Das sozialdemokratische Wochenblatt „Der Vorwärts“ titelt am Sonntag, 16. August 1936 aus dem Exil in Paris:
Braune Justiz-Olympiade. Massenprozeß gegen illegale Sozialdemokraten in Rheinland-Westfalen. – 600 Angeklagte, 450 bereits abgeurteilt. – Viele hundert Jahre Zuchthaus. – Unmenschliche Folterungen in der Voruntersuchung.
Gegenwärtig wickelt sich vor dem Oberlandesgericht in Hamm in Westfalen die Serie eines Riesenprozesses gegen frühere sozialdemokratisch organisierte Männer und Frauen ab, den man im ganzen Westen den „Brotfabrik-Prozeß“ nennt. Den Namen hat der Prozeß bekommen, weil er seinen Ausgang genommen hat von einer Brotfabrik „Germania“ in Hamborn. Hier waren viele Sozialdemokraten und Freigewerkschaftler beschäftigt gewesen und hier hatte die Gestapo die ersten Verhaftungen vorgenommen. Ende April 1935, also bereits vor 1 1/2 Jahren, erfolgten die ersten Verhaftungen. Die Fabrik wurde von der Gestapo geschlossen, angeblich weil hier ein „marxistisches Netz“ entdeckt worden war, in dem man sich nicht nur gegen den nationalsozialistischen Staat betätigte, sondern auch unter unhygienischen Verhältnissen Brot herstellte.
Die Nazipresse behauptet zum Beispiel, daß in den Backräumen – man staune – „zehn Zentimeter hohe Staubschichten“ entdeckt worden waren. Natürlich war das Schwindel. Jedoch gaben solche Behauptungen die Möglichkeit, wirtschaftliche Maßnahmen gegen den Besitzer durchzuführen und die Fabrik zu schließen. Der Besitzer wurde verhaftet und schließlich wurde die Fabrik von der Arbeitsfront des Herrn Dr. Ley wieder eröffnet. Im ganzen Land erfolgten Woche für Woche neue Verhaftungen. Man griff wahllos zu. Die Verhaftungswelle erstreckte sich von Godesberg am Mittelrhein bis nach Krefeld und Kempen am Niederrhein, von Aachen an der belgischen Grenze bis nach Lüdenscheid im Sauerland.
Man holte sich junge Arbeiter aus den Kruppwerken in Essen und ergraute Familienväter aus den Schneidwarenfabriken in Solingen, schwer arbeitende Bergkumpels aus den Gruben in Hamborn und sozialdemokratische Proleten aus den Fabriken in Köln, Textilarbeiter aus München-Gladbach und Metallarbeiter aus den Messingwerken in Stollberg. Mitten hinein in das industrielle Herz des Westens stieß man. Desselben Westens, der so unendlich viel Not und Elend im Interesse des deutschen Volkes in den vergangenen Jahren ertragen hatte. Im Kriege bei Kohlrüben und Marmelade, in der Nachkriegszeit, in der Inflation, in der Zeit der Seperatistenkämpfe und im Bürgerkrieg. Man holte sich gerade die sozialdemokratischen Arbeiter, die in all den Jahren nicht nur treu zur Demokratie gestanden hatten, sondern die auch treu zu ihrem Vaterlande standen, wenn andere sich feige verkrochen hatten.
Die trotz schwerster Entbehrungen nicht etwa „Bolschewiken“ wurden, sondern sehr oft ihre eigenen Interessen hinter die der Gesamtheit zurückstellten. Jetzt sollen alle diese Arbeiter, unter denen sich auch mancher ehemalige Gewerkschaftsangestellte und „Parteibonze“ befindet, gegen die Sicherheit des Staates verstoßen haben. Das wirft ihnen die Anklage vor. Die Anklageschrift gegen die 17 Hauptangeschuldigten, die zuletzt, wahrscheinlich Ende August, Anfang September zur Aburteilung kommen sollen, besagt, daß „die Angeklagten teilgenommen haben an einem hochverräterischem Unternehmen, das den Zweck hatte, gewaltsam die Verfassung zu ändern, wobei die Tat unter anderem den Zweck verfolgte, durch Hochverrat einen organisatorischen Zusammenhalt herzustellen und aufrecht zu erhalten, die Massen durch Verbreitung von Schriften zu beeinflussen.
