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„Das wahre Deutschland“ Ausgabe vom Oktober 1940: Flieger über London

Nun geht es schon wochenlang, Tag für Tag, Nacht um Nacht brausen und brummen die deutschen Bombenflugzeuge – sofern sie die Sperre der Abwehrgeschütze und der britischen Jagdflugzeuge durchbrechen können – nicht nur über die englische Küste, sondern auch über London hin. In der Not bewährt sich erst ein Volk. Alles ist ganz anders gekommen, als es sich die grössten Ratgeber des „grössten Feldherrn aller Zeiten“, wie sich Hitler gern nennen lässt, vorgestellt haben, ganz anders auch, als der Durchschnitts-Engländer erwartet hat. Die Londoner rechneten damit, dass Goerings Luftwaffe gleich in den ersten Tagen über sie herfallen würde, ohne Rücksicht, wie es die ahnungslosen Bewohner des baskischen Städtchens Guernica erfahren hatten, und in einem wilden Ansturm, dem, wie der Schöpfer dieser Waffe drohend ausrief, niemand in der Welt widerstehen könnte.

Zeitung "Das wahre Deutschland". Foto: Archiv/RvAmeln

Zeitung „Das wahre Deutschland“. Foto: Archiv/RvAmeln

Aber es dauerte fast ein Jahr, ehe die ersten deutschen Bomben auf das unübersehbare Häusermeer fielen. Diese Mammutstadt, der keine andre zu vergleichen ist, bietet aus der Luft ein Angriffsziel, wie es sich der blutdürstigste Eroberer nie erträumen konnte. Wenn der geisteskranke, von Hass verzehrte Nero sich wünschte, dass die Menschheit nur einen Kopf hätte, damit er ihn mit einem einzigen Streich abschlagen könnte: hier hat ein ganzes Land sein Haupt, das abzuschlagen seinen Todfeind gelüsten dürfte. Acht Millionen sind hier zusammengedrängt, und nimmt man die anschliessenden Randsiedlungen, so sind es etwa elf Millionen oder fast ein Viertel der Einwohner der britischen Inseln.

Daneben gibt es noch eine ganze Reihe menschenüberfüllter Industrie- und Hafenstädte. Und in einem Küstenkreis, der von Narvik am Ofotfjord sich bis zur Biscaya erstreckt, zum Teil in einer Nähe, die nicht nach Flugstunden, sondern nach Flugminuten zu bemessen ist, hat die deutsche Luftmacht eine grosse Zahl ausgezeichneter Stützpunkte. Ist es da verwunderlich, dass der genannte grösste Feldherr aller Zeiten bei einem Blick auf die Landkarte wähnte, dieses Eiland da drüben sei eine sichere Beute seiner, der britischen an Zahl weit überlegenen, Luftwaffe? So sicher, dass er in seinem berühmten Kriegskalender schob den 15. August als einen Tag eintrug, an dem er vom Buckinghampalast aus der zitternden Welt den Frieden diktieren werde.

Die deutschen Kampf- und Bombengeschwader, deren Möglichkeit, zugleich die stärkste Flotte der Welt zu bedrohen, man anfangs so weit überschätzt hat, brauchte – so dachte man in Berlin – nur loszubrechen, um die Royal Air Force niederzukämpfen und die Panik von London über das ganze Land zu verbreiten. Dann wäre die Landung der überallher zusammengebrachten deutschen Moskito-Flotte und von Zehntausenden von Fallschirmjägern zwar kostspieliger, aber sicherer Erfolg. Das Schlagwort, der Luftkrieg habe die Vorteile der insularen Lage Grossbritanniens aufgehoben, hat in einem gewissen Masse seine Berechtigung. Aber – seltsam genug – der kleine, von Wettertücken erfüllte Wasserstreifen des Kanals erweist sich noch immer als eine furchtbare Schranke, solange die für Deutschland auch im letzten Weltkrieg verhängnisvoll gewordene Beherrschung der Meere durch die englische Flotte nicht aufgehoben werden kann.

