Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum Mord an den europäischen Juden war die so genannte „Aktion T4“, die sich gegen körperlich und geistig behinderte Menschen richtete. Unter dem euphemistischen Begriff „Euthanasie“, der „guter, richtiger, leichter Tod“ bedeutet, ermordeten die Nazis aus ideologischen und „rassehygienischen“ Gründen mindestens zweihunderttausend Menschen!
Für diese war, ebenso wie für die als Verbrecher und „Asoziale“ bezeichneten Menschen, kein Platz in der nationalsozialistischen Gemeinschaft, die einen „gesunden Volkskörper“ ohne Missgebildete und Kranke anstrebte. Bereits im Jahre 1933 begann die Ausgrenzung und Verfolgung behinderter Menschen durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das die Zwangssterilisation legalisierte. Behinderte wurden als „lebensunwert“ eingestuft und da – anders als bei anderen unerwünschten Bevölkerungsgruppen wie den Juden oder politischen Gegnern – Druck auf eine Flucht ins Ausland nicht möglich war, als erste zur Ermordung bestimmt. Die Vorbereitungen für diesen grausamen Akt liefen ab dem Sommer im Jahre 1939. Die nationalsozialistische Politik und Propaganda verknüpfte Sozialdarwinismus und „Eugenik“, stigmatisierte „Ballastexistenzen“, „leere Menschenhülsen“ und „Defektmenschen“ als nicht zugehörig und suggerierte, man müsse sich dieser entledigen, da sie auf Kosten des gesunden Volkes lebten und dieses belasteten. In Schulbüchern wurden Rechenbeispiele angeführt, welche die Kosten eines Pflegeheims für „Schwachsinnige“ den Kosten für den Bau von Eigenheimen für gesunde Arbeiterfamilien gegenüberstellten.
Die Ermächtigung zum Mord hatte Hitler zunächst mündlich seinem Leibarzt Karl Brandt und dem Chef seines Privatbüros, der „Kanzlei des Führers“, Philipp Bouhler, erteilt. Ab August 1939 mussten Hebammen und Ärzte behinderte Kinder melden; diese wurden – mit Ausnahme von leichten Fällen wie Klumpfuß, Hasenscharte und Wolfsrachen – in Kinderfachabteilungen von Heilanstalten aufgenomen und durch Nahrungsentzug oder Injektionen getötet. Erst nachdem ein Ehepaar in einem Brief vom „Führer“ den „Gnadentod“ für ein unheilbar krankes Kind erbeten hatte, folgte im Oktober 1939 ein Fünfzeiler auf dem Privatbriefkopf Hitlers. Dieses Dokument war auf den 1. September 1939, den Beginn des Zweiten Weltkrieges, rückdatiert und befugte die beiden bei „kritischster Beurteilung“ zur Gewährung des „Gnadentodes“. Hitler hatte sich zuvor geäußert, es sei in Friedenszeiten ratsam abzuwarten und erst mit Kriegsbeginn, „wenn alle Welt auf den Gang der Kampfhandlungen“ schaue und der „Wert des Menschenlebens ohnehin minder schwer“ wiege, die „Befreiung des Volkes von der Last der Geisteskranken“ anzugehen.
Ein Runderlass vom 9. Oktober 1939 verpflichtete Heil- und Pflegeanstalten, Patienten auf Meldebögen zu erfassen. Dabei wurden Angaben zur Krankheit und zur Arbeitsfähigkeit abgefragt. Über Bedeutung und Kosequenz der Angaben wurden die Anstalten nicht informiert. Aus einer eigens für die „Euthanasie-Aktion“ gegründeten Verwaltungszentrale, deren Sitz in der Tiergartenstraße 4 in Berlin der Aktion den Tarnnamen „T4“ gab, organisierten rund 300 Beamte und Angestellte die Mordaktion. Die Dienststelle war in verschiedene Behörden unterteilt: Offiziell war die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ Arbeitgeber des T4-Personals. Die Reichsarbeitsgemeinschaft „Heil- und Pflegeanstalten“ war mit der Erfassung der Opfer betraut. Die „Gemeinnützige Krankentransport GmbH“ (Gekrat) kümmerte sich um den Transport der zu verlegenden Patienten. Die „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“ (ZVSt) trieb die Kosten ein. Die von den Anstalten ausgefüllten Meldebögen wurden an die T4-Zentrale gesandt, diese wiederum schickte sie an drei Gutachter, die sie bewerteten und durch ein „+“ für Töten und ein „-“ für Weiterleben über das Schicksal der Patienten entschieden. ein persönlicher Kontakt zu den Opfern fand nie statt.
