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„Das Wahre Deutschland“: Britische Gegenpropaganda und Analysen vom Oktober 1940

Wie war es damals?: Zu einer Zeit, in der die deutschen Armeen noch die schwersten Hindernisse zu bewältigen hatten, prophezeite Hitler, er werde am 15. Juni in Paris einziehen. Noch einen Tag früher war Paris von deutschen Truppen besetzt. Und als zehn Tage lang alle deutschen Glocken läuteten und die Hakenkreuzfahnen über allen deutschen Dächern knatterten; da mussten selbst die nüchternsten deutschen Gehirne schwindelig werden. Lange genug hatte sich die Vernunft jener, die ein gutes Gedächtnis haben und noch die Schrecken des Ersten Weltkriegs in ihren Knochen spürten, dagegen gewehrt, an Wunder zu glauben. Durfte Deutschland, das sich nur mit soviel Mühe, Geduld und Fleiß von der furchtbaren Niederlage erholen konnte, noch einmal die Welt herausfordern?

Das Wahre Deutschland. Foto: Archiv RvAmeln

Das Wahre Deutschland. Foto: Archiv RvAmeln

Man beschwichtigte die Zweifler. Seid ruhig, flüsterte man ihnen zu, Hitler will unter keinen Umständen den Krieg, sein genialer Plan ist, alle Forderungen nur durch die Drohung mit Gewalt durchzusetzen, denn er weiß, dass die anderen sich beugen werden, weil sie den Frieden um jeden Preis aufrecht erhalten wollen. Sieg ohne Krieg, das war eine Formel, die selbst vorsichtigeren Gemütern einleuchtete. Zwar warnten die berufensten militärischen Ratgeber, wie General von Fritsch, auch vor solch einem Spiel mit dem Pulverfass. Aber sie behielten unrecht. Die Rechnung Hitlers stimmte, obwohl die deutsche Macht damals für die große Probe noch völlig unzulänglich war.

Im Handumdrehen einigte man sich mit dem Völkerbund, mit Frankreich und England – die die größte Bereitwilligkeit zeigten – über die Heimkehr der Saar. Auch mit der Remilitarisierung der Rheinlande fand sich die Londoner Konferenz nach einigem Widerstreben ab. Dann marschierten die deutschen Truppen in Österreich ein. Als der Bundeskanzler Dollfuss durch die von Himmler in Wien heimlich gebildete SS-Standarte ermordet worden war, ließ Mussolini seine motorisierten Divisionen noch am Brenner aufmarschieren. Jetzt aber erhob sich kein bewaffneter Arm, denn nach allen Seiten wurden beruhigende Erklärungen abgegeben; Göring beteuerte feierlich, Deutschland werde die Souveränität und Integrität der tschechoslowakischen Republik gewissenhaft achten.

Nicht lange darauf erhob Hitler die Forderung nach der Einverleibung des Sudetenlandes. Auch sie wurde durch die Abmachung von München erreicht, in der Deutschland sich verpflichtete, die neuen Grenzen der Tschechoslowakei zu garantieren. Als auch diese Abmachungen nicht eingehalten wurden, als der tschechische Schattenpräsident Hacha in die völlige Unterjochung des „Protektorats“ einwilligen musste, auch dann blieben die Schwerter Englands und Frankreichs in ihrer Scheide. Hätte sich Hitler mit diesen ungeheuren, ja völlig unwahrscheinlichen Erfolgen begnügt; dann hätte er – wenigstens in den augen derer, die rein machtpoltisch denken – für Deutschland wahrhaftig Größeres vollbracht als Bismarck. Und er hatte es erreicht, ohne das deutsche Schicksal aufs Spiel zu setzen, ohne auch nur das Leben eines einzigen deutschen Soldaten zu opfern.

Als aber Hitler dennoch das Letzte und Äußerste wagte, als er, den Warnungen der Westmächte zum Trotz, Polen, mit dem ihn noch ein zehnjähriger Freundschafts- und Nichtangriffspakt verband, überfiel, da stockte manches deutsche Herz. Und abermals gelang alles wie im Zaubermärchen. Hitler hat sich einmal mit einem Somnambulen verglichen; gern spricht er von der „nachtwandlerischen Sicherheit“, mit der er siene Pläne ausführt. Wie ein großer Magier errechnete er seine Siege und trug sie im voraus in seinen Kalender ein. In wenigen Wochen lag Polen im Staub. Es folgten Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und schließlich – das Unwahrscheinlichste von allem – die völlige Kapitulation Frankreichs. Konnte man es den Deutschen und selbst den vielen Gegnern der Nazi- und Gestapoherrschaft verargen, wenn sie in ihrem Führer nahezu ein überirdisches Wesen sahen?