Das ist der eine Faktor, der alle Berechnungen zuschanden werden liess. Der zweite und noch entscheidendere war die tatsächliche Überlegenheit der englischen Luftwaffe in personeller und maschineller Hinsicht, die über die brutale Zahl die Oberhand gewann. Die durch die Dressur der Hitlerjugend hindurchgegangenen Piloten besitzen weder den Mut, noch die Geschicklichkeit der deutschen Lufthelden des Weltkrieges. Seit Beginn des Krieges sind allein von den Engländern 3644 deutsche Flugzeuge bestimmt vernichtet worden, während man die Gesamtverluste nach vorsichtigen Schätzungen auf etwa 6500 deutsche Maschinen beziffert. Das ergäbe einen Gesamtverlust von 13.500 Mann Flugpersonal. Die Engländer verloren nur 1417 Maschinen, 316 Piloten konnten sich durch rechtzeitigen Fallschirmabsprung aus abgeschossenen Maschinen retten.

Diese Ziffern, die den Zeitraum bis Ende September umfassen, zeigen, dass von einer Niederringung der englischen Luftwaffe, ohne die nun mal eine Invasion unmöglich ist, nicht die Rede sein kann. Eine schnelle militärische Entscheidung könnte nur durch Tagesangriffe erzwungen werden. Diese hat zunächst Goering mit ungeheurer Hartnäckigkeit versucht. Er hat sie teuer bezahlt.In drei Hauptangriffen sind folgende deutsche Flugzeuge, meist Bomber, auf der Strecke geblieben: am 15. August 180, am 15. September 187 und am 27. September 133. Unter diesen Umständen hören die Londoner bei Tage kaum auf die Warnung hin. Wenn vereinzelt deutsche Bomber die Sperre durchbrechen, stellen sie sich trotz der grossen Splittergefahr scharenweise auf die Strasse, um dem Kampf in den Lüften zuzusehen.

So sind die Massenangriffe am hellen Tag eingeschränkt worden, da selbst die stärkste Luftflotte so gewaltige Aderlässe auf die Dauer nicht ertragen könnte. Gerade diese Tageskämpfe haben den Augenblick beträchtlich näher gebracht, in dem auch ein numerisches Gleichgewicht hergestellt sein wird. Nur zögernd, dann aber um so nachträglicher, entschloss sich Goering, zu Nachtangriffen auf London überzugehen, wie sie die britische Luftwaffe in Deutschland schon seit Monaten gegen kriegswichtige Anlagen unternimmt. Auf Berlin fielen britische Bomben aber erst, nachdem die nächtlichen Bombardements auf London schon eine Weile furchtbare Menschenopfer gefordert hatten. In der ersten Septemberhälfte hatten, wie Churchill im Unterhaus mitteilte, die Bürger allein 10.000 Tote und Verwundete, d.h. 40 mal soviel wie die Soldaten aller Waffengattungen, von denen es 250 Opfer gab.

Es ist zweifellos, dass diese Nachtfahrten der deutschen Luftwaffe für die Londoner Millionenbevölkerung eine schwere Heimsuchung bedeuten. Selbst wenn die nicht erkennbare Absicht bestehen sollte, dabei militärische Objekte zu treffen, so haben die deutschen Piloten noch lange keine Erfahrung in Nachtflügen.Dazu kommt, dass sie infolge der Absperrung durch die immer höher steigenden Ballons und durch die mit immer komplizierterer Technik arbeitenden vielfältigen Abwehrgeschütze so hoch fliegen müssen, dass von einer Zielsicherheit kaum die Rede sein kann. Aber die Tatsache, dass immer wieder reine Wohnviertel mit Bomben belegt werden, dass so viele Kirchen und die Mehrzahl der Londoner Krankenhäuser, die sich doch nicht in der Nähe von Pulvermagazinen zu befinden pflegen, getroffen und mehrere wiederholt getroffen worden sind, beweist, dass die von „modernen“ deutschen Kriegspropheten a la Banse gepredigte, in Polen, Norwegen, Holland, Belgien und Frankreich genügend betätigte Terrorabsicht wohl die Hauptrolle dabei spielt.

Dass z.B. – und selbst bei Tage – der Buckinghampalast, die Residenz des britischen Königspaares, mit einer ganzen Anzahl von Bomben und Zeitbomben belegt worden ist, bestätigt, dass gekrönte Häupter in Berlin als militärische Objekte angesehen werden. So wurde auch König Haakon von einem Zufluchtsort zum anderen von Tauchfliegern verfolgt und mit einem Maschinengewehrhagel überschüttet. So jagten Nazi-Luftkrieger hinter der holländischen Königin Wilhelmine her. Wenn es aber ein Volk gibt, dass dem Terror doppelten Trotz und doppelten Widerstand entgegensetzt, so sind es die Briten. Wenn es eine hauptstädtische Bevölkerung gibt, die sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen lässt und die durch Selbsthilfe dem Schrecken zu begegnen weiss, so sind es die Londoner.

