In diesem Jahr liegen Pessach und der Israelische Unabhängigkeitstag sehr dicht beieinander. An Pessach haben wir uns an die Geschichte es Auszuges aus Ägypten erinnert, daran, wie wir von einem versklavten zu einem freien Volk wurden. Am Unabhängigkeitstag feiern wir die Geburtsstunde des Staates Israel im Jahr 1948. Zwischen den beiden essentiellen Ereignissen lagen Jahre des Kampfes, des Verlustes, der Verzweiflung und der Hoffnung. Die Hoffnung, die damals am Schilfmeer begann aufzukeimen und der wir heute immer wieder eine starke Stimme in unserer Nationalhymne, der HaTikwa geben:
Solange noch im Herzen
eine jüdische Seele wohnt
und nach Osten hin,
vorwärts, ein Auge nach Zion blickt,
solange ist unsere Hoffnung nicht verloren,
die Hoffnung, zweitausend Jahre alt,
zu sein ein freies Volk, in unserem Land,
im Lande Zion und in Jerusalem!
Was haben Pessach und der Unabhängigkeitstag gemeinsam?
Jeder, der schon einmal zu Gast bei einem Seder Abend zu Beginn des Pessach Festes war, kennt die mitreissende Melodie von „Dayenu“, jeder kann sie mitsingen. Kaum jemand wird jedoch den Text wirklich genau analysiert haben.
Der Auszug aus Ägypten
Wenn Er uns aus Ägypten hinausgebracht hätte, ohne über sie (die Ägypter) zu Gericht zu sitzen – es wäre genug für uns gewesen!
Wenn Er über sie zu Gericht gesessen hätte, aber nicht über ihre falschen Götter – …!
Wenn Er ihre falschen Götter zerstört hätte, aber ihre Erstgeborenen nicht getötet hätte – …!
Wenn Er ihre Erstgeborenen getötet hätte, uns aber nicht mit ihrem Wohlstand versehen hätte – …!
Wenn Er uns mit ihrem Wohlstand versehen hätte, aber nicht das Schilfmeer für uns geteilt hätte – …!
Die Wunder
Wenn Er das Schilfmeer für uns geteilt hätte, uns aber nicht auf trockenes Land geführt hätte – …!
Wenn Er uns auf trockenes Land geführt hätte, aber unsere Peiniger nicht ertränkt hätte – …!
Wenn Er unsere Peiniger ertränkt hätte, uns aber nicht mit allem versorgt hätte, was wir für die vierzig Jahre in der Wüste brauchten – …!
Wenn Er uns mit allem versorgt hätte, was wir für die vierzig Jahre in der Wüste brauchten, uns aber nicht mit Manna genährt hätte – …!
Wenn Er uns mit Manna genährt hätte, uns aber nicht den Schabbat gebracht hätte – …!
Die Beziehung zwischen Gott und den Menschen
Wenn Er uns den Schabbat gebracht hätte, uns aber nicht an den Berg Sinai geführt hätte – …
Wenn Er uns an den Berg Sinai geführt hätte, uns aber nicht die Thora geschenkt hätte – …
Wenn Er uns die Thora geschenkt hätte, uns aber nicht nach Israel geführt hätte – …!
Wenn Er uns nach Israel geführt hätte, uns aber nicht den Tempel erbaut hätte – …!
Ich möchte nur einige Textstellen genauer betrachten. A/5: Wenn wir in Ägypten zu Wohlstand gekommen wären, ohne die Möglichkeit, auswandern zu können, wären wir dann nicht immer noch fremdbestimmt? B/2: Wenn wir zwar das Schilfmeer durchquert und trocknes Land erreicht hätten, aber unsere Verfolger nicht in den sich wieder schliessenden Wasserfluten ertrunken wären, sondern uns hätten folgen können, hätte das nicht unseren sicheren Tod bedeutet? Dürfen wir wirklich in C/2 vorgeben, es wäre auch genug gewesen, zwar am Berg Sinai anzukommen, ohne die Thora zu erhalten? Das Buch, dass unser Leben als Juden begleitet, wie nichts Anderes? Und trotzdem sagen wir: „Es wäre genug für uns gewesen!“
Müsste es nicht viel eher heissen: „Es wäre NICHT genug für uns gewesen!“? Um diesen scheinbaren Fehler im Text zu verstehen, müssen wir lernen, wann wir diesen Text singen, es ist am Ende der Erzählung des Auszuges aus Ägypten. Wir dürfen uns nun zurücklehnen und die Geschichte reflektieren. So betrachtet bekommt der Refrain: „Es wäre genug für uns gewesen!“ einen anderen Sinn, indem wir ergänzen. „Es wäre genug gewesen, um Dich zu preisen!“ Jeden einzelnen Schritt, jedes einzelne Ereignis als Schritt auf dem Weg in die Freiheit zu sehen und dankbar für das jeweils Erreichte zu sein.
Auf das Dayenu folgt das Hallel, jene wunderschöne Sammlung von Texten mit denen wir Gott preisen. Wir können den Refrain also noch einmal ergänzen: „Es wäre genug gewesen, um dich mit dem Hallel zu preisen!“ So betrachtet bekommt das eher simpel und einfach scheinende Dayenu noch einmal einen ganz anderen, viel tieferen Sinn. Wie aber können wir als Zionisten sagen (C/3) es wäre auch genug gewesen, wenn wir zwar die Thora geschenkt bekamen, aber Israel nie erreichen konnten? Die Menschheit tendiert heute dazu, sich nur über fest vorgegeben Ziele zu definieren und den Weg, der dorthin führt, aus dem Auge zu verlieren.
Wir als Volk haben ein Ziel, wir sind das einzige Volk, welches in seiner Geschichte dieses als kollektives Ziel immer wieder formuliert, und es auch in der Nationalhymne festgeschrieben hat: Die Rückkehr als freies Volk nach Zion. 1948 erfüllte sich dieser Traum für uns mit der Gründung des Staates Israel. Haben wir damit wirklich alles erreicht? Dayenu bedeutet nicht, dass wir uns auf dem bisher Erreichten ausruhen dürfen, es heisst nicht, dass wir endgültig zufrieden sein dürfen mit dem derzeitigen status quo. Dayenu heisst, sich erlauben zu dürfen, kurz innezuhalten und unsere Dankbarkeit für das bisher individuell oder kollektiv Erreichte zu geniessen. Aber auch anzuerkennen, dass unser Weg noch immer unvollendet ist.
Es wird noch viele Möglichkeiten geben, Dayenu zu sagen!
Von Esther Scheiner
Redaktion Israel-Nachrichten.org
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