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„Kains Opfer“: Eine Rezension des Erstlingsromans von Alfred Bodenheimer

„Warum beginnt unsere heilige Torah nicht mit dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets? Warum mit dem zweiten? Weil der zweite Kaffee immer der beste ist.“

Während Rabbi Gabriel Klein, Ende vierzig, verheiratet, zwei Töchter, Rabbiner an der ICZ, der größten Gemeinde Zürichs an seiner Predigt für den kommenden Schabbat arbeitet, schweifen seine Gedanken ab zu seinem Vater, der ihn mit seinen ganz speziellen Denkansätzen maßgeblich geprägt hat. Dass sein Sohn jemals Rabbiner werden könnte, hatte er rundheraus abgelehnt. „Rabbiner, das ist doch kein Beruf für einen anständigen jüdischen Jungen!“ Seine eigenen Gründe gegen diesen Beruf lagen eher darin, morgens um sechs Uhr aufstehen zu müssen, um pünktlich zum Morgengebet zu kommen. Nach einem Ausflug in die akademische Welt hatte Klein das Angebot der ICZ angenommen, zunächst als Assistent und später dann als Rabbiner dort zu arbeiten. Zu seinem Chef, Gott, lebt er „in einer einträchtigen on-and-off-Beziehung“.
Probleme arbeitet er bei seinen Besuchen in den jüdischen Altersheimen ab: seine liebsten Gesprächspartner sind zwei ältere, mittlerweile demente Gemeindemitglieder. Bei diesen Besuchen kann er seinen Gedanken freien Lauf lassen, die Besuche haben fast schon einen therapeutischen Effekt!

Beim Schreiben der Predigt für den bevorstehenden Schabbat wird er abgelenkt von einer Karte, die er von seinem „Ziehsohn“ David Bohnenblust aus Israel erhalten hat. Obwohl David hat nur einige Tage im Hause des Rabbiners gelebt hat, hat aber doch Spuren hinterlassen. Genug, um Klein zu irritieren mit seinen Worten: „..aber machen Sie sich keine Sorgen, es geht mir gut.“ Der hochbegabte junge Mann mit dem leichten Tourette Syndrom war nach der Matura nach Israel ausgewandert. Seither waren die Kontakte lockerer geworden.

Kleins Gedanken werden von einem unglaublichen Anruf unterbrochen. Karin Bänziger, Kriminalkommissarin, ruft ihn vom Telefon eines Freundes aus an und bittet ihn, zu ihr auf die Wache zu kommen. Sein Freund Nachum Berger, Lehrer an der jüdischen Elementarschule und Gemeindemitglied, ist tot von einem Kollegen in seiner Wohnung aufgefunden worden. Kleins Nummer war die letzte, die in seinem Telefon verzeichnet war. Noch vor wenigen Tagen war er, bei ihnen zu Gast gewesen, zusammen mit einem jungen Israeli, der als Sicherheitsbeamter bei der EL AL am Flughafen arbeitete.

Beim Besuch im Kommissariat insistiert Klein zu erfahren, wie Berger starb, aber die Kommissarin lässt sich nicht in die Karten schauen, ihre Formulierung lässt alles offen. Im Gegenteil, Kommissarin Bänziger nutzt die Chance, ihrerseits möglichst viele Informationen über den Verstorbenen zu erhalten. Klein berichtet von einer Ex-Ehefrau, die in Israel lebt und von der Berger schon seit Jahren geschieden sei. Kinder oder andere Verwandte gäbe es nicht.

Wieder daheim wird Klein vom rabbinischen Alltagsgeschehen eingeholt: seine Frau Rivka, hat, soweit es möglich war, alle eingegangenen Anrufe beantwortet, ohne genau zu wissen, was vorgefallen ist. Wie immer in der kleinen grossen Stadt, wie Zürich es ist, brodelt die Gerüchteküche, sobald etwas passiert ist, was für eine Bevölkerungsgruppe von Bedeutung ist.

Die jüdischen Gemeinden in Zürich sind klein genug, um ihren individuellen Charakter zu erhalten, aber auch individuell genug, um miteinander über ihre unterschiedlichen Glaubensansichten zu streiten. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten. So wie jetzt, wenn es darum geht, die Information der Schüler und Eltern zu sammeln, um die Beisetzung des Verstorbenen vorzubereiten, Mut zu machen und Trost zu spenden und auch die allgemeine Neugierde zu befriedigen.

Und das kann nur Rabbiner Klein. Den Besuch in der Efrat Schule beendet er mit dem Spruch: „Sei mutig wie ein Panther, leicht wie ein Adler, schnell wie ein Hirsch und stark wie ein Löwe, den Willen deines Vaters im Himmel zu tun.“ der einem der sehr frühen Weisen aus dem 2. Jahrhundert zugeschrieben wird.

Sein Wochenendkonzept ist dahin, die Leichtigkeit, mit der er begonnen hat, die Predigt zum Thema Kains Brudermord zu schreiben, hat sich verflüchtigt, wieder zerstört von Kommissarin Bänziger, die ihn bittet, der Polizei bei den Ermittlungen behilflich zu sein, indem er Bergers Mails aus dem Hebräischen übersetzt. Selbstverständlich wird er der Schweigepflicht unterstellt. Ob der von Natur aus neugierige und kommunikative Rabbiner diese strikte Verpflichtung einhalten kann? Kommissarin Bänziger scheint ihre Bedenken zu haben, denn sie fordert ihn nachdrücklich auf, kein eigenes Polizeibüro zu eröffnen.