Ihre Not ist besonders darum empfindlich, weil sie meist in kleinen und wegen des milden und gleichmässigen Klimas leichtgebauten Häusern wohnen, die oft überhaupt keinen Keller haben. Zwar gibt es viele bombensichere Unterstände, vor allem die weitverzweigte Untergrundbahn,, aber zahlreiche der vorhandenen Luftschutzanlagen sichern lediglich gegen Splitter- und Einsturzgefahr. Man hatte sich auf manches gefasst gemacht, nur nicht auf eine so systematische Drangsalierung der Zivilbevölkerung. Aber die Absicht, sie einzuschüchtern, geht vollkommen fehl. Die Bomben säen nicht Verzweiflung, sondern entschlossenen Abwehrwillen, wirksamen Selbstschutz und nicht zuletzt einen bisher nie gekannten Hass gegen so viel bösen Willen.

Wieder einmal bewährt sich die schnelle Anpassungsfähigkeit und Empfindungsgabe eines Volkes, das gewohnt ist, selbst einzugreifen und nicht alles von der Obrigkeit zu erwarten, eines Volkes, das sich selbst regiert und darum auch Selbstbeherrschung zu üben gewohnt ist. Es verabscheut so sehr jeden kasernenmässigen Zwang, dass es sogar eine gefährliche Unbequemlichkeit vorzieht. Wieder, wie so oft, wird improvisiert, mit ungewöhnlicher Schnelligkeit und Erfindungsgabe das Notwendigste getan und Versäumtes nachgeholt. Nur ein Volk, das den Polizeigeist verachtet, sieht mit solcher Selbstverständlichkeit nach dem Rechten, zeigt in der Bedrängnis soviel Ruhe, Geduld und Disziplin. Soweit dies möglich ist, werden die angerichteten Schäden schnellstens beseitigt.

Für die Obdachlosen aus den Vorortbezirken werden selbst in den vornehmsten Vierteln Wohnungen zur Verfügung gestellt. „Business as usual“ ist die Parole, und das Leben der Weltstadt geht seinen Gang. Der Terror erreicht das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt. Der Wille, das barbarische System zu vernichten, das für diesen Krieg verantwortlich ist und mit so gemeinen Mitteln kämpft, der Mut und die Widerstandskraft werden mit jedem Tag neu gestählt. Und jeder ist voller Siegeszuversicht infolge der ungeheuren Leistungen der Royal Air Force, die jede Nacht ihre Flüge über Deutschland fortsetzt, und zwar nicht in der Absicht, die Zivilbevölkerung einzuschüchtern, Krankenhäuser und Kirchen niederzulegen, sondern grosse Kriegsunternehmen wie die Kruppwerke, die Badischen Anilinwerke, die Leunawerke, die Bayrischen Motorenwerke, die grossen Flugzeugfabriken in Dessau, Bremen usw. in ihrer Produktionskraft zu lähmen, wichtige Häfen, Bahnanlagen und Kanäle zu zerstören oder zu hemmen.

Dazu werden die gegenüberliegenen Häfen, von denen aus das Inselreich überfallen werden soll, wirksam mit bomben belegt. Diese Taten sind wohl dazu angetan, das englische Volk – und mit ihm alle freiheitsliebenden Menschen, gleichgültig welcher Nationalität – mit unbeugsamem Widerstandswillen und mit einer Zuversicht zu erfüllen, die sich durch noch so grosse Gefahren und Schrecken des Augenblicks nicht niederbeugen lässt!

Fichte schrieb zu diesem Artikel den Schlusssatz: „Dieses stete Streben nach Vergrösserung von innen und aussen ist ein grosses Unglück für die Völker.“

Und: Die „Luftschlacht um England“ war bereits verloren, als sie begann.

Von Rolf von Ameln

 

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Von am 04/01/2016. Abgelegt unter Spiegel der Zeit. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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