Um es vorweg zu nehmen, ich hatte keine Ahnung davon, bis ich im vergangenen Sommer von der schrillen Computerstimme meines Handys aufgeschreckt, verwirrt auf das Display schaute. Draussen war alles ruhig. Keine Sirene, nichts. Aber auf dem Display stand klar und deutlich zu lesen: „xx.07.2014 – Rockets attack, Zichron Yaacov“.
Also Handy und Lesestoff in die eine Hand, im Vorbeigehen noch eine Flasche Wasser in die andere Hand nehmen und die Treppe runter Richtung Bunker. Der zum Glück seit Wochen schon aufgeräumt war. Radio und Ladekabel für das Handy waren bereit.
Was bleibt in einer solchen Situation anderes übrig, als sich mit dem nicht zu Ändernden abzufinden: Hoffen, dass die Rakete aus Gaza über dem Meer runterkommt, niemanden verletzt und man nach 10 – 15 Minuten wieder raus kann, wenn es bei dieser einen Warnung bleibt.
Wir haben Glück, Zichron liegt so weit von beiden möglichen Angriffsregionen im Norden (Libanon) und im Süden (Gaza) entfernt, dass wir 1 ½ Minuten Zeit haben, uns in einen der schützenden Bunker zu begeben. Genug Zeit, sollte man meinen, wenn man daheim ist und das Haus über einen Schutzraum verfügt, wie jedes Privathaus ab einem bestimmten Baujahr. Mehrfamilienhäuser und öffentliche Gebäude haben entsprechende Räumlichkeiten oft im Keller oder in Zwischenstockwerken. Manchmal dienen auch Durchgänge zu anderen Gebäudeteilen als „sicherer Ort“. Meinen allerersten Alarm erlebte ich in Tel Aviv am ersten Abend der Operation „Fels in der Brandung“ in einem Restaurant. Die Evakuierung des Restaurants an diesem ersten Tag der Gaza Operation geriet noch ein wenig zum Event. Man lachte, machte Selfies, telefonierte und kehrte nach wenigen Minuten zum unterbrochenen Essen zurück. Wie gesagt, es war der erste Abend, niemand ahnte, wie lang diese Operation dauern, und wie viele Opfer sie fordern würde.
In Tel Aviv beträgt die Sicherheitszeit nur 1 Minute. In Ashdod, der zweiten grossen Hafenstadt Israels, wo viele Kreuzfahrtschiffe anlegen, nur 45 Sekunden, um Ashkelon herum, das schon recht nahe am Gazastreifen liegt, gibt es nur 30 Sekunden und in den kleinen Siedlungen unmittelbar neben dem Gazastreifen haben die Bewohner nur 15 Sekunden Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Noch dramatischer ist die Situation am Golan und entlang der libanesischen Grenze. Dort heisst es ganz klar: SOFORT!
Wer es einmal ausprobieren will, wie kurz 15 Sekunden sind, dem empfehle ich dieses „Klickspiel“ zu spielen: Es ist ganz harmlos und misst nur, wie viele Klicks mit der Maus man innerhalb von 15 Sekunden machen kann!
Zichron liegt im Dreieck zwischen den Kraftwerken Hadera und Yoqneam und Haifa mit seinen Raffinerien und Chemiewerken. Dies sind die potenziellen Ziele der Terrororganisationen Hamas und HItzbollah. Das macht auch uns zu einem potenziellen Ziel für zu kurz geratene Raketen, was nicht wirklich beruhigend ist.
Besonders stark betroffen waren im Sommer 2014 die Orte in unmittelbarer Nähe des Gazastreifens, auch aufgrund der hohen Frequenz der auf sie abgeschossenen Raketen. Das Trauma der dort lebenden Familien, insbesondere der Kinder, war unvorstellbar. Fünf gefallenen Soldaten und der kleine Daniel Tregerman kamen während der Operation in dieser Region ums Leben. Auch wenn der Raketenbeschuss nicht erst im letzten Jahr begann, so war die Zahl der Raketen um ein Vielfaches höher, als in den Jahren zuvor. Es gab keine Pläne, um die Bevölkerung frühzeitig zu evakuieren und in relativ sichere Regionen weiter im Norden zu bringen.
Nun liegen die Pläne vor, um die notwendige Evakuierung unter Militärschutz frühzeitig zu beginnen.
Ein völlig neues Raketenfrühwarnsystem wird engmaschig entlang der Grenze zu Gaza und zum Libanon installiert, sodass die „Rettungszeit“ überall mindestens 15 Sekunden beträgt. Vor allem für die Menschen entlang der Nordgrenze Israels wird das im Angriffsfall eine deutliche Entlastung darstellen.