Nur eine Mail weckt die Aufmerksamkeit Kleins. Es ist der Hilferuf einer Frau an den Ermordeten. Über das Kürzel der Absenderin schliesst er rasch auf ihren Ehemann, der sie offensichtlich bedroht. Beide sind Mitglieder der orthodoxen Gemeinde. Klein wird von Zweifeln geplagt, ist er nun ein Denunziant oder jemand der hilft, einen Mord aufzuklären? Was, wenn es kein Mord war, wenn der Tod in Folge eines Herzversagens eingetreten war? Würde er dann ein Motiv liefern, wo es gar keinen Mörder gab? Prompt nimmt die Kantonspolizei den von ihm Genannten fest und wieder kocht die Gerüchteküche innerhalb der Gemeinde.

Klein stellt fest, dass er vom Leben des Verstorbenen eigentlich nur das weiss, was er in den Bewerbungsunterlagen für die Anstellung an der Efrat Schule flüchtig gelesen hatte und beginnt, sich intensiver mit ihm zu beschäftigen. Auf den ersten Blick sind es die Spuren eines normalen, geradlinigen Lebens, das sich auf mehreren Kontinenten abgespielt hatte, die sich vor ihm abzeichnen, aber dann macht ihn eine Formulierung stutzig. Die vage Spur führt nach Amerika. Von Bergers ehemaligem Chef dort erfährt er, dass es im Leben des allseits geschätzten Kollegen ungeklärte Punkte gegeben hätte, die eine weitere Beschäftigung nicht mehr möglich gemacht hätten. Die falschen Angaben zu seinem Zivilstand lassen seine Integrität in einem zweifelhaften Licht erscheinen. Es gab eine Ehefrau, eine nach jüdischem Recht verlassene, die erst dann wieder heiraten dürfte, wenn sie entsprechend den jüdischen Gesetzen geschieden wäre. Und der die Scheidung seit Jahren verweigert wurde. Gab es ein besseres Tötungsmotiv?

Bei der Beisetzung Berger tritt eine Frau so auf, als wäre sie die legitime Witwe des Verstorbenen. Nicht nur Rabbiner Klein ist verwirrt. Was bedeutet das? Echte Trauer? Wut? Hass? Die Rache einer Abgewiesenen? Wirklich betroffen ist nur der junge Mann, der bei Klein zu Gast war. Gibt es da wohlmöglich weitere Verdachtsmomente? So wie auch bei jenem Kollegen, der Berger tot aufgefunden und der vielleicht unmittelbar von seinem Tod profitiert hat?

Klein fühlt sich verpflichtet, allen Spuren nachzugehen. Er spürt seine Verpflichtung seiner Gemeinde gegenüber. Doch statt die Fäden, die sich ineinander gesponnen haben ein wenig lösen zu können, wird er immer weiter in das Beziehungsgeflecht seiner Gemeindemitglieder untereinander und auch zu den anderen Gemeinden hineingezogen. Der Zwang, weitersuchen zu müssen lässt ihn nicht mehr los.

Bei einem Abendunterricht greift er das Thema „Kain und Abel“ noch einmal auf. „Aber es kann doch sein, dass der Grund, einen Menschen zu töten, nicht der nächstliegende ist, sondern ein verborgener.“ Wie die Torah mit einem Bet beginnt, statt mit einem Alef.

Die Lösung, so spürt Klein ganz deutlich, liegt nicht in der Schweiz, nicht in den USA, sondern in Israel. Dort hat er gute Kontakte zum Oberrabbinat. Nach anfänglich positiver Kooperationsbereitschaft trifft er aber nach seinem Eintreffen in Israel auf eine Mauer des Schweigens.

Ein spontanes Treffen mit David Bohnenblust öffnet völlig neue Blickwinkel auf das Leben des Getöteten. Ein vergessenes altes Familienfoto an der Wand führt auf die richtige Spur.

Hin zu Kain, der seinen Vater hasste, weil er es ihm eingebrockt hatte, jenseits von Eden zu leben.

Off the record:

Die Kernaussage nicht nur über die Zürcher Juden, sondern über viele, wenn nicht sogar die meisten Juden ausserhalb Israels steht auf Seite 60  und beschreibt implizit die Trauer des Rabbiners. „Das Judentum könnte so viel spannender sein, dachte er, so viel mehr als der Grillplausch am Unabhängigkeitstag Israels und die Mühsal des Putzens vor Pessach. Die meisten seiner Mitglieder hörten zum Ende des Religionsunterrichts auf, sich mit dem Judentum intensiver zu befassen. Sie wurden Ingenieure, Anwältinnen oder Ärzte und lächelten über eine Religion, bei deren Verständnis sie auf dem Stand von Zwölfjährigen stehengeblieben waren.

Prof. Dr. Alfred Bodenheimer, Kains Opfer Verlag Nagel & Kimche AG

Von Esther Scheiner

Redaktion Israel-Nachrichten.org

 

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Von am 10/09/2015. Abgelegt unter Bücher,Israel,Rezensionen. Sie knnen alle Antworten zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0. Kommentare und pings sind derzeit geschlossen.

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