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Als Israel noch in den Kinderschuhen steckte: Staatswirtschaft, Finanzen und Lebensstandard in den 1960er Jahren

Histadruth, der „Staat im Staate“: Wenn man mit einem kundigen Begleiter durch die Landschaft Israels fährt, wird nur zu oft beim Anblick eines bedeutenden Industrieunternehmens, einer großen landwirtschaftlichen Siedlung, eines größeren Lager- und Geschäftshauses oder sogar eines Theaters oder Hospitals darauf aufmerksam gemacht, dass diese Neuschöpfung Eigenum der Histadruth, der allmächtigen Gewerkschaftsbewegung sei. Die „Haistadruth Haklalit Shel Ha´ovdim Be´eretz Israel“, wie der ein wenig komplizierte und für Ausländer kaum aussprechbarer Name in Iwrith ungekürzt heißt, wurde im Jahre 1920 gegründet. Sie zählt momentan mehr als 400.000 eingeschriebene Mitglieder, die zusammmen mit ihren Familienangehörigen rund die Hälfte der Gesamtbevölkerung Israels und 70 Prozent aller Arbeiter und Arbeiterinnen umfassen. Die Histadruth ist also nicht nur die mächtigste Gewerkschaftsbewegung im Lande, sondern zur gleichen Zeit durch ihre finanziellen Investitionen, die sie durch die „Hevrat Ha´ovdim“, die „Genossenschaftliche Generalvereinigung“ kontrollieren lässt, die größte Arbeitgeberin. Sie finanziert riesige Bauvorhaben über ihre eigenen Baugenossenschaften; sie beherrscht praktisch die Exportorganisation für die Citrusfrüchte; sie unterhält im ganzen Land eigene Fabriken und Handelshäuser. Mit 700 Zweigbetrieben verfolgt sie neben wirtschaftlichen auch kulturelle, geistige und weltanschauliche Ziele. Sie unterhält Kliniken, Zahnstationen, Sanatorien, Berufsschulen und Sportanlagen, Kindergärten und Apotheken, sie gewährt Darlehen und macht Versicherungen, sie finanziert Monatsschriften und Tageszeitungen. Jeder Arbeiter hat von seinem Lohn den nicht gerade bescheidenen Tribut von 3-45 v.H. an die Histadruth abzuführen. Man kann sich leicht vorstellen, welche Unsummen auf diese Weise zusammenfließen und welch wirtschaftliches Machtgebilde dadurch entsteht. Wie allerdings die Histadruth als Großunternehmerin noch in der Lage ist, die gewerkschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder zu verfolgen, sei dahingestellt. Für das Jahr 1959 lehnte sie beispielsweise eine allgemeine Lohnerhöhung ab, obgleich die Lebenskosten stark anstiegen. Durch ihre wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Betätigung ist die Histadruth zu einem eigentlichen Staat im Staate geworden. Nur die Tatsache, dass die herrschenden Kreise der Mapai und die Spitzen der Regierung mit der Histadruth aufs engste verbunden sind, verhindert einen Interessenkonflikt. Ein Kabinett ohne die Mapai würde wegen der dadurch entstehenden Opposition der Histadruth vor hoffnungslosen Schwierigkeiten stehen. Neben der Histadruth spielen die anderen gewerkschaftlichen Organisationen nur eine untergeordnete Rolle. Die Mizrahi zählt 60.000, die Agudat Israel 25.000 und die Ha´ovdim Haleumit 58.000 Mitglieder. Alle vier Gewerkschaften unterhalten auch landwirtschaftliche Siedlungen.

