Die Vernichtung des europäischen Judentums
In der Zeit zwischen Ende Juli und Anfang Oktober des Jahres 1942 erreichte der Massenmord an den europäischen Juden seinen absoluten Höhepunkt. Etwa zwei Millionen Menschen starben in nur zwölf Wochen (!) einen grauenhaften Tod. Als am 4. Juni 1942 Reinhard Heydrich an den Folgen eines Attentats starb, war nicht nur der gefürchtete Chef des deutschen Terrorapparates tot, sondern auch der Architekt der „Endlösung“, des Massenmordes an den Juden.
Unmittelbar vor seinem Tod, als er noch schwer verletzt in einem Prager Krankenhaus lag, benannte man den Mord an den Juden ihm zu Ehren in „Aktion Reinhard“ um..! Heydrich hatte bereits im Sommer 1941 die Verbrechen der Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion beaufsichtigt, seit Herbst des Jahres arbeitete er fieberhaft an einer „Gesamtlösung der Judenfrage im europäischen Raum“, letztendlich an einer Planung zum Massenmord an allen Menschen, welche die Nazis als Juden betrachteten. So begannen Ende des Jahres 1941 die ersten Todestransporte in das Vernichtungslager Kulmhof in Westhofen, im März 1942 dann in die Todesfabriken Majdanek, Belzec und Auschwitz, bald darauf auch nach Sobibor. Jedoch hatte das Mordprogramm der Nazis noch nicht seine volle Entfaltung erreicht: Die Besatzungsfunktionäre wollten zunächst nur solche Menschen deportieren, die sie als „arbeitsunfähig“ einstuften. Auch stritten die Verwaltungen oft mit der SS über die Kompetenz in „Judenfragen“.
Die Deutsche Reichsbahn beispielsweise sperrte im Juni 1942 alle Strecken für Deportationen, um den Nachschub für die neue Offensive der Wehrmacht in Russland Vorrang zu geben. Zugleich jedoch arbeiteten Funktionäre in diesen Wochen überall im besetzten Europa an den Vorbereitungen für die entscheidende Phase der „Endlösung“. Man wollte die Erfolge der Wehrmacht im Osten dazu nutzen, möglichst schnell und im Windschatten der Weltöffentlichkeit das größte Menschheitsverbrechen zu vollenden. Während die deutschen Truppen in Stalingrad eindrangen und auf dem Kaukasusgebirge ihre Kriegsflagge hissten, wurden die Juden in Osteuropa aus den Ghettos getrieben und ermordet. SS-Chef Himmler gab bei seiner Begräbnisrede für Heydrich den Zeitrahmen bekannt: „Die Völkerwanderung der Juden werden wir in einem Jahr bestimmt fertig haben; dann wandert keiner mehr. Denn jetzt muß eben reiner Tisch gemacht werden.“ Adolf Eichmann, Heydrichs Referent für „Judenfragen“, konferierte in den westeuropäischen Hauptstädten, um die Deportationen von dort zu organisieren.
Nordöstlich von Warschau wurde bei dem Dorf Treblinka eines der größten Vernichtungslager errichtet. Himmler höchstpersönlich wandte sich an die Reichsbahn mit der Bitte um mehr Züge. Zufrieden bedankte sich sein Chefadjudant Karl Wolff bei den deutschen Einsenbahnern: „Mit besonderer Freude habe ich von Ihrer Mitteilung Kenntnis genommen, dass nun schon seit 14 Tagen täglich ein Zug mit je 5.000 Angehörigen des auserwählten Volkes nach Treblinka fährt und wir doch auf diese Weise in die Lage versetzt sind, diese Bevölkerungsbewegung in einem beschleunigten Tempo durchzuführen..!“ Himmler selbst begab sich Mitte Juli 1942 auf eine Inspektionsreise nach Polen, um den Massenmord mit eigenen Augen anzusehen. Am 17. Juli war er in Auschwitz und sah sich die Ermordung mehrerer hundert jüdischer Männer, Frauen und Kinder an, die aus Holland verschleppt worden waren. Sie wurden gezwungen, sich in einem Wald zu entkleiden und anschließend in ein umgebautes Bauernhaus, den sogenannten „Bunker 2“, getrieben.
Ein SS-Scherge warf Zyklon B über Klappen ins Innere des Hauses, wo die Menschen dann qualvoll erstickten. Häftlinge wurden gezwungen, die Leichen aus dem Gebäude zu ziehen und in Gruben zu verbrennen. Anschließend fuhr der SS-Chef weiter nach Lublin, wo er den regionalen SS-Führer Odilo Globocnik dazu ermächtigte, die Juden im Generalgouvernement zu ermorden. Globocnik leitete die „Aktion Reinhard“. Seine Gruppen fuhren in polnische Städte, um zusammen mit der dortigen Polizei die Ghettos zu „räumen“ und die Insassen dann in die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka zu bringen. Am 22. Juli erschien Globocniks Vertreter Hermann Höfle beim Judenrat in Warschau. In einer denkwürdigen Besprechung, bei der auch Marcel Reich-Ranicki (s.A.) als Schreiber anwesend war, verlangte Höfle vom Vorsitzenden des Judenrates, Adam Czerniakow, jeden Tag 5.000 Menschen aus dem Ghetto zur Deportation auszuliefern.
