„…. solange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, zweitausend Jahre alt, ein freies Volk zu sein, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem!“
„Es ist gleichgültig, an welcher Stelle von „Hatikva“ man mit dem Suchen beginnt“, fasst Dr. Astrith Baltsan ihre achtjährige Recherche zusammen, „man findet immer eine Geschichte. Man muss die einzelnen Häute entfernen, und dann sieht man, dass sich dahinter nicht nur eine endlose Geschichte verbirgt, sondern auch die Hoffnung auf eine ewige Zukunft.“
Die Besucher, die sich im Beit Nir, dem Kulturhaus von Zichron Yaacov einfinden, warten gespannt auf den Beginn der Veranstaltung. „Ich habe von Freunden, die diese Veranstaltung in Tel Aviv erlebt haben, gehört, dass dies ein ganz besonderer Abend werden wird. Ich bin gespannt.“ sagt Amoz. Arbel, Schülerin an einem privaten Gymnasium, erzählt, dass sie im Unterricht das Buch von Astrith Baltsan, das der Veranstaltung zu Grunde liegt, benutzen. „Wir haben gelernt, dass unsere Nationalhymne eine hochinteressante Geschichte hat. Diese Geschichte hat mich begeistert. Nun bin ich hier, um Astrith Baltsan, die das Buch geschrieben hat, auf der Bühne zu erleben.“ Neugierig sind auch Ariel und Denise, die mit ihren drei Kindern erst vor zwei Jahren aus den USA nach Israel gekommen sind. „Das Hebräisch von mir und Denise ist noch alles andere als perfekt. Wir sind gespannt, wie viel wir verstehen werden. Unsere drei Kids haben es leichter, sie lernen die neue Sprache in der Schule.“
Im Foyer drängen sich die Gäste um das Buffet, balancieren einen Teller mit hausgemachtem Kuchen und frischem Obst in der einen, und ein Glas Wein in der anderen Hand. Im Hintergrund stimmt Debbie, die selber Konzertpianistin ist, die Besucher musikalisch auf den Abend ein.
Neuankömmlinge werden lebhaft begrüßt, jeder scheint jeden zu kennen. Kein Wunder, denn der Anlass der Veranstaltung ist der 10. Geburtstag der lokalen Masorti Gemeinde, die mit ca. 80 Familien zu den eher kleinen, dafür aber sehr persönlich geführten Gemeinden von Zichron Yaacov gehören. Die Grußworte von Rabbiner Elisha Wolfin nehmen darauf Bezug: „Vor zehn Jahren haben wir im Wohnzimmer von Baruch und Ariella die Gemeinde gegründet. Damals gab es dort genügend Platz für alle Mitglieder. Im Laufe der Jahre sind wir gewachsen und wir sind stolz auf das, was wir gemeinsam erreicht haben. Und, wir sind stolz darauf, dass wir uns diese Besonderheit erhalten haben: das Persönliche, das Familiäre. Unsere Mitglieder kamen aus vielen Ländern zu uns, sie haben alle ihren Platz gefunden, hier in Zichron Yaacov und in unserer Gemeinde „Veahavta!“
Während der Rabbiner seine Ansprache hält, hat eine unauffällig aussehende, leicht hinkende, kleine und eher rundliche Dame das Foyer betreten. Das einzig Auffallende an ihr ist der kupferrote Lockenkopf. Sie zieht einen kleinen, froschgrünen Rollkoffer hinter sich her und bahnt sich ihren Weg durch die Menge. Vor einem Tisch bleibt sie stehen, öffnet den Koffer und entnimmt ihm ein Päckchen Papier, das sie auf den Tisch legt. Anschließend verschwindet sie über Treppe in das Untergeschoss.
Im diesem Moment werden die Türen geöffnet und die Zuhörer strömen in den Saal, um sich einen Platz zu suchen.
Auf der Bühne steht nur ein Flügel, die drei Beine jeweils auf einem Rollbrett befestigt, das mit einfachen Bremsen versehen ist. An der Rückseite hängt eine große Leinwand. Auf knallblauem Hintergrund stehen einige einleitende Worte, aber auch der Hinweis, die Handys doch bitte auszuschalten. Von den Publikumsplätzen aus kann man die Gebrauchsspuren auf den schwarzen Bühnenbrettern deutlich erkennen. Nüchterner kann keine Bühne sein!
Unmittelbar, nachdem alle ihren Platz gefunden haben und die letzten Begrüßungen über die Reihen hinweg lautstark ausgetauscht werden, ergreifen nacheinander der amerikanische Konsul für den Norden Israels, Jonathan Friedland, der Bürgermeister des Ortes, Eli Abutbul und abschließend noch einmal Rabbiner Elisha Wolfin das Wort. Alle drei loben die Bedeutung der pluralistischen Gemeinde für den Ort und vor allem auch für die überwiegend aus englischsprachigen Heimatländern stammenden Neueinwanderer.
Nun endlich ist die Bühne frei für Dr. Astrith Baltsan! In dem Moment, in dem sie von links auf die Bühne tritt, ändert sich die Atmosphäre im Raum spürbar. Ihre graue Hose und das graue Top werden eingerahmt von einer knallroten, taillenkurzen Jacke und gleichfarbigen High Heels, sowie einem entsprechenden Gürtel. Beherrscht wird ihr Erscheinungsbild aber von ihrem kupferroten Lockenkopf! Und von ihrem Lächeln, das im Laufe des Abends viele Facetten zeigen wird.
