In dem vollkommen paradigmatischen, für das Verfahren in allen Domänen und auf allen Gebieten beispielmäßiger Verlauf der deutschen Judenangelegenheiten gab es nur einen einzigen, ganz kurzfristigen Bruch. Die Methoden während der ersten Jahre der Nazi-Herrschaft bestand aus anfänglichem Leugnen, Verkleinern, Beruhigen, Versprechungen; dann aus allmählichem, jahrelang hingeschleppten Schritt-für-Schritt-Praktizieren; schließlich aus dem plötzlichen, wilden Total-Vernichtungsschlag, der mit einem einzigen Streich alle kannibalischen Vor-Regierungsverkündungen verwirklichte. Von diesem Verfahren gab es nur eine einzige Abweichung.
Es war der Versuch vom 1. April 1933, das Ganze sofort in einem Sprung zu erledigen. Der damals verfügte Boykott der jüdischen Geschäfte stellte sich in der Tat als nichts anderes dar denn es war ein verfrühter Versuch, dieselbe wirtschaftliche Ermordung der Juden, die erst im Jahre 1938 exekutiert werden konnte, schon damals ohne Zwischen-Etappen zu vollziehen. Auch das war nichts Anormales, denn man hatte es auch auf anderen Gebieten ebenso erlebt. Auch mit Österreich zum Beispiel hat man zweimal den Versuch unternommen, 1933 und 1934, das Ziel in einem einzigen Sprung, ohne verzögernde Perioden schrittweisen Prozedierens, verfrüht zu erreichen.
Auch dort, wie in der „Judensache“, war das blitzschnelle Zurückfallen ins Leugnen, Beteuern und Geloben, als die vorzeitigen Versuche abgebrochen werden mussten, kein Beweis dafür, dass die Ziele im Geringsten zurückgepflockt worden seien. Nichtsdestoweniger hat die Erinnerung an Erinnerung an jenen vorzeitigen Engros-Versuch, der nach einem einzigen Tag, wegen der damals noch wirksamen Einsprüche mehrerer ausländischer Regierungen, abgebrochen wurde, ihr Interesse. Denn die Unternehmung vom November 1938 war nahezu nuancenlos eine Kopie ihrer Vorgängerin vom April 1933. Goebbels, der die Sache damals machte, – Beschlussfassung bei einem Besuch Goebbels bei Hitler in Berchtesgaden am 27. März 1933 -, und von dem man allen Anlass hatte, anzunehmen, dass er sie auch diesmal gemacht hatte: Goebbels hatte einfach die damals ausgeknobelte Schablone aus der Schublade geholt und nochmals benutzt.
Damals wie 1938 sollten mit einem einzigen Schlag sämtliche jüdischen Geschäfte aller Zweige definitiv zertrümmert werden. Damals wie im Jahre 1938 wurde dafür – letzter und üblicher Zoll der Bestialität an die Moral – eine „sittliche“ Bemäntelung gesucht. Damals also schon, wie 1938, wurde der beabsichtigte Wirtschaftsmord an den Juden im Deutschen Reich als Sühne oder Strafe oder Repressalie für – angebliche – Geschehnisse im Ausland aufgemacht. Diesmal war es ein Mord im Ausland, damals war es die „Greuelhetze“ im Ausland. Der erste Aufruf, dass ab dem 1. April über sämtliche jüdischen Geschäfte – einschließlich Ärzte und Rechtsanwälte – der Total-Boykott verhängt worden sei, erschien im „Völkischen Beobachter“ vom 29. März 1933. Nach Schilderung der grausamen „internationalen Greuel- und Boykotthetze gegen Deutschland“ fährt er fort:
„Die Schuldigen befinden sich unter uns; sie leben unter uns und missbrauchen Tag für Tag das Gastrecht, welches das deutsche Volk ihnen gewährt hat… Verantwortlich für diese Lügen und Verleumdungen sind die Juden unter uns. In ihren Händen liegt die Macht, die Lügner in der übrigen Welt zurückzuweisen. Da sie dies nicht tun wollen, werden wir dafür sorgen, dass dieser Feldzug des Hasses und der Lügen gegen Deutschland sich nicht gegen das unschuldige deutsche Volk richtet, sondern gegen die verantwortlichen Hetzer selbst.“
Ebenso sagte am Vorabend des großen Tages ein Aufruf des mit der Durchführung der Aktion beauftragten – spontan vom Himmel gefallenen! – „Zentralkomitees zur Abwehr jüdischer Greuel- und Boykotthetze“:
„Deutsche Volksgenossen! Deutsche Volksgenossinnen! Die Schuldigen an diesem wahnwitzigen Verbrechen, an dieser niederträchtigen Greuel- und Boykotthetze sind die Juden in Deutschland. Sie haben ihre Rassegenossen im Ausland zum Kampf gegen das deutsche Volk aufgerufen. Sie haben die Lügen und Verleumdungen hinausgemeldet. Darum die berechtigten Abwehrmaßnahmen der Reichsregierung!“
