Das „Jüdische Nachrichtenblatt“ schrieb in seiner Ausgabe vom 13. Dezember 1938 nachstehenden Beitrag, der hier im Originaltext wiedergegeben wird:
Aus den Immigrationsländern
Palästina: Gegen ende November hat die Jewish Agency für Palästina der britischen Regierung den Plan für eine unmittelbare Einwanderung von 100.000 Juden aus Deutschland nach Palästina unterbreitet. Diese Hunderttausend sollen sich aus folgenden sechs Gruppen zusammensetzen: Landwirtschaftliche Arbeiter, Jugendliche von 18 Jahren und darüber, die für die Landwirtschaft ausgebildet werden sollen, Knaben und Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren, deren Erziehung und Ausbildung zu vollenden wäre, Kinder, die zu jüdischen Familien gebracht werden sollen, Handwerker, Juden aus Deutschland, die bereits Verwandte in Palästina haben, und Leute mit Vermögen. Inzwischen trifft man in Palästina Vorbereitungen, um gemäß einem Beschluß des Waad Leumi (Nationalrat, Anm.d.Verf.) 5000 jüdische Kinder aus Deutschland unterzubringen. Am 30. November wurde in Tel-Aviv mit der Registrierung von Personen begonnen, die solche jüdischen Kinder zu adoptieren wünschen. Lange Menschenschlangen warteten vor den Büros, in denen die Registrierungen vorgenommen wurden, und gleich in den ersten Stunden waren über 600 Personen verzeichnet, nicht bloß Verwandte aus Deutschland, sondern auch kinderlose Ehepaare, die durch keinerlei Verwandtschaftsbeziehungen mit den Juden in Deutschland verknüpft sind.
Anfang Dezember wurde gemeldet, daß die Aktion zur Unterbringung der Kinder ausgezeichnete Fortschritte mache und daß die Hilfsbereitschaft des Jischuw alle Erwartungen übersteige. In Nahalal zum Beispiel erklärten sich alle dort lebenden 200 jüdischen Familien bereit, je ein Kind zu adoptieren. Auch in Haifa wurde eine lebhafte Kampagne entfaltet, die ein glänzendes Ergebnis hatte. Die Einordnung der Kinder, die auf diese Weise nach Palästina kommen, in das Leben dieses Landes, wird sich unschwer vollziehen, Beweis: die Erfahrungen, die man mit den Kindern der Jugend-Alija bisher gemacht hat. Von diesen Kindern, die bereits in Palästina sind und zu zweijährigen Schulungskursen in Landwirtschaft und anderen Berufen auf 35 Siedlungen aufgeteilt wurden, haben mehr als 1.400 ihre Ausbildung bereits beendet und von ihnen haben es 75 Prozent vorgezogen, als Bauern auf dem Lande zu bleiben. Die übrigen haben als Spezialisten Arbeit in verschiedenen Handwerkszweigen gefunden. In einer Massenversammlung, die Anfang Dezember in der Londoner Albert Hall stattfand, wurde von Rednern der drei führenden Parteien Englands an die britische Regierung die dringende Aufforderung gerichtet, die Tore Palästinas für die Juden aus Deutschland zu öffnen. Wo sonst, sagte der konservative Abgeordnete Amery, könnten so viele Juden sofort Unterkunft finden wie in Palästina, und wo sonst könnten sie eine dauernde Heimat gewinnen, wenn nicht im jüdischen Nationalheim. Der Führer der liberalen Partei Sir Archibald Sinclair führte unter anderem aus, es gebe kein zweites Land, das so wie Palästina in der Lage wäre, in einer kurzen Zeit viele tausende Juden aufzunehmen.
In Palästina selbst werden ununterbrochen neue Möglichkeiten zur Unterbringung von Juden aus Mitteleuropa und zur Beschaffung von Arbeit erschlossen. In der letzten Novemberwoche wurden drei neue Siedlungen auf dem Boden des jüdischen Nationalfonds errichtet, die eine in der Beisan-Ebene in der Nachbarschaft der Siedlung Moas, die zweite ebendort zwischen Moas und Tirath Zwi. Die dritte Siedlung ist Kirbeth Samakh, mehrer Kilometer südöstlich von Chanita an der syrischen Grenze. Der Plan zur Errichtung von 300 Arbeitshäusern bei Rechowoth, Nathania, Rischon-le-Zion und in der Haifa-Bucht, die mit Hilfe einer Anleihe von 600.000 Pfund durchzuführenden Kanalisierungsarbeiten in Tel-Aviv und die von einem internationalen Konzern ins Auge gefaßte Errichtung eines Gaswerkes in Tel-Avivwerden vielen Tausenden Brot und Arbeit geben. Die dieses Jahr dank dem reichen Regenfall frührer begonnene Orangenernte erfordert weit mehr Arbeitskräfte als sonst, bis jetzt werden mehr als 20.000 jüdische Arbeiter für diesen Zweck benötigt und es sind umfangreiche Vorkehrungen getroffen worden, um recht viele Tagelöhner aus den Städten in die Siedlungen zu bringen. Auch das Seewesen und die Fischerei dehnt sich im Jisschuw immer mehr aus.
