Die „Londoner Zeitung“ titelte am 14. Mai 1941: „Die Made im Apfel!“
Der Stellvertreter des „Führers“ hat sich in englische Gefangenschaft begeben. Als Churchill im Informationsministerium dies beispiellose Ereignis bekanntgab, brachte es selbst den kühlen Sir Walter Monckton aus der Ruhe. „Aber das ist ja eine grossartige Nachricht!“, rief er aus. „Ja“, sagte Churchill. „Die Made ist im Apfel!“ Das ist eines der Chruchill-Worte, die klassisch werden dürften. Es trifft den Nagel auf den Kopf. Was immer die Einzelheiten hinter Hess´ kinohafter Flucht sein mögen, steht heute schon fest: das Prestige des Nazi-Reichs hat einen Schlag erlitten, wie noch nie seit dem 30. Juni 1934.
Es ist zu früh zu sagen, warum Hess nach England flog. Mehrere Erklärungen liegen im Bereich des Möglichen. Er mag auf einer von Himmlers schwarzen Listen gestanden haben und Wind davon bekommen haben, denn die Todfeinschaften innerhalb des Führerklüngels sind notorisch und vielen fiel es auf, dass bei der Designierung Görings und Hess´ zu Nachfolgern Hitlers Himmler übergangen wurde. Er mag in ernstliche politische Konflikte mit seinen „Kollegen“ geraten sein. Er mag, früher als weniger Eingeweihte, Einsicht in die wirkliche Lage Deutschlands gewonnen und daraufhin das getan haben, was fünf Minuten vor zwölf tausende unter den kleineren Verbrechern versuchen werden: sich aus der Affäre ziehen und „tätige Reue“ heucheln.
Er mag auch schliesslich -der Schundroman-Phantasie Hitlers und der Seinen ist alles zuzutrauen- als der „Treueste aller Treuen“, für den er bis gestern galt, ausersehen sein, nur zum Schein Verrat zu üben und in Wahrheit einen letzten Verzweiflungsversuch zu machen, unter den ehemaligen Freunden der Nazis in England Verwirrung zu stiften. Wenn dies letzte der Fall sein sollte, so darf man beruhigt darüber sein, dass es an der Wachsamkeit der englischen Regierung scheitern wird. Warnen aber muss man ernstlich vor einem: vor der leichtgerührten Sentimentalität von Teilen der englischen Presse, die heute in ihren Gossip-Spalten den Eindruck erwecken, als sei dieser Hess doch keiner von den Schlimmsten, und rührende Geschichten von seiner Schüchternheit, seinem netten Lächeln und seiner Anhänglichkeit an Frau und Kind zu erzählen wissen.
Spass beiseite: Er ist einer von den Schlimmsten. Er ist – neben Röhm – Hitlers erster und engster Vertrauter gewesen, der Mitbegründer der S.A., der Mitregisseur ihres Terror-Krieges, der Mitverfasser der Bibel des destruktiven Nihilismus „Mein Kampf“, der Mitwisser des Reichstagsbrandes, einer der Hauptverantwortlichen des Massenmordes vom 10. Juni. An seinen Händen klebt das Blut von tausenden Unschuldiger. An Fanatismus und Hemmungslosigkeit gibt er keinem Himmler und keinem Streicher etwas nach. Wenn er sich durch irgendetwas von seinen Brüdern im Verbrechen unterscheidet, dann durch die eiserne Stirn, die ihn stets besonders geeignet erscheinen liess, vorgeschickt zu werden, wenn es sich darum handelte, Untaten mit treuherziger Mine abzuleugnen: von den Foltern in den Konzentrationslagern bis zu den Kriegsvorbereitungen gegen die Tschechoslowakei.