Selbstverständlich war das, was man „Greuelhetze“ nannte, niemals stärker als gerade an dem Tage, an dem das Greuel-Schauspiel dieses Boykotts in Nazi-Deutschland abrollte. Selbstverständlich war sie niemals stärker als justament in dem Augenblick, in dem die Edlinge in Berlin verkündeten, sie sei „abgestellt“. Wenn hier noch von Paradigma gesprochen werden konnte, so beschränkte das sich auf die Entschlossenheit, mit der frechsten Stirn draufloszulügen. Und was dies anbelangte, gab es allerdings auch 1938 keine Neuerung. Mit dem denkwürdigen Artikel, den er am 12. November im „Völkischen Beobachter“ erschienen ließ und den die gesamte deutsche Presse übernehmen musste, hat der Propagandaminister Goebbels nicht sein schlechtestes Stück in diesem Genre geliefert:
„Eines der hevorstechendsten Merkmale der in den vergangenen Tagen stattgefundenen Aktionen gegen das Judentum ist die Tatsache, dass es zwar zu Demolierungen, aber nirgendwo zu Plünderungen gekommen ist!“
Also gab es keinen Korrespondenten in Berlin, der nicht die Plünderungen gesehen oder beschrieben hätte!
Ergo war es niemals sicher, dass das Reich der Nazis in seiner Knappheit an Arbeitskäften überhaupt bereit war, die Juden aus ihrem Land zu lassen? Gingen die Pläne der Nazis nicht schon auf anderes: auf Verwendung als Arbeitssklaven, wenn nicht, gelegentlich, als Totschlagsziel? Kam nicht auch das Verspätete wieder zu spät? Wie dem auch sei: das materielle Fiasko in der Frage der Juden in Deutschland war unbestreitbar; es hat kaum gemildert seinen Fortgang genommen, und es ließ sich schon damals unglücklicherweise nicht leugnen, dass es nur allzugut in manch anderes Bild passte. Aber noch trüber und pessimistischer war das, was man die moralische Symbolik nennen konnte, denn wohl hat man in einigen anderen Ländern enorme moralische Aufwallungen bemerken können.
Es war auch kein Zufall, dass es gerade Länder waren, in denen die Religionen noch sehr mächtig waren: England, die USA, Holland. Hier hatten nicht nur die öffentlichen Meinungen, sondern mit ihnen auch die Regierungen sich erhoben; – und sie hatten sich nicht nur erhoben in reiner Humanität, sondern in einem Gefühl, das viel weiter ging: in einem Gefühl, dass die paar Grund-Postulate des Rechtes, der Sittlichkeit und die Menschenrechte die ganze Basis dessen waren, was den verteidigenswerten Besitzstand der Menschheit ausmachte, und das alles in diesen Grund-Postulaten dermaßen miteinander verknüpft war, dass nichts Einzelnes daran zerbrochen werden konnte, ohne dass sofort auch anderes zu Bruch ging.
Aber es war auch eine ermüdende Apathie für solche Gefühle bei anderen Regierungen und Völkern zu spüren; und man konnte davon ausgehen, dass dies das besorgniserregendste Licht war, das von der deutschen Judenvernichtung auf andere, weitere Probleme fiel. Denn das Leben, die Beharrung, die Existenzkraft der Völker waren und sind in erster Linie eine moralische Bedingtheit. Es verteidigt sich nichts, was nur Materie ist. Es verteidigte sich nur ein moralischer Besitzstand, und nur in dem Grade, in dem er den Gemütern teuer und in hohen, heiligen Ehren ist. Wo das „Dritte Reich“, das 500.000 Menschen ausrottete, nur eben als ein Feind dieser Menschen verstanden wurde, nicht als Bedroher von moralischen Kategorien, die zum Inbegriff des eigenen Lebens gehören, – wo nur das Los der Opfer selbst als im Spiele befindlich empfunden wurde und nicht auch das Los derjenigen Werte, auf denen die eigene Gesellschaft fußt, – wo das sich so abspielte, waren moralische Morschungen eingetreten, die kaum verfehlen konnten, auch in anderen Zusammenhängen den Selbsterhaltungstrieb zu mindern. Dass sie Reaktion auf die Verbrechen im Reich der Nazis in wesentlichen Teilen Europas schon damals von solcher ethischer Müdigkeit war, ist, wenn von Paradigmen die Rede war, das wenigst verheißungsvollste von allem.
Den Lesern der Israel Nachrichten zur Erinnerung an den millionenfachen Mord, der folgte, geschrieben.
Von Rolf von Ameln
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