israel Histadruth. Foto: Archiv

israel Histadruth. Foto: Archiv

Die „Entwicklungsgesellschaften“: Die Histadruth ist allerdings nicht die einzige Großorganisation, die in Israel das Wirtschaftsleben beeinflusst. Neben ihr spielt auch die staatliche Hand eine bedeutende Rolle. Durch die Gründung der „Entwicklungsgesellschaften“ hat die Regierung direkten Einfluss auf die Produktion genommen. Angesichts der sozialistischen Zivil- und Steuergesetzgebung kann sich die Privatinitiative nicht überall entwickeln. Außerdem stehen gewisse Produktionsgebiete stark im öffentlichen Interesse. Die wichtigste staatliche Unternehmung dieser Art ist die Elektrizitätsgeesellschaft, deren Alangen im Jahre 1957 mit 258 Millionen Israelischer Pfund bewertet wurden. Die Stromerzeugung in Israel hat in den ersten zehn Jahren eine starke Ausweitung erfahren. Der gesamte Stromverbrauch stieg von 329.205 kWh im Jahre 1949 auf 1.112.858 kWh. Allein der industrielle Verbrauch erhöhte sich im selben Zeitraum von 96.897 auf 387.381 kWh. Aus der Stromerzeugung erzielt der Staat bedeutende Nebeneinnahmen. Auch einige Bergwerkgesellschaften, die Phosphate, Pottasche und Kupfer fördern, sind staatlich. Von Bedeutung ist ferner die Kunstdüngerfabrik Fertilizers & Chemicals in Haifa mit einem Investierungskapital von 250 Millionen Israelischer Pfund. Um dieses Unternehmen entspann sich 1958 eine lebhafte politische Auseinandersetzung, weil die Regierung beabsichtigte, die Fabrik an eine private Finanzgruppe kanadischer Juden zu verkaufen. Wenn sich eine sozialistische Regierung zur „Entstaatlicheung“ entschließt, müssen ungewöhnliche Verhältnisse vorliegen. Der israelische Staat schont bewusst die ausländischen Kapitalisten, die er nicht nur kräftig besteuert, sondern durch seine eigenen Unternehmungen auch rücksichtslos konkurrenziert.

Das Loch im Staatssäckel: Israel benötigt dringend Devisen. Im Jahre 1957 betrugen die Importe 725,76, die Exporte aber nur 251,28 Millionen Israelscher Pfund. Zwar hat sich der prozentuale Anteil der Warenausfuhr von 11,7 auf 34,6 erhöht. Aber in absoluten Zahlen ist das Defizit in der Warenbilanz mit 475 Millionen Israelischen Pfund um 72 Millionen Israelischen Pfund höher als 1949. In den zehn Jahren seit der Staatsgründung erreichte das Defizit in der Warenbilanz rund 4,5 Millionen Israleischer Pfund. Die Dienstleistungsbilanz vermag keinen Ausgleich zu schaffen. Wohl haben sich die Einkünfte des Staates aus dem Touristenverkehr vom Januar bis Juli 1958 gegenüber demselben Zeitraum des Vorjahres um 14,4 Millionen Israelischer Pfund verdoppelt. Aber die Schifffahrt bringt wenig Devisen und die bescheidenen Investierungen in einigen afrikanischen Entwicklungsländern fallen vorläufig noch kaum ins Gewicht. Wie wird das Defizit in der Devisenbilanz gedeckt? Israel besitzt heute noch zwei Hauptquellen, aus welchen die Summen fließen, die ihm zu einer ausgeglichenen Zahlungsbilanz verhelfen. Beide Quellen sind außergewöhnlich. Es sind die freiwilligen Spenden des Auslandes an den Keren Hayesod und die deutschen Wiedergutmachungsleistungen. Israel ist das einzige Land der Erde, das den Hauptteil seiner Staatseinnahmen gewissermaßen durch ausländische Steuerzahler deckt. Über 200 Millionen Israelischer Pfund hat das Weltjudentum 1957 in freiwilligen Sammlungen gespendet. Auch die amerikanische Regierung hat 24 Millionen US-Dollar, a fonds perdu geleistet. Es scheint fast, als sei eine gewisse latente Spannung im Nahen Osten für das relativ kleine Israel nicht das schlechteste Geschäft, befruchtet sie doch in ganz erheblichem Umfang den Goldstrom, der schon seit Jahren von New York nach Tel Aviv fließt. Im Jahre 1952 schloss die Bundesrepublik Deutschland mit Israel ein Reparationsabkommen, worin sie sich verpflichtete, Investitionsgüter im Wert von einer Milliarde US-Dollar zu liefern. Dazu kommen noch die privaten Wiedergutmachungsleistungen. Durch Spenden und Reparationsleistungen werden im Jahr rund 350 US-Dollar an Devisen gewonnen. Dadurch kann das Defizit in der Kapitalbilanz zurzeit gedeckt werden. Unübersichtlich bleibt jedoch die Finanzierung des Sinai-Krieges und die Aufrüstung, die vermutlich größerenteils über den Weg ausländischer Kredite erfolgte.