Wenn dieser Mann heute den harmlosen, rührenden Familienvater spielt, dann sollte wirklich niemand darauf hereinfallen. Seine Flucht ist ein Grund zu grimmiger Genugtuung; nicht zu verzeihungsbereiter Rührung. Zur Genugtuung aber ist wahrhaftig Grund – und mehr noch zu propagandistischem Nachstossen. Deutschland hat auf dem moralisch-politischen Kriegsschauplatz eine Niederlage erlitten, die furchtbar ist, und die vernichtend werden kann, wenn die Propaganda-Strategen sie ausnutzen. Um sie zu ermessen, stelle man sich nur einmal vor, was es für England heissen würde, wenn heute Lord Beaverbrook oder Bevin in einem Spitfire nach Bayern flöge, um sein Schicksal in die Hände des Führers zu legen. Wäre die Waffe, die Goebbels damit in die Hand bekäme, nicht geradezu tödlich? Genau das ist jetzt Deutschland geschehen – mit dem Unterschied, dass es sich im Falle Hess nicht einfach um einen einflussreichen Minister eines demokratischen Landes, sondern um den Stellvertreter und designierten Nachfolger des allmächtigen Führers handelt.
Der Schlag ist fürchterlich. Alles, was jetzt zu tun ist, ist, ihn bis in den fernsten Winkel der Welt widerhallen zu lassen. Um Gottes Willen nur diesmal keine Diskretion und keine Vornehmheit! Jetzt ist der Augenblick, allen Lärm der Welt zu machen und diese tödliche Selbstenthüllung der Korruption und Kernfäule des Nazi-Staates mit allen Scheinwerfern anzustrahlen, die man nur auftreiben kann. Hitler ist gerade in den delikatesten Verhandlungen mit Inönü, Stalin und Matsuoka, Franco und Darlan. Der innere Bankrott und die Hochstapelei des deutschen Regimes, die jetzt ans Licht gekommen sind, müssen auch dem letzten Bewohner der Türkei, Russlands, Spaniens und Frankreichs so in die Ohren getrommelt werden, dass es den Staatsmännern dieser Länder einfach unmöglich wird, mit diesem Regime noch Geschäfte zu machen.
Der deutsche Propaganda-Apparat, der offenbar völlig aus dem Häuschen geraten ist, liefert dabei geradezu selbst der englischen Propaganda-Artillerie die Munition: mit seiner unglaublichen Behauptung, dass Hess seit Jahren geistesgestört war, und mit der Mitteilung, dass seine Adjudanten sofort verhaftet worden sind, weil sie ihn trotz ausdrücklichen Befehl des Führers entwischen liessen. Ein reizendes Bild! Der drittmächtigste Mann in Deutschland, der Stellvertreter und Nachfolger des Führers, ein bekannter Wahnsinniger! Seine Adjudanten in Wahrheit seine Irrenwärter! Wenn das möglich ist – wo ist die Grenze? Werden wir morgen vielleicht hören, dass der Führer selbst „bekanntlich“ seit Jahren geistesgestört ist! Ist es vielleicht nicht sogar bei ihm noch wahrscheinlicher als bei Hess, der immerhin nicht ganz so oft in der Öffentlichkeit Anfälle von Tollwut hatte und nicht in seinem persönlichen Kreise als „Teppichbeisser“ bekannt ist?
Es scheint, dass selbst das deutsche Volk diesmal aus der Betäubung, in der es sich in den letzten Jahren dem Abgrund entgegenführen lässt, aufschrickt. Die nervösen, einander überstürzenden Beruhigungsversuche des Propagandaministeriums und der Partei deuten an, dass das Ereignis in Deutschland einigermassen stärkere Reaktionen ausgelöst hat als jene „beherrschte Anteilnahme“, mit der, nach den klassischen Worten des „Reich“, das deutsche Volk Hitlers Siegen zusieht. „Das deutsche Volk bleibt trotzdem unbeirrt in seinem Entschluss, den Krieg zum siegreichen Ende zu führen“: so die amtliche Verlautbarung der NSDAP. Qui s´escuse, s´accuse. Man hat den Deutschen erfolgreich die Augen verbunden. Aber man hat vielleicht vergessen, ihnen die Nasen zu verbinden, und haben sie angefangen, den Fäulnisgeruch zu wittern, der aus dem madigen Reichsapfel dringt!
Bei allem später folgendem Elend, der Vernichtung eines Volkes; – dieser Artikel ist einfach Klasse.
Von Rolf von Ameln
Redaktion Israel-Nachrichten.org
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