Jedes Jahr am Jahrestag der Reichspogromnacht, erinnern wir an die gewaltsamen Angriffe auf Juden, die den Holocaust vorgezeichnet haben und fragen uns, was hätte getan werden können um ihn zu verhindern.
Beim Nachdenken über die Kristallnacht, sollten wir auch die jüngsten Ausbrüche der Gewalt gegen jüdische Gemeinden in Europa in diesem Sommer mit einbeziehen und die richtigen Lehren für heute daraus ziehen. Es wird zu Recht gesagt, dass der Holocaust nicht erst mit den Gaskammern begann, sondern mit Worten. Die Bedeutung der Reichskristallnacht in der Geschichte des Holocaust, ist der Übergang von antijüdischer Gesetzgebung zu antisemitischer Rhetorik, die zur Gewalt gegen Juden führte. Und darin liegt die Lektion für heute.
Um es klar zu sagen, im heutigen demokratischen Europa, besteht keine Gefahr eines neuen Holocaust. Den Eindruck einer solchen Möglichkeit erweckend, verdunkelt statt erhellt die ernste Situation der europäischen Juden heute. Vergleiche mit der Reichspogromnacht sind jedoch erlaubt.
In diesem Sommer haben wir in Frankreich, Deutschland und anderswo in Europa antisemitische Rhetorik, gefolgt von Angriffen auf Juden und Angriffe auf Synagogen, jüdische Geschäfte und andere jüdische Einrichtungen erlebt. Die Vergleiche mit der Reichspogromnacht sind krass und signifikant, aber die Ähnlichkeiten können nicht ignoriert werden. Nicht an diesem heutigen Jahrestag der Reichsprogromnacht – nicht in einer Zeit der großen Verunsicherung der jüdischen Gemeinden in Europa.
Zwei Synagogen wurden im Sommer 2014, während antiisraelischer Demonstrationen in Paris angegriffen. In einem Fall wurden zweihundert Juden darin eingesperrt, während ein bewaffneter Mob versuchte, in die Synagoge einzudringen. Roger Cukierman, der Leiter der Französischen jüdischen Gemeinden, machte die Verbindung explizit: „Wir haben noch nie so etwas gesehen. Es ähnelte der Kristallnacht 1938 in Deutschland.“
Und in Deutschland, wo die Menschen bei antiisraelischen Kundgebungen „Juden ins Gas“ riefen und wo Molotowcocktails gegen Synagogen geworfen wurden, sagte Dieter Graumann, der frühere Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland: „Dies ist die schlimmste Zeit, seit der NS-Zeit.“
Die Sicherheitsagentur der britischen jüdischen Gemeinden CST sagte, dass im Juli 2014 die höchste Zahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle erreicht wurde, seit man dort vor drei Jahrzehnten mit der Aufzeichnung begann. Der hoch geschätzte und kaum zur Panikmache neigende ehemalige Oberrabbiner Jonathan Sacks schrieb am Jom Kippur, dass die jüdische Gemeinde unter „einem gewissen Maß an Angst steht, wie ich sie zu meiner Lebenszeit nicht gekannt habe. Der Antisemitismus ist nach Europa zurückgekehrt, innerhalb der lebendigen Erinnerung an den Holocaust.“
Die europäischen Juden wurden vor der Reichspogromnacht terrorisiert, und in der Gesellschaft im heutigen Europa, werden sie wieder mit antisemitischem Hass konfrontiert. Vor allem, aber nicht nur, ist dieser aufflammende Antisemitismus mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt verbunden. Der Terror im Nahen Osten ist nicht in einer Nacht entstanden, sondern aus einer Anhäufung von Zwischenfällen hervorgegangen, die sich in den Jahren zuvor ereigneten.
Während der israelischen Operation Schutzrand im Sommer 2014, und während der Operation Gegossenes Blei im Jahr 2009, berichtete die ADL über antisemitische Vorfälle und Rhetorik auf der ganzen Welt. Wir sahen Anstiftung zur Gewalt, Dämonisierung der Juden und Israel, Ritualmord-Vorwürfe und andere antisemitische Vitriol. Zu oft führten diese Worte auch zu Übergriffen und Vandalismus.
Und diese Angriffe haben eine große Zahl von europäischen Juden veranlasst, sich nicht mehr frei zu fühlen und sich offen als Juden zu zeigen. Die Menschenrechtsagentur der Europäischen Union befragte im Jahr 2012 acht große jüdische Gemeinden in Europa und fand heraus, dass dort eine weit verbreitete Unsicherheit herrscht. Einer von fünf Juden wurde Opfer einer antisemitischen Beleidigung, Belästigung oder eines Angriffs und ein Drittel sagten, dass sie innerhalb der letzten 12 Monate körperlich angegriffen wurden. Zwei von fünf Juden vermieden es immer häufiger, mit Kippa oder Davidstern in der Öffentlichkeit zu erscheinen.
Der Antisemitismus hat nie den europäischen Kontinent verlassen, aber seine letzte Transformation von der Rhetorik der Gewalt, einschließlich der Morde an einer jüdischen Schule in Toulouse und im Jüdischen Museum in Brüssel, haben eine grundlegende Veränderung in der Zuversicht der jüdischen Gemeinden in ganz Europa verursacht. Die meisten europäischen Politiker haben die antisemitischen Vorfälle in ihren Ländern verurteilt, aber die Gleichgültigkeit in der Öffentlichkeit ist schockierend und erschreckend zugleich. Wenn der Hass der von den Antisemiten ausgeht und die Apathie der Bürger Europas sich vereinen, werden auch die gut gemeinten Bemühungen der politischen Führer ausagiert werden und die europäischen jüdischen Gemeinden werden keine Zukunft mehr haben: Die kommunale Selbstsegregation, individuelle Rücktritte vom jüdischen Gemeindeleben oder Auswanderung, werden die Folge sein.
„Nie wieder“ wird weiter bestehen und es wird keinen neuen Holocaust geben. Denn die Reichspogromnacht ist eine andere Geschichte. Lasst uns aber ihre Lektionen lernen, einen neuen Holocaust nicht zu vermeiden, sondern um eine andere Katastrophe abzuwenden: Dass die Terrorisierung mit der die europäischen Juden heute konfrontiert werden, nicht in der schrecklichen Wahl der Aufgabe ihrer Identität oder zur Flucht führt.
Von Abraham H. Foxman
Übersetzt von Dean Grunwald
für Israel-Nachrichten.org
Abraham H. Foxman ist Nationaldirektor der Anti-Defamation League und ein Holocaust-Überlebender.
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