„Das wahre Deutschland“ berichtet aus dem Exil in London
Noch bis in die ersten Kriegsmonate hinein haben viele den Nationalsozialismus trotz seines Bündnisses mit Russland als ein Bollwerk gegen den Kommunismus betrachtet, während andere glaubten, dass er berufen sei, einen gemäßigten Sozialismus in Deutschland herbeizuführen. Das von Hitler aufgebaute ökonomische und finanzielle System ist weder ein „sozialistisches“ noch ein „kapitalistisches“, es ist weiter nichts als die völlige Bürokratisierung der gesamten Wirtschaft in der Hand der Partei und des Staates; die kommunistische Tendenz ist nicht zu verkennen. Gewiss, außer den Juden sind die Kapitalisten nicht enteignet, sie sind die Besitzer von Grund und Boden, von Fabriken und so weiter geblieben, es wird auch verdient und die Einkünfte mancher Parteiführer und Industrieller sind auch heute noch groß, obwohl die steuerliche Erfassung der Einkünfte bei allen nicht zu den Begünstigten der Partei gehörenden Steuerzahlern bis zum Äußersten durchgeführt ist.
Diese Verdienstmöglichkeiten, lediglich auf öffentlichen Aufträgen beruhend, hören im Augenblick des Zusammenbruches des Regimes auf, und damit ist das rettungslose Ende des sogenannten Kapitalismus in Deutschland gegeben. Wie sieht nun das so oft bewunderte nationalsozialistische Wirtschafts- und Finanzsystem aus? Die gesamte Wirtschaft einschließlich der Landwirtschaft ist kontrollierenden Fachschaften untergeordnet, die unter der Leitung bewährter Parteigenossen stehen, die neben ihrem Dienstauto Barbezüge von 24.000 Reichsmark haben. Es gab deren Ende 1938 bereits 37. Sie sind in ihrem Geschäftsbereiche absolute Autokraten, gegen ihre Anordnungen gibt es keinen Appell.
In der Landwirtschaft ordnet der zuständige „Bauernführer“ die Art der Bebauung des Landes, die Höhe des Viehbestandes, den Verkauf oder Zukauf jeden Produktes, die Zahl der zu beschäftigenden Arbeitskräfte an. Preise jeder Art sind genau vorgeschrieben; der Selbstverbrauch ist nominiert, Butter ist aus der Molkerei, an die die gesamte Milch abzuliefern ist, zu beziehen. Eier gehen an die Eiersammelstelle, Viehverkauf ist geregelt, kurz der Landwirt ist lediglich Beauftragter auf einem Hofe. Dieser ist durch das Erbhofgesetz jeder Veräußerung oder Belastung entzogen, Vererbung ist vorgeschrieben, Vererbung ist vorgeschrieben. Verstöße gegen Vorschriften und Anordnungen können mit Entziehung der Hofgerechtigkeit bestraft werden, der Hof geht dann ohne Entschädigung oder Altenteil an den nächsten Agnaten über. Glückliches freies Bauerntum, wo ist deine Freiheit geblieben?
Die industriellen und gewerblichen Fachschaften umfassen ebenso jeden anderen Artikel, der im Reiche gewonnen, hergestellt, eingeführt, ausgeführt oder verkauft wird. Ob es sich um Holz oder Eisen, Wolle, Baumwolle, Seide oder Kunstseide, um Kohle, Öl, Kleider, Leder, Gummi, selbt um Schornstein-Ruß, Chemikalien, Tabak, Salz, Papier, Edelmetalle, Kaffee, Tee usw. handelt: für jeden Artikel ist eine Behörde geschaffen. Vom Einkauf bis zum Verkauf wird Quantum, Qualität – zum Beispiel Garnnummer -, Preis, Abnehmer vorgeschrieben. Der Fabrikant hat den Rohstoff zu nehmen, der ihm zugewiesen wird, der Laden die Ware, die er bekommt.
Irgendeine selbständige Entscheidung zu treffen ist untersagt. Patente sind untereinander gegen ganz geringfügige, mehr nominelle Lizenzen auszutauschen. Der Fachschaftsleiter, nicht der Kaufmann oder Industrielle ist maßgeblich für für jede kaufmännische Betätigung. Für Arbeiterfragen ist, soweit Löhne etc. in Frage kommen, der in jeder Provinz tätige Treuhänder der Arbeit zuständig und anordnend. Er setzt die Löhne fest, kann sie erhöhen oder herabsetzen, ein Rekurs ist bei ihm ebenso wenig möglich wie bei den Fachschaften. Man kann sich ausmalen, was für Zustände allgemach eintreten müssen, wenn bei der von oben herunter geförderten Korruption Mönner an der Arbeit sind, die ungehemmt und ohne jede öffentliche Kritik ihren Launen und Begierden freien Lauf lassen können.
Jeder Geschäftsmann ist diesen Männern ausgeliefert, jede Individualität ist aufgehoben, und Bestechungen und Schiebungen ist Tür und Tor geöffnet. Sicher ist jedenfalls, dass von einem Kapitalismus im üblichen Sinne des Wortes in Deutschland schon vor Ausbruch des Krieges nicht mehr die Rede sein konnte, und dass die Kontrolle in den letzten Monaten des Jahres 1940 nicht gelockert ist. Der geschäftliche Verkehr mit dem Auslande wird genau wie der inländische durch die zuständigen öffentlichen Organe bis ins Kleinste geregelt und überwacht. Die Banken unterstehen der Aufsicht des Bankenkommissars. Ihm sind monatlich von jeder Bank die neu an die Kundschaft gegebenen Kredite zu melden, Kredite zwischen 500.000 und einer Million Reichsmark und darüber unterliegen seiner Genehmigung. In jedem gewerblichen Betriebe ist ein zuverlässiger Parteigenosse als Vertreter der NSDAP eingesetzt, der die Interessen der Partei zu wahren und die Durchführung der Anordnungen derselben zu überwachen hat.
