Recha Schweitzer wurde 1892 in Ostfriesland in eine orthodoxe jüdische Familie geboren. Über große Umwege kam sie nach Berlin, zwischenzeitlich heiratete sie den Oberrabbiner Moritz Freier. Als bekennende Zionistin und hoch engagierte soziale Frau wurde Recha Freier bekannt. Schon 1933 gründete sie in der Kantstraße in Berlin–Charlottenburg die Jugend-Alijah. Nach der Reichsprogromnacht 1938 setze sie ihren Wunsch in die Tat um, Kinder und Jugendliche nach Palästina in Kibbuzim und Familien zu bringen. Die Nationalsozialistische Regierung begann die Hetzjagd auf jüdische Bürger in Deutschland, im Herbst 1939 überfiel die Deutsche Wehrmacht andere Länder, Europa war im Krieg. Für die jüdische Bevölkerung war Untertauchen, aus der Wahrnehmung der Nachbarn zu verschwinden, vorerst die einzige Möglichkeit zu überleben.
1940 konnte sich Recha Freier mit ihrer Tochter und einer Gruppe von neunzig Kindern über Wien und Zagreb nach Palästina retten. Der Verhaftung in Berlin und der Deportation entging sie. Vierzig Kindern fehlten die Papiere, sie mussten zurückbleiben in Zagreb und wohnten später kurzzeitig mit ihrem Betreuer in Slowenien im Jagdschloss Lesno brdo bei Ljubljana. Unter ihnen befand sich Sonja Borus, die 1927 in Berlin geborene Dreizehnjährige. Beila und Abraham Borus, die Eltern waren eingewanderte polnische Juden, waren der großen Armut entflohen und führten mit ihren Kindern ein dürftiges Leben in der Großstadt Berlin. Im Herbst 1939 bereits wurde der Vater als feindlicher Ausländer abgeholt und starb an Misshandlungen im Konzentrationslager Sachsenhausen. Der ältere Sohn Samuel Borus floh 1939 in den von den Sowjets besetzten Teil Polens, und nie wieder hörte Sonja, die Schwester, von ihm. Die Mutter Beila versuchte mit den Kindern zu überleben. In ihrer großen Not vertraute Beila, ihr Kind, ihr Mädchen Sonja, Recha Freier und ihrer Jugend-Alijah an, um dem Mädchen eine bessere Zukunft zu geben und das Leben zu retten. Sie selbst blieb mit Martin, dem Jüngsten, in Berlin und musste Zwangsarbeit bei Siemens verrichten.
Albert Einstein, der Freund von Recha Freier, wollte, dass diese im Jahr 1954 den Friedensnobelpreis erhält, doch hatte er kein Glück bei seinen Bemühungen!
Die Freundin Lilli Lewin wusste um Sonjas große Sehnsucht nach der Mutter und dem kleinen Bruder in Berlin und schenkte Sonja zu Chanukka 1941 in Lesno brdo ein Tagebuch und wünschte sich, dass Sonja ihre Gefühle, ihre Gedanken in dieses Tagebuch schreiben möchte. Am 17. Dezember 1941 begann Sonja in unregelmäßigen Abständen mit ihren Eintragungen. Ein wichtiger Fundus wurden diese persönlichen Eintragungen für den Berliner Historiker Dr. Klaus Voigt. Lange Zeit hat er in Nonantola in der Provinz Modena in Italien zugebracht. Vor Jahren wurde er Ehrenbürger des kleinen Städtchens, das bereits im 15. Jahrhundert Stadtrecht bekam. Die Abtei Nonantola, die Klosteranlage, aus dem Jahr 762 und die Villa Emma, eine Sommerresidenz am Rande der Stadt, sind die wichtigsten und Interessantesten Sehenswürdigkeiten des Städtchens, doch von unterschiedlicher Wichtigkeit und Bedeutung. Die Geschichte der Villa Emma ist vielfältig besprochen und beschrieben worden. Vor Jahren stellte Dr. Klaus Voigt seine historische Aufarbeitung dieses Themas in seinem Buch „Ragazzi ebrei in fuga“ in Italien vor, das später auch in deutscher Sprache im Verlag Metropol in Berlin als Band 6 – Villa Emma – Jüdische Kinder auf der Flucht 1940-1945, erschien.