Im vergangenen Sommer wurde jede einzelne Rakete, die von einem beliebigen, jederzeit wechselnden Ort in Gaza abgeschossen wurde (nur zur Erinnerung, es gab UN Schulen und Krankenhäuser, die als Abschussbasen dienten, sowie Moscheen, Kindergärten, Privathäuser, Friedhöfe!) wurde von einem Soldaten computerunterstützt vom Moment des Abschusses an analysiert: wie gross, wie schnell, welcher Typ, voraussichtliche Flugzeit, voraussichtlicher Einschlagort. Um diese Informationen blitzschnell zu erhalten, wurde eine Kombination von Radar und Computer eingesetzt. Nur wenn sicher war, dass der Einschlagort in Gaza oder auf unbebautem Gelände in Israel war, wurde kein Alarm ausgelöst. Diese Analyse ab dem Abschuss dauert bis zu einer halben Minute. Die Flugzeit einer Grad Rakete z. B. beträgt zwei Minuten, ihre Reichweite beträgt 40 Kilometer. Die Entscheidung, wann die Analyse gestoppt wird, um den Alarm auszulösen, muss in jedem Fall neu getroffen werden. Jeder Alarm bedeutet für die Bevölkerung zusätzlichen Stress, den die IDF versucht, zu vermeiden. Im besten Fall kommen der Computer und der Mensch davor zum gleichen Ergebnis, im Zweifel entscheidet der Computer.
Zeitgleich werden die Abfangsysteme des Iron Dome aktiviert. Um die wahrscheinlichen Zielgebiete möglichst genau definieren zu können, ist ganz Israel in Planquadrate eingeteilt. Von 25 Quadraten während des Zweiten Libanon Krieges (2006) wurde die Einteilung auf heute 235 verfeinert. Für Lt. Col. Levi Itach vom Home Front Command ist das immer noch viel zu ungenau. Er sieht die Zukunft bei 36.000 Quadraten in der Grösse von jeweils 1 Km2.
Während der Westen schon wieder Geschäfte mit der Islamischen Republik Iran aufbaut, und sich keinen Pfifferling um das iranische Atomprogramm kümmert, schwebt dieses Damoklesschwert nach wie vor über dem Nahen Osten.
Über die Bedrohung seitens des Irans wird in Israel viel diskutiert und spekuliert. Wir wissen, dass sie sehr real ist, aber Eines wissen wir noch nicht: wie lange benötigt „die Bombe“, um uns zu erreichen? Bisher basieren alle Berechnungen mehr oder weniger auf Vermutungen. Die gehen von einer Flugzeit von +/- 30 Minuten aus. Zeit genug, den schützenden Bunker aufzusuchen.
Aber wie so oft, Zeit ist relativ. Ist die Rakete atomar bestückt, oder wird der Einsatz von biologischen und/oder chemischen Kampfstoffen erwartet, so ist das Aufsuchen eines „simplen“ Schutzraums vielleicht nicht mehr ausreichend. Der christliche Kibbuz „Beth El“ sorgt für zusätzlichen Schutz der Bevölkerung. Ausgetüftelte Anlagen für den kleinen Schutzraum, über Feldlager, Fahrzeuge, Isolationsräume, Schiffe etc. bietet dieser hoch spezialisierte Hersteller von Filtrations- und Ventilationssystemen an. Sogar auf das Tragen von Gasmasken, für viele Menschen eine beängstigende Vorstellung, kann in einem solchen Raum verzichtet werden.
Sinnvollerweise heisst diese Produktionsabteilung von Beth El Industries „Noahs Arch“!
Wir dürfen ziemlich sicher sein, im schlimmsten Fall, von dem wir natürlich hoffen, dass er nie (mehr) eintreten wird, gut geschützt zu sein. Und trotzdem, eine Restangst bleibt. Vor allem bei Eltern, die während der Unterrichtszeit keinen direkten Kontakt mit ihren Kindern haben können.
In diesem Fall kommt das oft so verpönte Handy zum Einsatz: Die Nummern der Schüler sind klassenweise als Kontaktgruppe erfasst. Sobald alle sicher im Bunker angekommen sind, werden die Eltern informiert, dass ihre Kinder in Sicherheit sind.
Wenn es sein muss, auch zehnmal am Tag!
Von Esther Scheiner
Redaktion Israel-Nachrichten.org
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