Warum sollte ihm nicht gelingen, was selbst Napoleon misslang? Warum sollte er nicht gleich dem großen Julius Cäsar und gleich Wilhelm dem Eroberer – die allerdings noch nicht mit der stärksten Flotte der Welt und nicht mit der Royal Air Force zu rechnen hatten – warum also sollte Hitler nicht selbst auf den britischen Inseln landen? Auch außerhalb Deutschlands glaubten viele, er werde auch seine letzte Drohung wahrmachen und in wenigen Wochen Großbritannien überrennen, nachdem Görings Luftwaffe ihm den Weg freigemacht hat. Auch Mussolini glaubte fest daran, sonst hätte er seinen Hyänenfeldzug hinter dem siegreiche deutschen Eroberer nicht erst begonnen.

Die Invasion kommt im August, sie kommt im September – jedenfalls aber ist am 1. Oktober 1940 der Krieg für das deutsche volk vorüber. Das also waren die psychologischen Etappen, über die man die Deutschen in blutige Schlachten getrieben hat. Erst Sieg ohne Krieg, dann Blitzkrieg, der nur wenige Wochen dauert, und zum Schluss die Zusicherung: es wird keinen zweiten Kriegswinter geben. Jetzt aber? Es war nichts damit, dass Hitler am 15. August in den Buckinghampalast einzog, die Millionen deutscher Soldaten werden nicht schon im Spätherbst demobilisiert sein, in Berlin und Rom erklärt man jetzt auf einmal, es wird noch einen langen Krieg geben. Da erwacht in Deutschland die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg mit neuer Kraft.

Versprach damals nicht auch der Vorgänger Hitlers seinen Soldaten, dass sie Weihnachten 1914 wieder bei ihrer Familie sein werden? Läuteten nicht auch damals unaufhörlich die Glocken, gingen nicht immerzu die Fahnen hoch? Stürmten nicht die deutschen Soldaten von Sieg zu Sieg, zogen sie nicht schon in den ersten Augusttagen in Luxemburg und in Belgien ein, folgte nicht ein Schlag dem anderen? Handstreich auf Lüttich, die Belgier auf Antwerpen zurückgeworfen, Einnahme von Brüssel, Sieg über die Engländer bei Mons, Namur genommen, die Franzosen bei Charleroi und St. Quentin geschlagen usw. usw. Schwärmten nicht schon die deutschen Vorposten schon in der Umgebung von Paris?

Wurde nicht vom 25. bis 28. August die Schlacht bei Tannenberg geschlagen? Trieben nicht Hindenburg und Ludendorff – auch sie hat man damals die größten Feldherrn aller Zeiten genannt – die russischen Riesenheere durch Wälder und Sümpfe vor sich her? Zogen nicht Hunderttausende von Kriegsgefangenen aus Westen und Osten nach Deutschland? Und als an der Marne der entscheidende Schlag gegen Deutschland gefallen war, erfuhr das deutsche Volk drei Jahre lang nichts davon und hörte die Wahrheit erst nach dem Friedensschluss. Statt dessen erfuhr es nur immer von neuen überwältigenden Siegen. bis zum Kriegsende standen die deutschen Truppen in Belgien, tief in Frankreich, in Norditalien, in Serbien, Rumänien, am Narotsch See, am Peipus See, an der Düna, in der Ukraine, in Galizien, Mazedonien, in der Dobrudscha, in Kurland, Livland, Estland, am Suez Kanal, in den Dardanellen, im Irak, in Persien, und Gott weiß wo noch.

Auch damals waren die deutschen Flieger und U-Boote in Seebrügge und bei Ostende. Selbst der Zusammenbruch Frankreichs hat im Zusammenbruch der gewaltigen russischen Militärmacht im Jahre 1917, der Deutschland freie Hand im Westen gab, eine Parallele. Und was war das Ende? Das wird heute die Frage sein, die sich zwar noch nicht die milchbärtigen Soldaten stellen, die in der Hitlerjugend erzogen worden sind und Weltanschauung mit Löffeln gegessen haben, wohl aber Millionen Deutscher in der Heimat, Millionen reifer Soldaten, die in den unterjochten Ländern deutlich schon ein gefährliches Grollen hören und sich danach sehnen, ihre Familien wiederzusehen, denen sie schon so lange entrissen sind. Wieder, wie damals, will man das deutsche Volk darüber hinwegtäuschen, dass der entscheidende Wendepunkt, wenn auch noch lange nicht das bittere Ende gekommen ist.