Die deutsche Wehrmacht besetzte im April 1941 Kroatien und die Gruppe Kinder und Jugendlicher aus Deutschland, Österreich, Polen und Jugoslawien wurden von dem Kroaten Josef Indig, dem treuen Begleiter, von Zagreb in die Nähe Ljubljanas gebracht und 1942 dann in großer Eile nach Norditalien, nach Nonantola. Die Villa Emma wurde der Rettungspunkt für diese jüdischen Kinder, die eigentlich nach Palästina gebracht werden sollten. Das Ziel wurde unerreichbar, nachdem die deutsche Wehrmacht im September 1943 große Teile Italiens besetzte. Die italienische jüdische Organisation „Delasem“ in Genua hatte die Villa Emma gemietet und finanzierte das tägliche Leben der inzwischen auf 73 Mädchen und Jungen und 18 Erwachsenen angewachsenen Gruppe. Die Bürger des Städtchens Nonantola verbündeten sich mit diesen fremden jüdischen Kindern.
Schon am 5. Juli 1942 erfahren wir aus den Tagebucheintragungen von Sonja, dass sie und ihre Gefährten weggehen werden von Lesno brdo, über Triest und Modena nach Nonantola. Das Begehen Jüdischer Feiertage hier und zuhause in Berlin vergleicht und beschreibt sie, schwärmt über Ausflüge nach Ljubljana ins Theater, über Filme und Bücher. Wir erfahren, wie kritisch diese fast Fünfzehnjährige ihre Umgebung und auch die Charaktere der Menschen sieht, mit denen sie ihr tägliches Leben teilt. Tägliche Begleiter sind die Tränen. Ihr junges Seelenleben schwankt hin und her, Zweifel holen sie ein. Befindlichkeiten und Sehnsüchte, beginnende Freundschaften und Liebeleien, Eifersüchteleien und Enttäuschungen quälen das junge erwachsen werdende Mädchen. Ganz persönliche Gedanken vertraut sie diesem Tagebuch an, schreibt über ihr „hässliches“ Aussehen, hat kein Vertrauen zu sich selbst. Die Gefühle eines Kindes, das der Familie genommen wird, das in fremde, ihm völlig unvertraute Länder und Lebensverhältnisse gerettet wird, vertraut sie dem Tagebuch an. Wir erfahren über Sonjas Einsamkeit und Verlassenheit, und immer wieder über ihre Sehnsucht nach zuhause, nach der Mutter und dem kleinen Bruder. Diese Sehnsucht nach der Mutter wird für Sonja eine Lebensbegleiterin, das Erwachsenwerden kommt von heute auf morgen, weit weg von der Familie, die bereits in Gaskammern ermordet wurde. Die unsichere Zukunft in Eretz Israel, dem Land der Rettung, liegt ihr bereits schwer auf der kindlichen Seele.
Sonja schreibt am 26. Juli 1943, dass Mussolini abgesetzt wurde und am 27. August 1943 bereits deutsche Soldaten zu sehen sind. Am 11. September 1943 steht im Tagebuch, dass Italien mit England Frieden geschlossen hat und sich die Deutschen rächen werden an den Juden! Die Kinder verlassen die Villa Emma, die Jungen werden im Priesterseminar neben der Abteikirche untergebracht und die Mädchen bei den Nonnen des Hospitaliterinnenordens. Beim Umzug ist ihr Tagebuch verlorengegangen. Scham über das Geschriebene kommt auf, weil es nun von anderen gelesen werden kann. Sehr unwohl fühlt sich Sonja in der Gemeinschaft mit den anderen Mädchen und den Nonnen, möchte gerne bei Bauern wohnen. Die Heiligen Schwestern sollen die Kinder nicht verlassen, die deutschen Soldaten im Ort dürfen die Kinder nicht wahrnehmen, Wand an Wand wohnen sie bereits mit ihnen. Gefängnisähnlich erscheint Sonja die Situation.
Ob die Schweiz die jüdischen Kinder aufnehmen wird, ist ungewiss. Unweit von Nonantola im Dorf Rubbiara wird Sonja in die bäuerliche Familie des Pfarrers Don Arrigo Beccari aufgenommen, und sie fühlt sich dort besser. Don Beccari kümmert sich um Waisenkinder und hat die Flucht der Kinder in die Schweiz eingeleitet, täglich finden nun Fluchten statt.
