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Zeitgeschichte in den Israel Nachrichten: Die Zionistische Rundschau berichtet am 4. November 1938

Wie es in Wien im Jahre 1938 den dort lebenden Juden zu Mute war, beschreibt ein Beitrag in oben genannter Zeitung von Dr. Jakob Rosenthal:

Als Jude unterwegs

Zionistische Rundschau. Foto: Archiv/RvAmeln

London, im Oktober 1938: Wir alle, die wir in den letzten Monaten in Wien lebten, wissen, wie sehr unser Denken und Fühlen nur um einen Punkt sich bewegt, unsere Sorge nur um die eine Frage kreist: „Wie wandern wir aus?“ Alle Energien der jüdischen Gesamtheit sind auf dieses zentrale Problem konzentriert. Aber auch das Leben jedes einzelnen Juden dieser Stadt, einer jeden jüdischen Familie ist von diesem Gedanken erfüllt. Dem „Wie“ gesellt sich die womöglich noch schwierigere Frage des „Wohin?“ Unsagbar schwer deshalb, weil die Beantwortung dieser Frage so gar nicht von der Wahl des Einzelnen, sondern von den Faktoren abhängt, die gänzlich außerhalb der Einflußsphäre der meisten zur Auswanderung Bereiten liegt.

Und dieses „Wohin?“ wird immer mehr zu einem von den harten objektiven Bedingungen diktierten „Dorthin!“ Erst an zweiter oder dritter Stelle steht vor dem Auswanderer in aller zurückgedrängten Bangigkeit die nicht minder schicksalsschwere Frage: „Wie baue ich mir, dort im unbekannten, oft kaum dem Namen nach geläufigen Zielland, in dem mir vom Schicksal bestimmten Neuland eine neue Existenz auf?“ Diese Frage war vorher kaum in unser Bewußtsein getreten – diese rein psychologische Analyse hat natürlich nichts mit der wertvollen Umschichtungsarbeit, die in dieser Richtung geleistet wird, zu tun – und wenn dies schon der Fall war, so wurde diese Frage verdrängt.

Ihre Beantwortung ist in der Tat so schwierig, daß der Auswanderer im Augenblick der Vorbereitung seiner Ausreise an die Existenzbildung im neuen Wohnort gar nicht denken will, in der richtigen Erkenntnis, diese Frage von Wien aus nicht lösen zu können, und im weiteren sicheren Gefühl, daß das ernste Aufrollen der künftigen Existenzsorgen den vor der Auswanderung Stehenden an der Durchführung seiner Auswanderung nur hemmen könnte. Also stellt er diese Frage zunächst zurück. Sie tritt an ihn heran, in aller Schwere, sobald er die primäre Angelegenheit der Auswanderung vollständig gelöst hat. Die Auswanderungsbereitschaft hat – das kann man wohl sagen – zumindest psychologisch die Gesamtheit der jüdischen Bevölkerung Wiens erfaßt, so daß es wohl kaum eine jüdische Familie gibt, von der nicht zumindest ein Teil oder ein Mitglied bereits ausgewandert wäre.

Denn nicht jede Familie ist nicht in der glücklichen Lage, gleichzeitig und in das gleiche Zielland auszuwandern. Bisweilen bedeutet dies eine Trennung für Jahre, ein Umstand, der in seiner ganzen Tragik nur von dem Menschen empfunden werden kann, der diese Trennung selbst miterlebt. Gebannt auf den einen Punkt der Vorbereitung und Durchführung unserer Auswanderung, können wir begreiflicherweise auf eine Vielfalt von Problemen, mit denen allzu bald ein jeder Auswanderer konfrontiert wird, kaum Rücksicht nehmen. Unser Bericht will heute und in der Folge nicht zuletzt den Versuch machen, die Empfindungen und Erlebnisse, aber auch das Auftauchen der verschiedenen Probleme, die für den in Wien seine Auswanderung vorbereitenden Juden zu wissen wert sind, zu vermerken und darzustellen.

An einem milden Herbstabend eines Tages voller Gespanntheit und Ungewißheit über das Schicksal kommender Stunden, verabschiedeten sich am Wiener Westbahnhof Kinder von ihren Eltern, Söhne von ihren Müttern, Gatten von ihren zurückbleibenden Familien, Brüder von Schwestern. Daß die Zurückbleibenden weinten – daß die Abreisenden gedrückt waren – wer wollte sie dafür verdammen! Wer möchte da Richter sein, daß diese Auswanderer manchem nachhängen, das sie zurücklassen, daß sie beschwert sind von der Sorge einer harten, unbekannten Zukunft, der sie entgegen gehen, und daß dies alles sich zu einem beklemmenden, bedrückenden Gesamtgefühl verdichtet.