Als “Halb-Halb” Theorie bezeichnet Dr. Astrith Baltsan ihre Theorie zur Entstehungsgeschichte der „Hatikva“. Halb – Halb sei bezeichnend für die Teilung des Landes in Jehuda und Israel zur Zeit der Bibel, aber auch heute in die Gruppen der Sfaradim und Aschkenasim, die einander in so vielen Bereichen des Alltags fremd geblieben seien. Aber auch ihre persönliche „Teilung“. Die eine Hälfte von ihr sei die klassische Pianistin, die andere die sehr zionistische Musikerin.
Und als solche hat sie vor acht Jahren begonnen, die Geschichte unserer Nationalhymne „Hatikva“ zu erforschen
Astrith Baltsan nimmt am Flügel Platz, ohne vorher ein Wort an das Publikum zu richten und beginnt das Nocturne Op 9, Nr. 2 von Chopin zu intonieren. Ihre schlanken, langen Finger werden eins mit den Tasten. Die Überleitung zu Smetanas Moldau gelingt perfekt. Während sie mit der linken Hand die begleitenden höchsten Töne spielt, nimmt die Künstlerin mit dem Spiel der rechten Hand, die die Hauptmelodie spielt, ihr Publikum mit auf die Reise der Moldau von ihren Quellen im Böhmerwald und im Bayerischen Wald bis nach Prag. Und hier beginnt Astrith Baltsan, nun dem Publikum zugewendet, mit ihren Erklärungen zur Musik. Von den ersten leicht hingetupften Stakkati, die das Tropfen des Quellwassers wiedergeben, bis zu den breiten auf- und absteigenden Sequenzen, die den ruhigen, stetigen Fluss der Moldau beschreiben. In dem Moment, in dem der Fluss Prag erreicht, ertönt zu ersten Mal das Motiv, das unserer Nationalhymne zu Grunde zu liegen scheint.
Ein erster Beifall brandet auf, bevor die Künstlerin vor den Flügel tritt und beginnt, Erstaunliches zu erzählen.
Der Text der Hatikva stammt aus der Feder von Naphtali Herz Imber, der 1882, dem Gründungsjahr von Zichron Yaacov, von Galizien nach dem damaligen Palästina auswanderte. Er arbeitete als Sekretär eines englischen Diplomatenpaares, das neben seinem Wohnsitz in Haifa auch ein Ferienhaus im Drusenort Daliyat al-Karmel besaß. Er verlor seine Arbeitsstelle, nachdem er mit der Ehefrau seines Arbeitgebers ein Verhältnis angefangen hatte, und begann auf der Suche nach einem Broterwerb für sie beide, kreuz und quer durch Palästina zu reisen. Auf seinen Reisen verkaufte er einen Gedichttext, die „Hatikva“ an die Bürger mehrerer Orte. Er erzählte ihnen, diesen Text speziell als Hymne für ihren Ort geschrieben zu haben. Einer der so bedachten Orte war Daliyat al-Karmel, nur wenige Kilometer entfernt von hier.
Während sie die Entstehung der Hatikva erforschte, war Astrith Baltsan auf ein mehr als 600 Jahre altes Gebet gestoßen, welches heute noch im Frühling in der ältesten Synagoge Europas, der Portugiesischen Synagoge Amsterdams, genannt Esnoga, gesungen wird. Dieses Gebet markiert den Übergang vom Winter zum Frühling, die Zeit in der die Winterregen enden und um Tau gebetet wird, der ausreichend Wasser für die Landwirtschaft bringen soll. Entsprechend der großen Bedeutung des Wassers ist das Gebet musikalisch sehr liebevoll ausgestaltet. Die Übernahme der ersten Notenzeile des Gebetes als erste Zeile der Hatikva schlägt, so erklärt Astrith Baltsan, den Bogen zwischen der Verbundenheit zum historischen Land Zion und der Landwirtschaft als Lebensgrundlage in diesem kargen Land. Darauf bezieht sich auch die zweite Zeile, die im Original das Leben von freien Bauern in Rumänien beschreibt und dieser lebensfrohen Melodie die Sehnsucht gegenüberstellt, einst freie Menschen im eigenen Land Zion zu sein.
Während sich im Hintergrund auf der Leinwand Bilder aus Israel mit Bildern aus Prag, aus der Esnoga Synagoge und aus Rumänien mischen, erläutert Astrith Baltsan, worin die größte Herausforderung für alle Sänger der Hatikva besteht: „In dem Moment, wo der Text auf die 2000 Jahre alte Hoffnung hinweist, muss der Sänger von einem Ton zum anderen eine ganze Oktave überwinden. Das klingt dann manchmal sehr komisch.“
Auf der Leinwand erscheint dazu ein original Tondokument aus dem Jahr 1933 aus einer Schule aus Munkatch (Ungarn). Schulkinder, nicht älter als sieben, acht Jahre alt singen die Hatikva.
Bilha, eine der Zuhörerinnen des Konzerts ist von diesem Video ganz aufgewühlt: „Mein Ex-Mann wurde in Munkatch geboren, wenn ich mir vorstelle, dass entweder er, oder sein Bruder sich unter den Kindern, die da gesungen haben, befand…. Ich kann es einfach nicht glauben! Es ist so berührend!“
Der Artikel wird Fortgesetzt, Teil 2 folgt in der nächsten Ausgabe.
Von Esther Scheiner
Redaktion Israel-Nachrichten.org
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