Der Palästina Lloyd hat einen englischen 4000-Tonnen-Dampfer für den Warentransport zwischen Tel-Aviv und Constanza erworben und außerdem sind Verhandlungen über den Ankauf eines Passagierschiffes im Gang, das abwechselnd mit dem jüdischen Schiff „Harzion“ fahren soll. Die Fischerei-Genossenschaft „Nachschon“ hat mit dem Bau eines zweiten Fischerbootes begonnen. Das Boot soll „Peled“ (Stahl) genannt werden, da es zur Gänze aus Stahl bestehen wird. Der Bau geschieht in Kirjath Haim, der Arbeitervorstadt von Haifa. In Tel-Aviv wurde eine hebräische Buchausstellung eröffnet, die von dem Hebräischen Weltverband veranstaltet wurde. In Haifa verschied im Alter von 46 Jahren Nachman Zwi Gold, ein bekannter zionistischer Pionier. Er kam aus Polen vor 19 Jahren nach Palästina. Gold war ein Postbeamter, Gründer der Eisenbahn-Union, für die er eine hebräische Zeitung herausgab, und einer der ersten Siedler in Kirjath Haim, der großen Arbeitervorstadt von Haifa, und nahm an ihrer Verwaltung bis zu seinem Tode teil.
Holland
Im Zusammenhang mit der Errichtung eines Fonds zugunsten von Auswanderern hielt der holländische Ministerpräsident Dr. Colijin eine Rundfunkansprache, in der er das Publikum zu zahlreichen Beiträgen für den Fond anspornte. Er teilte mit, daß seit Mitte November ungefähr 4.000 Juden aus Deutschland nach Holland eingelassen worden seien. In der holländischen Kammer lenkte Ministerpräsident Dr. Colijin die Aufmerksamkeit darauf, daß die an verschiedene Länder gerichteten Appelle, Auswanderer aufzunehmen, bisher leider nur geringen Erfolg gehabt hätten und erklärt, Holland könnte nicht unbeschränkte Auswanderer zulassen. Schließlich meinte der Ministerpräsident, daß es sich bei Niederländisch-Guyana, der holländischen Kolonie in Südamerika, höchstens um 100 Auswandererfamilien handeln könnte, die dort zur Ansiedlung gebracht werden würden.
Belgien
In der beglischen Kammer ist eine entschließung angenommen worden, welche die Regierung auffordert, den Auswanderern aus Deutschland Großmut zu erweisen und so viele von ihnen wie möglich nach Belgien zu lassen. Die gleiche Entschließung enthält das Verlangen, die belgische Regierung solle sich an den Unterhandlungen über eine internationale Regelung des Wanderungsproblemes beteiligen. Justizminister Phollieu erklärte, Belgien sei bereit, jüdische Einwanderer aus Deutschland aufzunehmen und sie auszubilden, damit sie nach Überseeländern weiter wandern könnten. Ein landwirtschaftliches Schulungszentrum für Juden besteht bereits in Merxplas.
Zypern
Die Regierung der Insel Zypern erwägt die Möglichkeit, einer kleinen Zahl jüdischer Einwanderer die Niederlassung zu gestatten.
U.S.A.
Innenminister Harold Ickes hat angeregt, die Möglichkeiten einer Ansiedlung jüdischer Einwanderer in Alaska zu prüfen. Myron C. Taylor, der Chef der amerikanischen Delegation auf der Evian-Konferenz, hat sich nach London begeben, um die Arbeit des Intergouvernementalen Komitees für Auswanderer zu beschleunigen.
Wie es den Juden in Wien zu diesem Zeitpunkt wirklich ging, beschreibt ein fett gedruckter Aufruf auf der Titelseit
An alle Gemeindemitglieder!
Auswanderung! Schwierig erscheinende Probleme sind zu bewältigen. Eine fremde unbekannte Welt soll uns aufnehmen: wird es gelingen, sich einzuordnen? Wird man sich diesen neuen Verhältnissen anpassen können? Dabei ist der Auswanderer oft noch von einer anderen großen Sorge erfüllt. Er läßt alte Eltern, liebe Familienangehörige zurück, in vielen Fällen ohne Existenzmittel, bitterer Not preisgegeben.
Die jüdische Winterhilfe
wird es sich zur Aufgabe machen, das Dasein derer lichtvoller zu gestalten, die das Schicksal zwingt zu warten, bis sich auch für sie ein Weg in ein neues Land, ein neues Leben bietet. Die jüdische Winterhilfe wird den Alten helfen und damit den Kindern in der Welt die innere Freiheit schaffen, die sie brauchen, um ein neues Haus zu bauen. Das Geschick soll uns nicht niederbeugen, wir wollen versuchen, ihm unsere seelische Kraft entgegenzusetzen.
Nur sehr wenige der angeführten Wünsche haben sich jemals erfüllt; – für sechs Millionen Juden aus West- und Osteuropa hieß die „neue Heimat“: Mauthausen, Treblinka, Dachau, Sobibor und AUSCHWITZ, um nur einige zu nennen.
Von Rolf von Ameln
Redaktion Israel-Nachrichten.org
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