Lebensstandard und Volkseinkommen: Die ungewöhnlichen Geldquellen werden nicht bis in alle Ewigkeit fließen. Bis Ende 1958 hatte die westdeutsche Regierung 47 v.H. der im Luxemburger Vertrag vereinbarten Summen bezahlt. Bis 1965 sind die deutschen Reparationen getilgt. Auch die privaten Wiedergutmachungsleistungen dürften bis dahin zu Ende gehen. Die wohltätigen Spenden des Weltjudentums stellen selbstverständlich auf die Dauer ebenfalls keine sichere Einnahmequelle dar. Spätestens in einem Jahrzehnt muss das Loch in der Devisenbilanz durch die dreifache Ausfuhr gestopft sein. Aber ein Land, das von seiner Umwelt wirtschaftlich boykottiert wird und jährlich Zehntausende von mittellosen Flüchtlingen aufnimmt, hat auch in einigen Jahren wenig Chancen, sich selber zu erhalten. Wohl gelingt es heute, zwei Drittel des Nahrungsbedarfs der Bevölkerung aus eigenem Boden zu decken. Aber auf die Dauer wird Israel die einwandernden Massen nur durch die industrielle Erzeugung ernähren können. Seine Industrie ist aber derzeit noch nicht in der Lage, den qualitativ hohen Ansprüchen westeuropäischer Konsumenten zu genügen, während die Belieferung der nahöstlichen Länder, wo zumindest ein Frachtvorteil erzielt werden könnte, auf absehbare Zeit ausfällt. Dazu kommt noch folgendes: Wenn auch der Lebensstandard in Israel heute noch viel tiefer ist als in den Wohlfahrtsländern Westeuropas, so sind die Ansprüche der Bevölkerung in den letzten Jahren doch sehr gestiegen. „Israel lebt über seine Verhältnisse“, ist der Kassandraruf zahlreicher verantwortungsbewusster Volkswirtschaftler und Regierungsvertreter. Von 1950 bis 1956 verdoppelte sich das Volkseinkommen auf 2 Milliarden Israelischer Pfund, aber im selben Zeitraum stieg die Bevölkerungsziffer von 1,37 auf 1,87 Millionen, und die Geldentwertung betrug etwa 30 v.H. Der private Konsum stieg in den letzten zwei Jahren um 32 v.H. bei einer Bevölkerungszunahme von nur 12 v.H. Vor allem aber vermehrte sich der Verbrauch an Konsumgüter stärker als der Notenumlauf und die Produktion. Staatsbankpräsident Horowitz stellte fest, dass vom Juli 1957 bis Mai 1958 der Notenumlauf um 15,5 v.H. angestiegen sei. Die persönlichen Entschädigungsgelder würden die Kaufkraft bedeutend steigern. In den Händen der Konsumenten sammle sich mehr Geld, als die Produktion absorbieren könne. Daraufhin entgegnete die Opposition, dass die Regierung selbst durch ihre Defizitwirtschaft die Inflation fördere. Die Regierung Ben Gurion hat als sozialistisches Regime die Massen gewonnen, indem sie ihnen gewisse soziale Verprechungen machte, für deren Erfüllung sie heute verantwortlich ist. Nachdem der erste Schwung des Idealismus verflogen ist, nachdem Hunderttausende von Flüchtlingen ins Land kamen, die kaum viel von zionistischen Idealen wissen wollten, ist eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Die Massen fordern Bequemlichkeit, bessere Nahrung, gute Kleidung, Vergnügen. Die Arbeitslosen verlangen Stempelgeld, die Beschäftigten höhere Löhne.

Vorläufig lebt Israel noch von „seinen“ Steuerzahlern im Ausland und solange dieser paradoxe Zustand anhält, weigern sich die Massen, den Gürtel enger zu schnallen.

 

Von Rolf von Ameln

 

 

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Von am 27/11/2015. Abgelegt unter Spiegel der Zeit. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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