Die Schriften wurden zum Zwecke der Verbreitung im Inlande aus dem Auslande eingeführt. Die Angeschuldigten haben an dem Ausbau einer illegalen sozialdemokratischen Organisation mitgearbeitet, die die Einfuhr und Verbreitung hochverräterischer Druckschriften, die Einziehung von Beiträgen zu deren Bezahlung und der Uebermittlung von Nachrichten über innerdeutsche Verhältnisse in das Ausland zum Gegenstand hatten. Alle Angeschuldigten haben im Rahmen dieser Tätigkeit auch an Besprechungen im Auslande teilgenommen.“
Der Monsterprozeß wird wird Anfang Mai in mehreren Abteilungen durchgeführt. Bevor der erste Abschnitt des Prozesses begann, hat man viele Angeschuldigte halb tot geprügelt. Einer von ihnen, der frühere Gewerkschaftsangestellte Georg Reiter in Köln, ist an den Folgen der Mißhandlungen gestorben. Die Gestapo hat behauptet, er habe sich im Gefängnis erhängt. Jedoch durften seine Angehörigen den Toten vor der Beerdigung nicht mehr sehen und das beweist wohl zur Genüge, wie es mit der Behauptung der Gestapo steht. Ein Sohn des toten Genossen Reiter wurde übrigens zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er versucht haben soll, illegale SAJ-Gruppen zu organisieren.
Hermann Runge aus Mörs, Dr. Jacob Schiefer aus Köln, Ernst Groß aus Solingen, Ludwig Lude aus Stollberg, Adam Rompy aus München-Gladbach und viele andere hat man unmenschlich zerschlagen. Der eine ist auf einem Auge blind geworden, dem anderen sind die Nieren zerschlagen. Viele sind für ihr Leben menschliche Ruinen geworden. So kamen die Geständnisse der Angeschuldigten zustande, und die so zustande gekommenen Untersuchungsprotokolle bilden nun die Grundlage der Verhandlungen vor dem Sondergericht. Beim ersten Prozeß wurde eine grundsätzliche Entscheidung dahingehend gefällt, daß die SPD „als hochverräterische Partei und Organisation“ zu gelten habe.
Sie sei nicht nur eine hochverräterische Bewegung, sondern auch eine hochverräterische Organisation, deren Unterstützung objektiv betrachtet, die Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens darstelle. Es genüge dabei die Propaganda von Mund zu Mund und die Verbreitung der Gedanken der SPD, weiterhin Beitragszahlungen oder „sonstige geldliche Zuwendungen“. Das letztere bedeutet in der Praxis, daß alle diejenigen verurteilt werden können, die das Elend der Familien der Inhaftierten durch Hilfsmaßnahmen zu lindern suchten. Von den etwa 600 Angeschuldigten sind bis jetzt etwa 450 abgeurteilt worden. Bei den Verhandlungen wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen und nur hin und wieder wurden einzelne Urteile veröffentlicht.
Trotzdem dringen Nachrichten über den Ausgang der Gerichtsverhandlungen bis in das letzte Arbeiterheim. Die bisherigen Urteile bewegen sich zwischen 8 Monaten und 1 Jahr 9 Monaten Gefängnis und zwischen 1 1/2 Jahren und 5 Jahren Zuchthaus. Die Verurteilten stammen aus allen größeren Orten des Rhein-Ruhr-Gebietes, aus den Orten Aachen, Bonn, Brühl, Gastrop, Dinslaken, Duisburg, Düsseldorf, Dülken, Dortmund, Essen, Gelsenkirchen, Godesberg am Rhein, Hamm, Hamborn, Hornberg, Knapsack bei Köln, Krefeld, Kempen, Köln, Lüdenscheid, Lindfort, Mörs. Mühlheim an der Ruhr, München-Gladbach, Oberhausen, Solingen, Stollberg und anderen Orten.
