Von Weizsäcker bis Gauck (1984 – 2015)
Richard von Weizsäcker (1984 – 1994) Sein Geburtsjahr, 1920, bescherte ihm noch nicht ganz das, was Kanzler Kohl, Geburtsjahrgang 1930 als „Gnade der späten Geburt“ bezeichnete.
1984 formulierte Kohl in seiner Rede anlässlich der Begrüßung am Flughafen Ben Gurion, er sei „als Vertreter eines ‚neuen Deutschland‘ gekommen, als ‚erster Bundeskanzler aus der Nachkriegsgeneration‘, die einen unbefangeneren politischen Umgang zwischen Deutschen und Israelis wolle als frühere Generationen.“ Die Worte, die er in der Knesset fand, zeigten den etwas holzigen Oggersheimer als den Typus, den er bis zum Ende seiner politischen Karriere war: den etwas verschwurbelten Badenser. „Ich rede vor Ihnen als einer, der in der Nazizeit nicht in Schuld geraten konnte, weil er die Gnade der späten Geburt und das Glück eines besonderen Elternhauses gehabt hat.“
Während Kohl sich nonchalant selber entschuldete, stand von Weizsäcker zu seiner Vergangenheit.
Richard und Heinrich von Weizsäcker wurden gleich zu Beginn des Polenfeldzuges im September 1939 eingezogen und marschierten mit den Nazi Truppen nach Polen ein. Schon am ersten Tag der Kampfhandlungen musste Richard miterleben, wie sein Bruder in seiner unmittelbaren Nähe fiel. Er begrub ihn selber. Trotz diesem Verlust blieb ihm nichts übrig, als seinen Dienst fortzusetzen. Verwunden hat er dieses traumatische Erlebnis nie. 1945 wurde er in Ostpreußen verletzt und erlebte das Ende des Krieges in einem Hospital. Weizsäcker hat es in seinem Leben nie verleugnet, Offizier in Hitlers Kriegsmaschinerie gewesen zu sein. Später hat er seinen Vater verteidigt, noch als Student. Bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wurde der Vater wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig gesprochen und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Wie kann ein Sohn das als gerecht empfinden und zur Kenntnis nehmen?
Es sind gerade die Unebenheiten in seinem Leben, die Stolpersteine, die ihn glaubwürdig machten. Er war der Präsident der großen deutschen und europäischen Umbruchphase, ohne dass er die Wiedervereinigung Deutschlands archetektonisch forcierte, wie Kohl und Gorbatschow, ohne, dass er Zäune durchschnitt wie die Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn.
Er hielt eine Rede. Eine Rede in der er all das zusammenfasste, was sein Leben, seine Erlebnisse, seine Erkenntnisse waren. Eine Rede, die so ehrlich war, dass sie möglicherweise eine der Grundlagen schuf, dass nur wenige Jahre darauf die deutsche Wiedervereinigung möglich wurde. Eine Rede, die vielleicht das Vertrauen der westlichen Welt in ein neues, verändertes Deutschland schuf.
„…Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.
Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.
Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg. (…)
Gewiss, es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte immer frei blieb von schuldhafter Verstrickung in Krieg und Gewalt. Der Völkermord an den Juden jedoch ist beispiellos in der Geschichte.
Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger. Vor den Augen der Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt. Aber jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mussten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zu offenem Hass.
Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen, den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern, dem Rechtsentzug, der unaufhörlichen Schändung der menschlichen Würde?
Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten.
Mit diesen Worten nahm er vierzig Jahre nach Kriegsende den Druck aus allen Bemühungen der korrekten Formulierung indem er klar sagte: der 8. Mai 1945 war der Tag der Befreiung. Der Tag der Chance, hinter dem die Kapitulation zurücktreten konnte.
Was in den Geschichtsbüchern bestenfalls als nie gelesene Fussnote steht, 17 Tage zuvor hatte Helmut Kohl in Bergen-Belsen gesagt: „Der Zusammenbruch der NS-Diktatur am 8. Mai 1945 wurde für die Deutschen ein Tag der Befreiung.“
Auch in Israel wurde die Rede mit grosser Zufriedenheit zur Kenntnis genommen. Von Weizsäcker wurde als erster deutscher Bundespräsident zu einem Staatsbesuch nach Israel eingeladen. Chaim Herzog bezeichnete den Besuch als „historische Wendemarke in der Beziehung beider Staaten“.
Dem ersten Besuch von 1985 folgte im Jahr 1991 noch ein zweiter.
In seine Amtszeit fiel auch die grosse Zeit des Umbruches mit dem Fall der Berliner Mauer. Für ihn, der unmittelbar vor seinen Jahren als Bundespräsident Berlins regierender Bürgermeister gewesen war, waren die Nacht der Maueröffnung und die Tage darauf nicht nur ein politisches Erdbeben, sondern auch ein überwältigendes emotionales Erlebnis.
Von Weizsäcker hatte sich immer als Präsident aller Deutschen gefühlt, nun war dieser Wunsch Realität geworden.
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von Esther Scheiner
Redaktion Israel-Nachrichten.org
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