefängnis Fresnes evakuiert.
Alle Insassen marschierten gemeinsam mit Wachmannschaften vom 1. bis 17. Juni in Richtung Bourges. Deutsche Sicherheitskräfte sind Herschel Grynszpan inzwischen auf den Fersen. Am 14. Juni des Jahres 1940 zieht die deutsche Wehrmacht in der französischen Hauptstadt ein. Am 18. Juni entscheidet der Gefängnisdirektor in Bourges, den prominenten politischen Gefangenen Grynszpan „freizusetzen“. Allein flüchtete Herschel weiter Richtung Südfrankreich, wo er Anfang Juli in Toulouse ankommt. Am Ende seiner Kraft stellte er sich dort der französischen Justiz, was ihm sicherer erschien, als den Nazis in die Hände zu fallen. Und das war ein tragischer Irrtum!
Am 18. Juli 1940 liefern die Franzosen Herschel an die Deutschen aus. Er wird noch am gleichen Tag nach Berlin geflogen, wo ein Schauprozess vorbereitet werden sollte. Als Richtlinie 1 gab das NS-Propagandaministerium den Juristen vor: „Die Person des Mörders ist an sich uninteressant. Auf der Anklagebank sitzt das Weltjudentum..!“ Doch der Prozess wurde immer wieder verschoben; – unter anderem, weil vernehmenden Beamten mehrere Aussagen von Zeugen vorlagen, dass Ernst vom Rath in homosexuellen Bars in Paris gesehen wurde. Es war für die Juristen nicht mit Sicherheit auszuschließen, dass Grynszpan und vom Rath sich bereits vorher einmal in einer dieser Bars gesehen hatten.
Am 24. Januar 1942 notiert Goebbels: „Grünspan hat das freche Argument gefunden, dass er mit dem erschossenen Legationsrat ein homosexuelles Verhältnis habe. Das ist natürlich eine unverschämte Lüge, immerhin ist sie geschickt erdacht und mithin würde diese das Hauptargument der gegnerischen Propaganda werden..!“ Im Sommer des Jahres 1942 wurde der Prozess offiziell abgesetzt, da sich das Propagandaministerium im fortgeschrittenen Verlauf des Krieges keinen Nutzen mehr versprach. Herschel Grynszpan wurde im Alter von 21 Jahren vom Untersuchungsgefängnis Moabit (Berlin) in das KZ Sachsenhausen gebracht, wo sich seine Spur verloren hatte.
Nach dem Krieg gab es Gerüchte, dass er überlebt habe und unter falschem Namen nach Frankreich zurückgekehrt sei. Bis zum heutigen Tage gibt es keinen endgültigen Beweis für seinen Tod in Sachsenhausen noch für sein Weiterleben nach 1945. Beide Eltern sowie Herschels Bruder Markus überlebten den Krieg und konnten später nach Israel auswandern. Seine Schwester Berta kam beim Überfall der hitlerischen Wehrmacht auf die Sowjetunion ums Leben. Die letzte verbürgte Aussage von Herschel Grynszpan stammt aus seinem Tagebuch vom 12. Dezember des Jahres 1938: „Es ist ein Unglück, dass der Mann starb, auf den ich schoss. Ich wollte ihn nicht töten, nur verwunden. Und dies wollte ich nur, um zu protestieren. Möge Gott mir verzeihen für die Ermordung eines Mannes, der möglicherweise unschuldig war.“
Mögen die Mitglieder und Anhänger der AfD diesen Beitrag lesen und dagegen protestieren, so wie es einer von ihnen fertig brachte, das Mahnmal in Berlin für die sechs Millionen ermordeter Juden durch die Nazis als „Schandmal für Deutschland“ darzustellen.
Von Rolf von Ameln
Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Dann unterstützen Sie uns bitte mit einer Spende, oder werden Sie Mitglied der Israel-Nachrichten.
Durch einen technischen Fehler, ist die Kommentarfunktion ausgeschaltet!
Leserkommentare geben nicht die Meinung der Redaktion wieder. Wie in einer Demokratie ueblich achten wir die Freiheit der Rede behalten uns aber vor, Kommentare nicht, gekuerzt oder in Auszuegen zu veroeffentlichen. Anonyme Zuschriften werden nicht beruecksichtigt.