Das moderne helle Atrium der Deutschen Bank in einem Altbau Unter den Linden in Berlin-Mitte ist eine schöne Umgebung für das wichtige Fest, für die Georg Dehio-Kulturpreisveleihung des Jahres 2015. Eine künstlerische Collage des Czernowitzer Jugendstilbahnhofs in Großformat steht auf dem Podium und ist von weitem zu erkennen. Der Kulturpreis geht schließlich an einen aus Czernowitz kommenden, einen in vielen Ländern bekannten und hochgeschätzten Literaturprofessor der Jurij Fedkowitsch Universität, Herrn Dr. Petro Rychlo. Den Nebenpreis erhält das tschechische Filmprojekt „Alois Nebel“, des Regisseurs Tomas Lunak , des Grafikers Jaromir 99 und des Autors Jaroslav Rudis. Martin Becker, der Journalist und Schriftsteller, hält die gekonnte ideenreiche Laudatio.
Das Deutsche Kulturforum östliches Europa in Potsdam hat zu dem Abend eingeladen und vergibt den honorigen Preis. Der Este Georg Dehio aus Reval gab dem Preis den Namen. Auf dem alten Tübinger Stadtfriedhof, unweit von Friedrich Hölderlin und Ludwig Uhland, fand er 1932 seine letzte Ruhe.
Die Albumblätter des böhmisch-deutschen Komponisten Hans Sitt, der in Prag geboren und in Leipzig begraben wurde, spielten die Violinistin Tomoe Imazu und die Pianistin Sefuri Sumi, eine wunderbare festliche Stimmung entstand im hellen Atrium. Die Begrüßungsrede hielt Dr. Harald Roth, der Direktor des bereits genannten Kulturforums, Grußworte sprachen Ministerialrat Dr. Günter Winand von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und Mgr. Daniel Hermann, der Kulturminister der Tschechischen Republik.
Reiner Kunze der Altmeister der deutschen Lyrik, der einst der DDR den Rücken kehrte und mit Petro Rychlo befreundet ist, hielt die Laudatio auf den Geehrten. Petro Rychlo beschäftigte sich bereits in den 1970 Jahren mit deutscher Literatur, mit deutscher Literatur aus der DDR. Viele Dichter lernte er im Osten Deutschlands persönlich kennen, so auch Christa und Gerhard Wolf. Über Stefan Hermlin promovierte er und traf sich mit ihm in Berlin und in Moskau.
Professor Dr. Petro Rychlo wurde 1950 in Schyschkowitz im Bezirk Kotzman in der Bukowina an der Grenze zu Galizien in der damalige Sowjetunion geboren, ging dort zur Schule, studierte Germanistik und Literaturwissenschaft an der Universität in Czernowitz. Aus einer ukrainischen Familie stammt Petro Rychlo, die deutsche Sprache ist nicht seine Muttersprache; er spricht sie perfekt!
Reiner Kunze erzählt über Czernowitz, der Stadt der kulturellen Vielfalt, erzählt, dass dort u.a. Deutsche, Österreicher, Ukrainer, Rumänen, Juden, Polen und Armenier lebten, und zitiert aus einer Rede von Petro Rychlo „ Die kleine Bukowina hat vielleicht zum ersten Mal so deutlich und überzeugend demonstriert, wie produktiv das harmonische Zusammenleben mehrerer Völkerschaften sein kann, die durch gegenseitige Sympathie und humanistische Kultur verbunden sind.“ Reiner Kunze ist ein Freund von Petro Rychlo und Kenner seiner wissenschaftlichen und literarischen Arbeit. Von ihm erfahren wir, dass der Literaturwissenschaftler und Germanist Petro Rychlo Stapel von Übersetzungsbänden herausgegeben hat, eine zehnbändige zweisprachige Ausgabe der Gesammelten Gedichte Paul Celans, erinnert an seine Abhandlung Jüdische Identitätssuche in der deutschsprachigen Dichtung der Bukowina, erinnert an Werkausgaben, u.a. an die deutschsprachigen Prosa der ukrainischen Klassikerin Olga Kobylanska, erinnert an die Vielzahl von Anthologien und erklärt uns die Schwierigkeiten ein Gedicht zu übersetzen.
Noch Mannigfaches könnte gesagt werden, wenn man die vielen Lobesschriften über Petro Rychlo liest. Ukrainische, deutsche und österreichische Auszeichnungen bekam er für seine literarischen wissenschaftlichen Aufarbeitungen und Übersetzungen nach der Öffnung der Grenzen in Europa. Sein Name ist eng verbunden mit der Wiedergeburt der deutschsprachigen jüdischen Schriftsteller und Lyriker der Zwischenkriegszeit, die den Judenverfolgungen und Deportationen ausgesetzt waren. Selma Meerbaum-Eisinger überlebte nicht, starb mit achtzehn Jahren an Typhus in Transnistrien. Fast alle flohen nach der politischen Teilung der Bukowina 1945 nach Bukarest, in den Westen Europas oder weiter in die freie Welt. 1945 wurde die deutsche Sprache, die Sprache des Feindes. Bis 1990 wurden diese deutschsprachigen jüdischen Dichter der Bukowina und Galiziens in Schulen und an Universitäten nicht erwähnt.
Das Literaturfestival MERIDIAN in Czernowitz mit der vierwöchigen Lyriktournee vom Osten Europas bis in den Westen, dass in diesem Jahr zum sechsten Mal stattfand, ist ohne Professor Dr. Petro Rychlo und sein immenses Literaturwissen und seine Übersetzerkunst kaum denkbar.
In seiner Dankesrede erzählt uns Professor Dr. Petro Rychlo, der Dehio-Preis-Geehrte, „Diese lebensspendende Eigenschaft der Übersetzung im Auge behaltend, habe ich mich all diese Jahre bemüht, die Stimmen der vergessenen und vertriebenen, ermordeten und verschollenen deutschjüdischen Dichter der Bukowina wieder zu beleben. Diese literarische Aufgabe betrachte ich zugleich als eine moralische Mission, als Wiederherstellung der geschichtlichen Gerechtigkeit und möchte ihr, gemäß meinen bescheidenen Kräften, auch weiterhin dienen“.
Der Laudator Reiner Kunze fasst in zwei kurzen Sätzen Wesentliches zusammen: „Petro Rychlos Werk selbst ist mitteleuropäischer kultureller Raum ukrainischer Identität. Europa schuldet dem heutigen Preisträger großen Dank“.
Von Christel Wollmann-Fiedler
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