Es ist, man muß dies festhalten, ein Zug, der die Auswanderer in alle Weltrichtungen führen soll, nur nicht nach Palästina. Dies macht auch den Abschied anders, schwerer. Dabei sind unter diesen Auswanderern gar viele, die für ihr Leben gern ihre Zukunft mit dem jüdischen Land verbunden hätten, die glücklich wären, wenn ihr Ziel Palästina hieße. Aber die Möglichkeit hierzu ist diesen braven jüdischen Menschen genommen, das Zauberwort „Zertifikat“ blieb ihnen ein versiegeltes Schloß. Es ist ein richtiger Auswandererzug mit allen seelischen Begleiterscheinungen. Das Abschiedsrufen wird rasch durch die Zugpfeife unterdrückt.

Zionistische Rundschau (Titelblatt). Foto: Archiv/RvAmeln

Ein paar Gestalten im Halbdunkel der Bahnhofslampen bleiben tücherschwenkend in der immer winziger werdenden Bahnhofshalle noch sichtbar, während der D-Zug im Dunkel der Nacht schon hineinrast, mit sich Menschen führend, die abgekämpft und doch zukunftserfüllt, müde und doch mit Hoffnung sind. Sucher neuen Lebensbodens, neuer Lebensmöglichkeiten für sich, ihre Kinder, die sie noch zurück ließen, für ihre Gemeinde und für alle, die nach ihnen kommen sollen. Die Fahrt geht durch das schöne, im herbstlichen Sonnengold funkelnde Rheinland. Zur historischen Stunde passiert unser Zug – es ist Donnerstag, der 22. September, 2 Uhr nachmittags – das romantisch am Rheinufer liegende Godesberg, wo eben der Herzschlag Europas innehält.

Wir sind auf dem Wege nach Holland, der ersten Station unserer jetzigen Wanderung. Unser Zug ist, wie erwähnt, kein Palästina-Wanderer-Zug. Man hört keine Lieder singen, man sieht keine Jugend. Die Auswanderer hier sind sind überwiegend junge Ehepaare, von denen sich viele zur gemeinsamen Auswanderung zusammengeschlossen haben, mit ein bis zwei Kindern im Alter zwischen sechs und zehn Jahren, aber auch kinderlose Familien sind unter ihnen. Sie sind aber trotzdem ein Kollektiv, zusammengeschmiedet- und gefügt durch gemeinsames Leid, gemeinsames Schicksal ihres Judeseins. Und so ist man rasch Bruder und Schwester während der Fahrt geworden.

Bald kennt man das genaue Reiseziel der meisten Mitfahrenden, weiß man Bescheid über ihre nächsten Pläne, hört und teilt man ihre großen und kleinen Sorgen und Gedanken, die dem rasenden Schnellzug womöglich nach Australien vorauseilen. Diese junge Frau, die sich so schwer von der Mutter in Wien trennen konnte, hatte als Mädchen einige Jahre in Palästina gelebt, sie fährt jetzt mit ihrem Mann und einem zweiten Ehepaar mit Kind nach Australien….

Fortsetzung folgt in der nächsten Ausgabe; – doch nun etwas über die „Zionistische Rundschau“:

Die „Kristallnacht“ im November 1938 brachte auch das Ende der jüdischen Presse in Nazi-Deutschland mit sich – von den Publikationen der „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ bis zu kleinsten Gemeindeblättchen. Und so finden sich keine jüdischen Zeitungen, die über die Vorgänge der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 berichten. Nach den Novemberpogromen wurden zahlreiche jüdische Zeitungen eingestellt. Später gaben die Nazis eigene Zeitungen heraus, die sich direkt an die Juden wandten, um die jüdische Bevölkerung über die NS-Politik und die zu dieser Zeit noch geförderte Auswanderung zu informieren. Die Ausgabe vom 4. November 1938 zeigt aber bereits deutlich, womit sich die Juden hauptsächlich beschäftigen mussten: Mit der Flucht.

Die in Wien erschienene „Zionistische Rundschau“ war ein Organ des Zionistischen Landesverbandes für Deutschösterreich, eines der zahlreichen zionistischen Vereine in Wien. Herausgeber war Dr. Emil Reich, ein Philosoph, Kunstkritiker und Journalist, dem die Volksbildung ein Herzensanliegen war. 1901 gründete er mit Ludo Moritz Hartmann die erste Wiener Volkshochschule. Und gerade in diesem zionistischen Blatt verwundert es nicht, dass sich die Titelseite mit der Situation in Palästina beschäftigt, denn schließlich sollte dort auf historischem Boden der neue Staat der Juden entstehen.

Und doch haben es sechs Millionen jüdischer Menschen nicht vollbringen können.

Von Rolf von Ameln

 

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Von am 04/01/2017. Abgelegt unter Spiegel der Zeit. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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