Unter den bereits Abgeurteilten befinden sich drei Frauen, Maria Schenten aus Dülken, Emmy Storch aus Düsseldorf und Liesel Jung aus Mörs. Ein Teil der Angeklagten mußte freigesprochen werden, weil nicht der geringste Beweis für für ihre angebliche Tätigkeit gefunden werden konnte. Man hatte ja wahllos verhaftet und man wollte absolut die Sozialdemokraten treffen. Unerhört viel Unglück ist über viele Hunderte von Familien gekommen. Die Väter steckte man ins Gefängnis, die Familien überließ man ihrem Unglück. So kam es, daß die Kinder der Verhafteten hungern mußten und daß sich Mütter erhängten. Der Riesenprozeß dauert bereits über zwei Monate. Man rechnet mit dem Schluß bis Ende August.
Dann soll der Hauptschlag gegen die 17 „Rädelsführer“ geführt werden. Es sind dies: Hermann Runge, Mörs, Ludwig Lude, Stollberg, Eduard Dietz, Aachen, Ferdinand Sauerbier, Franz Bott, Willi Schirrmacher, Köln, Adam Rompy, Theodor Steigermann, München-Gladbach, Karl Hankamp, Gerhard Schaub, Wilhelm Kattwinkel, Lüdenscheid, Heinrich Hammacher, Wilhelm Wate, Dr. Jaoc Schiefer, Köln, Ernst Groß und Sebastian Dani aus Solingen. Unter den oben genannten befinden sich Arbeiter und Angestellte, ehemalige Gewerkschafts- und Parteiangestellte, Arbeitersportler und Naturfreunde. Alles geschulte sozialdemokratische Funktionäre. Diese 17 wollen, daß Deutschland lebe, sie wollen nicht, daß es unter dem Nazi-Regime in den Untergang schlittert; das ist ihr ganzes Verbrechen. Der Staatsanwalt aber will möglichst viele von ihnen die höchste Strafe, viele Jahre Zuchthaus, vielleicht will er von einigen ihren Kopf. Und das System will einen unheimlichen Schrecken mit drakonischen Urteilen verbreiten. Im Grunde hat es Angst vor der unterirdischen Unruhe.
In Berlin findet gegenwärtig die Olympiade statt. Herr Goebbels versucht durch seine riesige Propaganda bei dieser Gelegenheit die Welt von der Harmlosigkeit des Dritten Reiches zu überzeugen. Das wird ihm bei vielen vielleicht sogar vorübergehend gelingen. Denn die Besucher der Olympiade sehen ja nichts von dem unterirdischen Geschehen, nichts von dem Elend, daß der Nationalsozialismus für das deutsche Volk bedeutet. Wird die Welt auch an diesem Prozeß teilnahmslos vorbeigehen? Wird sie sich durch Feste und Feiern betäuben lassen? Wir hoffen noch immer, daß es nicht so sein werde. Sollte es aber so sein, wie es Herr Goebbels wünscht, dann wird die Welt genau so für ihre Nachsicht büßen müssen, wie jetzt das deutsche Volk, und der Welt wird es genau so ergehen, wie den Illegalen, sie wird sich eines Tages im europäischen Gefängnis befinden.
„Der Vorwärts“ blieb immer ein „Organ des Kampfes, der Information, der Organisation und der theoretischen Klärung“. Dadurch war diese Zeitung eine wichtige Quelle, wenn es darum ging, die Sopade – Sozialdemokratische Exilorganisation – nachzuvollziehen. So radikal die Positionen in den ersten Jahren des Exils auch waren, Anfang 1936 ist deutlich zu spüren, dass das Ziel einer sozialistischen Revolution massiv zurückgeschraubt wurde. Es ist nur noch von einem allgemeinen Befreiungskampf des gesamten deutschen Volkes die Rede; der Glaube an Freiheits- und Demokratie-Ideale prägte die Berichterstattung. Hatte man einst im „Prager Manifest“ noch den Sturz des Kapitalismus propagiert, so wurde jetzt – den deutschen Realitäten angepasst – die Befreiung des Volkes von einem verbrecherischem Regime gefordert. Ethik und Moral traten als Argumente an die Stelle des „Klassenkampfes“.
Und ab dem 1. September 1939 begann mit dem „Polenfeldzug“ die Unterdrückung und Beherrschung der Nazis in fast ganz Europa; – und sollte erst im Jahre 1945 ein Ende finden.
Von Rolf von Ameln
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