Er hat das Recht, jederzeit die Leitung zu sprechen, sein Veto einzulegen, Versammlungen der Mitarbeiter einzuberufen, zu denen auf seinen Wunsch auch die oberste Spitze jedes Betriebes zu erscheinen hat, um in ihnen parteimäßig von oft ganz untergeordneten Organen der Partei geschult zu werden. Von der zuständigen Finanzbehörde wird jeder Betrieb durch eigens dafür vorgebildete Beamte steuerlich überprüft; in einem dem Verfasser nahestehenden Betriebe mittlerer Größe dauerte eine Revision – Frühjahr 1939 – sechs Wochen, mit dem Resultat, dass einige Autospesen moniert und vom Unkostenkonto gestrichen wurden. Die Höhe der Steuern in Deutschland ist bekannt.
Erzwungene „freiwillige“ Spenden aller Art werden rücksichtslos von Groß und Klein erhoben; sie führen mit den Steuern zusammen dazu, dass ein Mann mit einem Einkommen von 2.500 Reichsmark cirka 750 Reichsmark an Abgaen zu leisten hat. Die Betriebe als solche werden von den verschiedenen Stellen kurzer Hand „veranlagt“. Wir erinnern uns, dass zum Beispiel bei der Hochzeit von Göring eine Firma die Mitteilung erhielt, sie habe für diesen Zweck 30.000 Reichsmark zu zahlen, die dann aber beileibe nicht über Unkostenkonto verbucht werden durften, sondern steuerpflichtige Gewinne waren. In diesem Falle musste die Firma für diese „Spende“ noch 12.000 Reichsmark Körperschafts- und Gewerbesteuer zahlen!
Rücksichtslos greift die Partei weiter direkt in die Privatsphäre der Wirtschaft ein. Sie hat ihren Besitz an Kohlen- und Kaliwerken über die „Preussag“, die große preußische Holdinggesellschaft, enorm erweitert. Aus Beiträgen der Arbeitsfront und aus Mitteln, die pro Kopf der Belegschaft auf die Industrie umgelegt wurden, ist das Volkswagenwerk in Fallersleben und das Hermann-Göring-Werk bei Wolfenbüttel gebaut. Sie schlagen, wenn sie fertig sind, jede Konkurrenz, da sie mit Nichts zu Buche stehen und keine Steuern zahlen. Vierzehn Fabriken zur Herstellung der Stapelfaser sind auf ähnlichem Wege erstellt oder noch im Bau. Sparbanken und Giro-Zentralen werden vom Staate in den Vordergrund gehoben, sie sind seine Geldgeber.
Das Geschäft der Privatbanken stagniert und wird nur dadurch belebt, dass sie verpflichtet sind, die von der Partei gewünschten Kredite zu gewähren und ihre Barmittel in Reichsschatzanweisungen problematischen Wertes anzulegen. Weiß doch keine Seele in Deutschland, wie hoch die Schulden des Reiches sind; es gibt keinen Etat und keine Statistik. Die Abhebung von Guthaben Privater bei Bank und Sparkasse ist beschränkt. Sie darf einen gewissen lebensnotwendigen Betrag nicht übersteigen. Dass neben allem diesen der Konsum auf allen Gebieten menschlichen Daseins rationiert wurde, ist bekannt. Es gibt Karten für Kleider, Kohlen, Butter, Fett, Zucker, Kartoffeln, kurz, alle sist genau vorgeschrieben. Nur die Parteiangehörigen haben, wenn sie gewisse Stellungen haben, Vorrechte. Sie wohnen in Häusern, die auf die Partei umgeschrieben sind und daher steuerfrei bleiben;- man erinnere sich an die Enteigung der jüdischen Bevölkerung. Sie werden von Hitler steuerfrei ausgehalten, um groß leben zu können. Kein Finanzamt wagt auch nur einen solchen Mann um eine Steuererklärung zu ersuchen. Diese „Auserwählten“ könnte man zu den Neureichen seligen Angedenkens rechnen, wenn sie ihre Vermögen in Schmuck, Bildern und Teppichen nach Übersee schaffen können. Ihre Devisen haben sie draußen. Ob sie diese je genießen werden?
In kurzen Strichen nur konnten wir das Bild eines neudeutschen Kapitalismus zeichnen, es ist ein Zerrbild. Und von Monat zu Monat wird das Wenige, was in Deutschland noch an wirklichen Werten vorhanden war, durch den Krieg aufgezehrt. Die Verdienste müssen zum größten Teile in Anleihen angelegt werden; Sparkassen, Versicherungsgesellschaften, Banken, öffentliche Kassen werden mit ihnen vollgepackt und am Ende gibt es in Deutschland zwar Fabriken und ausgesogenes Land, aber keine Werte, mit denen die staatlichen Schulden gedeckt werden können. Der sogenannte Kapitalismus in Deutschland steht nur noch auf dem Papier. Er hat sich durch die Unterstützung Hitlers vor 1933 sein eigenes Grab gegraben. Und es ist traurig genug, dass ein Mann wie Thyssen, der mit Hugenberg, von Papen, von Hindenburg und anderen Hitler in den Sattel hob, im Auslande heute wohlwollende Aufnahme findet, nachdem er, immer noch ein reicher Mann, seiner Heimat den Rücken gekehrt hat, als er sah, dass seine Unternehmungen dem Bankrott entgegen gehen. Seine Kollegen in Deutschland werden den Kapitalismus nicht retten, er hat seinen Untergang selbst verschuldet.
Von Rolf von Ameln
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