Czerniakow ahnte, was den Leuten bevorstand, und nahm sich in der folgenden Nacht das Leben. Bis zum 12. September fuhren nun fast täglich die Todeszüge aus Warschau nach Treblinka. Genauso geschah es in hunderten anderen kleineren Städten. Die Polizeieinheiten umstellten die Ghettos und suchten Zug um Zug die Straßen. Die Einwohner mussten zum Sammelplatz laufen, wo nur noch Arbeiter und deren Familien zum Leben aussortiert wurden und zurückgehen durften. Alle anderen pferchte man in Güterwaggons, manchmal bis zu 150 Menschen auf einmal, und deportierte sie während des heißen Sommers 1942 an den Ort der Vernichtung. Dort hatten sie nur noch wenige Stunden zu leben, bis sie in geschlossenen Räumen durch Motorabgase erstickt wurden. Im östlichen Polen, das im Jahre 1939 von Stalin annektiert worden war und seit Sommer 1941 auch unter deutscher Besatzung stand, betrieben die Täter nicht so viel logistischen Aufwand. Dort hatte es bereits im Sommer und Herbst 1941 erste Massenerschießungen gegeben.
Nun aber, im Sommer 1942, sollten die Ghettos ganz vernichtet werden. Die Opfer wurden nicht in Waggons gesteckt, sondern in Wälder und abgelegene Gelände nahe der Stadt getrieben und dort erschossen. So ereignete sich jeden Tag zwischen Juli und Oktober 1942 ein Massaker vom Ausmaß des Verbrechens in Babi Jar. Waren im Sommer 1941 bis Frühjahr 1942 etwa eine Million europäischer Juden ermordet worden, so fielen dem Mordfeldzug vom Spätsommer und Herbst 1942 mindestens zwei Millionen Menschen zum Opfer. In den besetzten polnischen und sowjetischen Gebieten lebte bei Jahresende 1942 nur noch eine kleine Minderheit jüdischer Arbeiter und fristete ihr Dasein in den wenig übrig gebliebenen Ghettos und Lagern. SS-Chef Himmler wies Ende 1942 seinen Statistiker, Richard Korherr, an, eine zahlenmäßige Bilanz des Verbrechens zu erstellen. Auschwitz wurde allerdings erst später, nach Himmlers Besuch vom Sommer 1942, allmählich zum größten Vernichtungslager aller Zeiten ausgebaut.
Vier große Krematorien mit Räumen zu Ermordung von Menschen durch Giftgas wurden bis zum Frühjahr 1943 erbaut. Dorthin kamen Juden aus ganz Europa, vor allem in den Jahren 1943 und 1944. Im Laufe des Herbstes 1942 sickerte auch im Reich, also in Deutschland und Österreich durch, dass die Juden in den besetzten Gebieten massenhaft umgebracht werden. Insbesondere über die Feldpost aus dem Osten, aber auch durch den Heimaturlaub vieler Soldaten und Besatzungsbeamten, wurden Details vom Massenmord bekannt. (Und bei Kriegsende im Mai 1945 hat „niemand etwas gewusst..!“, Anm.d.Verf.) Die führung der NSDAP meldete am 9. Oktober: „Im Zuge der Arbeiten an der Endlösung der Judenfrage werden neuerdings innerhalb der Bevölkerung in verschiedenen Teilen des Reichsgebiets Erörterungen über `sehr scharfe Maßnahmen´ gegen die Juden besonders in den Ostgebieten angestellt. Die Feststellungen ergaben, daß solche Ausführungen – meist in entstellter und übertriebener Form – von Urlaubern der verschiedenen im Osten eingesetzten Verbände weitergegeben werden, die selbst Gelegenheit hatten, solche Maßnahmen zu beobachten. Es liegt in der Natur der Sache, daß diese teilweise sehr schwierigen Probleme im Interesse der endgültigen Sicherung unseres Volkes nur mit rücksichtsloser Härte gelöst werden können.“ So fühlten sich die Funktionäre genötigt, dagegen vorzugehen und die antisemitische Propaganda zu verstärken.
Auch die Alliierten waren über die Verbrechen weitgehend im Bilde; besonders die polnische Untergrundbewegung hatte relativ detailliert nach London berichtet. Erst im Dezember 1942 konnten sich die alliierten Regierungen auf eine Protestnote einigen, die allerdings ohne jegliche Wirkung blieb. Die Möglichkeiten zur Intervention waren minimal bis aussichtslos. Zu dem Zeitpunkt, als der deutsche Macht- und Einflussbereich seine maximale Ausdehnung erreichte, saßen die Juden Europas in einer tödlichen Falle, aus der es kein Entrinnen gab!
Von Rolf von Ameln
Redaktion Israel-Nachrichten.org
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