Wieder umnebelt man seinen Geist mit phantastischen Bündnissen, mit orientalischen Märchen, die in Afrika und Asien aufblühen sollen. Es ist heute lehrreich, wie man im Weltkrieg dem deutschen Volk, das auch heute wieder nichts von den furchtbaren Niederlagen der deutschen Luftwaffe an den britischen Küsten erfährt, die Marneschlacht dargestellt hat. Damals meldete die Oberste Heeresleitung die furchtbare Schlappe in folgenden Worten:

„Auf dem westlichen Kriegsschauplatz haben die Operationen, über die Einzelheiten noch nicht veröffentlicht werden können, zu einer neuen Schlacht geführt, die günstig steht. Die vom Feinde mit allen Mitteln verbreiteten, für uns ungünstigen Nachrichten sind falsch“. Kurz vorher hatten die Deutschen von der Obersten Heeresleitung erfahren, dass die Armee von Kluck „bis Paris streife“ und „der Feind sich im Rückzuge auf und hinter die Marne“ befinde. Ebenso wurde das deutsche Volk über die zweite entscheidende Tatsache, über das Eingreifen der Vereinigten Staaten, getäuscht. Und was war das Ende?: Kapitulation Deutschlands.

Man wird auch jetzt noch manche bengalische Flammen vor den Augen des deutschen Volkes aufleuchten lassen. Man wird Erfolge, die in einem langen Kriege bald der einen, bald der anderen Partei zugute kommen, mit der sicherlich nicht zu unterschätzenden Propagandakunst der Nazis theatralisch übertreiben. Aber wird ein vernünftiger Deutscher, den der Erste Weltkrieg glehrt hat, dass es nicht auf das Endergebnis ankommt, sich auch diesmal wieder täuschen lassen? Wird man wiederum in der Heimat so lange blind bleiben, wie damals, als Deutschland schon an Menschen und Material vollkommen ausgesogen war und die Oberste Heeresleitung noch immer vom sicheren Endsieg sprach? Jeder erinnert sich noch des furchtbaren Nervenschocks, den das ganze Land und der deutsche Reichstag erfuhren, als vom einen Tag zum anderen die Oberste Heeresleitung die Eröffnung und den schnellsten Abschluss von Waffenstillstands-Verhandlungen forderte. Damals sprach der Führer der Konservativen, Ernst von Heydebrand und der Lasa, der so mächtig war, dass man ihn den ungekrönten König von Preussen nannte, der also am ehesten die Wahrheit hätte erfahren können, die berühmt gewordenen, vernichtenden Worte: „Wir sind belogen und betrogen worden.“

Ein solches Erlebnis kann ein Volk nicht so leicht vergessen. Soll es noch einmal geschehen, dass alle bis zum letzten Augenblick im Dunkeln tappen? Sie ließen sich, weil alles wie ein Wunder kam, auch ein zweites Mal zu frühem Frohlocken verleiten. Jeder deutsche Philister fühlte sich schon als Herr der Erde und verteilte am Stammtisch alle ihre Herrlichkeiten, von denen für die anderen nicht mehr viel übrig blieb. Der Führer war ja nicht nur der genialste Staatsmann und Feldherr, er war ja, wie Göring am 19. Juli im Reichstag rühmte, auch der Prophet, dessen Voraussagen bis in die letzte Einzelheiten bestätigt wurde.

Aber das wichtigste, die für das deutsche Volk entscheidende Prophezeiung, dass der Krieg am 1. Oktober zu Ende sein wird, ist nicht eingetroffen. Nun hat jeder schon die dunkle Ahnung, was für das schon jetzt bis zur letzten Faser angespannte Deutschland ein langer Kireg bedeutet. Von Italien gar nicht zu sprechen, das schon keuchend in den Krieg zog, der, wie Mussolini den Naziführern glaubte, nur noch wenige Wochen dauern konnte. Wenn es auch manche Paradeszenen noch geben wird; alle psychologischen Voraussetzungen sprechen dafür, dass die Zuversicht des deutschen Volkes schon jetzt den Todesstoß´erhalten hat. Je fester der Glauben an einen falschen Propheten ist, umso schwerer wird das Vertrauen erschüttert, wenn er nach so viel Erfüllungen sich und die anderen im entscheidenden Augenblick täuscht. Von Tag zu Tag wird die Zahl der Gläubigen geringer werden, und zum Schluss wird es nur noch wenige geben, die die Binde bis zum letzten Augenblick vor den Augen tragen.

Und dann wird es heßen: Armes Deutschland, Dein Prophet war ein Jahrhundertverbrecher.

Von Rolf von Ameln

 

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Von am 13/12/2015. Abgelegt unter Spiegel der Zeit. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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