Insgesamt arbeitete eine 40 Mann starke Gutachterkommission für die Aktion T4. Zwei Obergutachter trafen die endgültige Entscheidung. Die Meldebögen der zur Ermordung bestimmten Personen wurden der „Gekrat“ übergeben, die daraufhin Transportlisten erstellte. Die zur Ermordung bestimmten Insassen wurden ab Januar 1940 von grauen Bussen der „Gekrat“ abgeholt und zunächst in Zwischenanstalten verbracht. Dies hatte zum einen den Zweck der Verschleierung, zum anderen verhinderte der Transportaufenthalt Staus in den Tötungsanstalten. Diese befanden sich in Brandenburg an der Havel, Bernburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim und Sonnenstein/Pirna. Die Opfer wurden mit Giftgas ermordet. Um die Aktion zu vertuschen, wurden die Leichen umgehend eingeäschert, während einige Standesämter falsche Sterbeurkunden anfertigten. In den „Trostbriefen“ an die Angehörigen wurden ebenfalls falsche Angaben gemacht. Doch die oft unwahrscheinlichsten Sterbegründe und der Dauerbetrieb der Krematorien erregten das Misstrauen der Angehörigen und der Öffentlichkeit. Die Aktion T4 stieß auf öffentlichen Widerstand. Neben Eltern und Angehörigen der Betroffenen sowie einigen Heimleitern und Heimmitarbeitern gab es einige wenige prominente Kirchenvertreter, die öffentlich protestierten.
Der Vormundschaftsrichter Lothar Kreyssig wurde misstrauisch, als sich die Todesfälle unter seinen Mündeln nach Verlegung in andere Anstalten häuften. Er teilte den Verdacht, dass diese ermordet worden seien, im Juli 1940 dem Reichsjustizminister mit und erhielt die Antwort, die Verantwortung für die Aktion läge bei der „Kanzlei des Führers“. Kreyssig untersagte den Anstalten, seine Mündel zu verlegen, und erstattete Anzeige wegen Mordes gegen den Chef der Kanzlei Hitlers, Philipp Bouhler. Der richter wurde sofort in den Ruhestand versetzt. Am wirkungsvollsten war der Protest des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, der in zwei Predigten die Euthanasiemorde verurteilte. Er hatte schon seit dem Jahre 1934 Kritik an der Rassenideologie der Nazis geübt. „Der Löwe von Münster“ war so beliebt und angesehen, dass das Naziregime sich nicht traute, ihn zum Schweigen zu bringen. Seine Predigten fanden weite Verbreitung. Nicht zuletzt dieser öffentliche Druck war verantwortlich für die Einstellung der Aktion T4 im Sommer 1941. Die Tötung behinderter Säuglinge lief jedoch ebenso wie die dezentrale Ermordung von Kranken durch Nahrungsentzug und Medikamentenüberdosierungen weiter. Lediglich die Verlegung von Erwachsenen in die Tötungsanstalten wurden eingestellt.
Noch vor dem Ende der Aktion T4 startete die Aktion 14f13, benannt nach ihrem Aktenzeichen bei der SS. Dabei handelte es sich um die Ermordung von kranken oder vermeintlich kranken Insassen der Konzentrationslager. Die „Kanzlei des Führers“ führte in Absprache mit der SS in den Konzentrationslageren Selektionen durch und transportierten die ausgesuchten Häftlinge in die Tötungsanstalten der Aktion T4 in Bernburg, Sonnenstein und Hartheim. Als die Aktion im Jahre 1943 endete, hatte sie zwischen 10- und 20.000 Opfer gefordert. Ab 1943 betrieb die SS die Selektionen und Tötungen ohne Beteiligung des T4-Personals weiter. Ein Teil des T4-Personals war ab Herbst 1941 am Aufbau der Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ im besetzten Zentralpolen, Belzec, Sobibor und Treblinka beteiligt. Die Männer praktizierten in den Vernichtungslagern ihre „Erfahrungen aus der Euthanasie“. Die Aktion T4 stellt damit eindeutig und unwiderruflich eine Vorstufe zum Mord an den Juden dar. Dass geistig und körperlich behinderte Menschen die ersten Opfer der Nazi-Rassenpolitik wurden, ist ebenso erschreckend wie folgerichtig im Sinne der Ideologie des Nationalsozialismus.
Von Rolf von Ameln
Redaktion Israel-Nachrichten.org
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