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Ein Stück Zeitgeschichte im „Aufbau“ vom 5. Juni 1942: Heimkehrer aus Europa erzählen

Parlament der europäischen Juden in Amerika gebildet

Das Blatt titelt weiter: Ausgebürgerte nicht mehr „enemy aliens“ für die „Citizens Defense Corps“.

Wie Frau Leopold K. Simon von der Second Civilian Defense Region des Office of Civilien Defense in New York in einer Unterredung mit dem J.M.-Vertreter des „Aufbau“ erklärte, sind staatenlose deutsche Juden in derselben Weise zur Teilnahme an den „Citizens Defense Corps“ berechtigt wie die Staatsangehörigen neutraler Länder. Sie stützte sich dabei auf eine kürzliche Mitteilung Harold W. Newman, Jr., Acting Chief, Legal Division, Office of Civilian Defense, Washington D.C., in der es wörtlich heisst: „Sofern es sich um Personen handelt, die ausgebürgert wurden und keine deutschen Staatsbürger mehr sind, so werden sie, hinsichtlich der Zwecke des United States Citizens Defense Corps, als <alians not of enemy nationality> betrachtet.“

Diese grundsätzliche Gleichstellung der Staatenlosen mit Bürgern neutraler Länder, bemerkte Frau Simon weiter, schliesst natürlich nicht aus, dass in einzelnen Fällen individuelle staatenlose Antragsteller in derselben Weise als nicht zulassungsfähig befunden werden können wie „neutral aliens“. Dieser Erklärung kommt umso grössere allgemeine Bedeutung zu als hier in einer amtlichen Verlautbarung einer Washingtoner Behörde eine prinzipielle unterschiedliche Behandlung zwischen Staatenlosen und sogenannten „feindlichen Ausländern“ bestätigt worden ist. Zur Zeit lässt sich jedoch noch nicht absehen, inwiefern diese Regelung auf die zu erwartende Reklassifizierung der „aliens of enemy nationalities“ von Einfluss sein wird.

Ausgabe des "Aufbau", erschienen in New York, am Freitag, 5. Juni 1942. Foto: Archiv/RvAmeln

Ausgabe des „Aufbau“, erschienen in New York, am Freitag, 5. Juni 1942. Foto: Archiv/RvAmeln

Der „Aufbau“ schreibt auf seiner Titelseite: Strafe und Sühne für alle an Juden begangenen Taten.

Ein für alle aus Europa stammenden Juden wichtiges Projekt ist durch die Schaffung des „Advisory Councils on European Jewish Affairs“ (Beirat für europäisch-jüdische Angelegenheiten) beim World Jewish Congrss Tatsache geworden. Die Juden in Amerika haben alle Freiheiten der Demokratie und deren Rechte und Pflichten. Sie haben ihre eigenen Repräsentanten für ihre verschiedenen Sonderinteressen. Aber die Juden in Europa sind bis auf wenige Länder geknebelt und stumm. Verbrechen um Verbrechen wird an ihnen begangen. Hunger, Mord und Plünderung hetzen sie von Land zu Land. Wer spricht für sie, wer nimmt ihre Rechte wahr? Der neugegründete Beirat, der der grossen jüdischen Weltorganisation des Congress beigegeben wurde, wird eine Art Stellvertretung der gefesselten und gedemütigten, hilflosen und aktionsunfähigen Judenheit Europas sein. Dadurch gelangen die Juden in die politische Gemeinschaft der unterdrückten Völker, die in England und Amerika ihre Vertretungen haben. Man erinnere sich an die Neun-Mächte-Konferenz, die vor kurzem in London stattfand und in der die Repräsitanten der von Hitler unterdrückten Länder anwesend waren. Die Täter, so hieß es, werden nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zur Rechenschaft gezogen werden!

Auf Seite vier schreibt das Blatt weiter: Heimkehrer berichten – Eine alte Dame aus Wien erzählt…

Der Krieg hat eine neue Kategorie von Menschen geschaffen: amerikanische Refugees. Das sind amerikanische Bürger, die seit vielen Jahren, irgendwo in Europa gelebt haben und die jetzt, arm, mittellos und entwurzelt, in ihr Geburtsland zurückkehren. Für sie gibt es keine Hilfsorganisationen. Sie fühlen sich in den ersten Augenblicken nach ihrer Landung vielleicht noch einsamer hier als rassische, religiöse oder politische Flüchtlinge, die hier von Organisationen, oder auch von bereits früher angekommenen Freunden und Verwandten empfangen werden. Aber die Amerikaner? Da ist der Fall der Frau „X“, die am Montag mit der „Drottningholm“ angekommen ist. Sie ist heute 62 Jahe alt. Ihre Eltern waren amerikanische Staatsbürger, sie selbst ist in Europa, genau gesagt in Hamburg, geboren. Da sie ledig geblieben ist, behielt sie ihre Staatsbürgerschaft. Seit 1896 lebte sie in Wien. Sie sah das kaiserliche Wien, dann das republikanische und zuletzt das hitlerische. „Wien war einst so hübsch“, sagt sie melancholisch vor sich hin, als stünde die Stadt am Donaustrand noch einmal vor ihr auf… „Wien sieht heute wie ein Dorf aus. Um 12 mittags ist es dort auf der Strasse wie früher um 3 nachts. Als Amerikanerin brauchte ich den Davidstern nicht zu tragen. Aber wie elend wurden alle Juden in Wien behandelt! Die meisten wurden nach Litzmannstadt (Lodz) deportiert und viele, sehr viele haben Selbstmord begangen. Die Deportierten mussten ihre Wohnungsschlüssel abgeben – und kurz nach ihrer Abreise wurden ihre Wohnungen geplündert. Denn mitnehmen durften sie nur wenig oder auch gar nichts. Übrigens muss der Davidstern auch an der Wohnungstür jedes Juden haften – in Prag sollen die Juden den Davidstern gar auch auf dem Rücken tragen müssen.“ Die zweiundsechzigjährige hatte es sich längst nicht mehr träumen lassen, jemals noch nach Amerika zu kommen. Ihre Mutter, 90 Jahre alt, konnte die Reise nicht mehr machen. Sie musste zurückbleiben. „Die Situation der Juden in Wien – darüber hinaus im gesamten Deutschland – ist grauenhaft. Sie leben inmitten einer Stadt und wissen nichts von dem, was vorgeht. Die Stimmung unter der Bevölkerung kann ich schwer berurteilen. Juden kommen mit kaum jemandem zusammen. Eine einzige Synagoge ist noch geöffnet in Wien: die im II. Bezirk in der Seitenstettengasse. Die anderen sind geschlossen, verbrannt oder abgerissen. Einige Juden sind im Arbeitsdienst, andere in jenen christlichen Geschäften angestellt, in denen Juden einkaufen dürfen.“ Das Bild, das die Reisenden aus den verschiedenen deutschen Städten malen, ist finster und unerfreulich. Es ist unvollkommen, denn die Juden im Dritten Reich, auch wenn sie Ausländer sind, leben abgesondert und in völliger Ungewissheit über die Geschehnisse, die rings um sie herum vorgehen. Sie sind Treibholz in einem Strom, der ins Unabsehbare fliesst.

Wohin alle europäischen Juden gingen, ist uns bestens bekannt; – jedoch wird es oft noch geleugnet.

Von Rolf von Ameln

 

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Von am 08/11/2015. Abgelegt unter Spiegel der Zeit. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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