27 Kinder und Erwachsene, darunter Sonja Borus, verließen am 12. Oktober 1943 Nonantola. Mit dem Zug über Modena und Mailand reisten sie weiter nach Varese. Die Anspannung und Angst war groß. Bei einem Bauern übernachteten sie. Sonja schreibt vor ihrer Flucht über unbeschreibliche Ängste. Seit drei Jahren war dieses Kind auf der Flucht vor den deutschen Nazis, den Judenverfolgern. Weiter geht die Flucht durch Wälder und Berge bis zur Tresa, dem Grenzfluss der Region Lombardei und dem Kanton Tessin. Die Angst des Fliehens wurde größer, Todesängste vor dem Überqueren und Durchschwimmen der Tresa überkamen Sonja. Dann die unendliche Freude über die gelungene Flucht, die Freude beim Ankommen und Aufgenommen werden in der Schweiz im Oktober 1943.
Die geordneten Verhältnisse und die Ordnung im Internierungsheim in Rovio oberhalb des Luganer Sees, die Pünktlichkeit des Tagesablaufes, beeindrucken das junge Mädchen. Sie erwähnt dies in einem der wenigen freudigen Sätze. Auch Ängste, dass die Deutschen in die Schweiz einfallen könnten, überkommen sie unweigerlich. Mit viel Fantasie beschreibt Sonja, das Berliner Kind, die landschaftliche Pracht dieses freien, gastlichen Gebirgslandes. An den schneebedeckten Bergen konnte sie sich kaum satt sehen. Inzwischen werden die Kinder nach Belmont bei Montreux gebracht und danach im Jugend-Alijah-Heim in der Villa des Bains in Bex im Rhonetal auf Eretz Israel vorbereitet. Mit anderen zionistischen Gruppen treffen sie sich in Sommerlagern. Krieg ist in Europa, in den Schweizer Bergen ist nichts davon zu spüren.
Das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder hilft mit finanzieller Unterstützung, so kann Sonja die Tante in Luzern besuchen und erfreut sich an ihrem neuen Kleid. Die Launen und Gezänke unter den Mädchen gehen mehr oder weniger weiter. Zu Rosch HaSchana am 18.9.1944 ist sie siebzehn Jahre alt und seit vier Jahren auf der Flucht. Auf die Alijah in Palästina werden die Jugendlichen in großem Umfang vorbereitet.
Am 26. November 1944 endet das Tagebuch von Sonja Borus vorerst. Bereits am 11. Juni 1945 befinden sich die Kinder und Jugendlichen auf dem langersehnten Weg nach Eretz Israel. Von Barcelona aus fährt sie das Schiff nach Haifa, wo sie am 18. Juni 1945 in den Hafen einfahren. Am letzten Oktobertag 1945 berichtet Sonja bereits aus dem Kibbuz Eilon, Nahe der libanesischen Grenze. Im Kibbuz Ruchama ist sie angekommen, und die letzte Tagebucheintragung ist dort vom 18.8.1949 datiert. Sonja Borus wird bis ins hohe Alter in diesem Kibbuz leben.
Ihr Vorwort ist ein Vorwort des Dankes, obwohl ihre gesamte Familie in den Gaskammern ermordet wurde, die Mutter und der kleine Bruder in Auschwitz. Die Sehnsucht nach Mutter und Bruder begleitet sie bis ins hohe Alter. Ihre eigene, ganz persönliche Familie, die sie in Israel gründen durfte und konnte, bereitet ihr bis heute große Freude. Trotz aller Grausamkeiten, die sie erleben musste, blieb sie eine Optimistin. Nur so konnte sie überleben und ihr eigenes Leben in die Hand nehmen, um eine Zukunft zu haben.
„Zeige der Welt nur ein lachend Gesicht
Denn weinende Augen versteht sie nicht.
Wenn Dir das Herz auch brechen will,
Lache, lache – und weine still“
schrieb ihr 1941 die Freundin Lilli Lewin in das Tagebuch. Dieser Vers wird das Lebens- und Überlebenscredo der heute achtundachtzigjährigen Schoschana Harari, wie sie sich später in Israel nennt, im Kibbuz Ruchama in der Negev Wüste, geworden sein.
Sonja Borus
Sonjas Tagebuch
Flucht und Alija in den Aufzeichnungen von Sonja Borus aus Berlin 1941-1946
Herausgegeben von Klaus Voigt
Metropol Verlag Berlin, 2014
Bibliothek der Erinnerung
Band 24
ISBN 978-3-86331-204-6
Von Christel Wollmann-Fiedler
Redaktion Israel-Nachrichten.org
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